Thema: monolog
Absteige, wie habe ich dich vermisst.
Mit meinem Einlassbändchen kaufe ich mir ein Stück Selbstsicherheit für den Abend, so viel, dass ich alle Versuche des Fremden, Blickkontakt aufzunehmen, ignoriere, seinen Versuch, mich zu umarmen, abwehre, sein leicht angetrunkenes "Hey, lange nicht mehr gesehen, erstmal frohe Weihnachten!" eiskalt ignoriere und ihn frage, ob er den Raucher schon irgendwo gesichtet hat.
"Der ist gerade backstage, glaube ich..." Er irgendwas zwischen verdutzt und verletzt und gerade tut mir das nur ein bisschen weh,

so, wie es auch nur ein bisschen weh tut, als er vor der Bühne mosht, als gäbe es kein morgen mehr, während sie daneben steht und ihren Blick erst vom Smartphonedisplay hebt, als die nächste Band die Bühne betritt und die Sängerin ganz furchtbar schlecht Katy Perry covert.
Wenn ihm das lieber ist, denke ich mir, bin erstaunt darüber, dass es keine Herzexplosion auslöst und mache mich auf den Weg in die Bar, um mich zu feiern, wobei mir auf halber Strecke einfällt, dass ich Bier nicht mehr so gerne trinke, Wein irgendwie technisch unpraktisch ist, Cola mich wieder so furchtbar müde macht und Wasser gerade zu fade schmeckt.
Mein Problem löst sich sehr schnell, als mich der Mischpultmann erkennt und mir Malibu-Spirte ausgeben will.
"Hammwa nich", spuckt die Thekenfrau aus spitzen Lippen in unsere Richtung.
-"Malibu Kirsch?", fragt der Mischpultmann, der die relativ eingeschränkte Auswahl an Getränken, die ich als "getestet und für sicher befunden" einstufe, auswendig kann.
"Hammwa auch nich mehr."
-"Touchdown?" Zunehmende Frustration seinerseits, weil seine Chancen, mich abzufüllen, immer weiter sinken, und zunehmende Aggression meinerseits, weil mich immer noch niemand gefragt hat, ob ich überhaupt was spendiert haben will.
"Neee du."
-"Sag mal Jeanette, willst du mich verarschen?"
Die Thekenjeanette lacht.
"Cuba Libre, bitte?", erkundige ich mich.
"Kommt sofort", grinst sie.

Mit meinem Einlassbändchen habe ich mir ein Stück Melancholie gekauft, drei Bands spielen heute , teilweise in Urbesetzung, zum letzten Mal und geben dem Abend damit einen erinnerungsüberladenen Verlustanstrich, den auch das eigentliche Programm, das unter dem Motto "cover your favorite Band" steht, nicht so recht ausgleichen kann.
Bandtod bleibt Bandtod, auch, wenn ihr letztes Lied "Barbie Girl" heißt.
Und neben Bier, langen Haaren und zwischendurch auch Unterwäsche fliegen vor allem Erinnerungsfetzen durch die Luft, denn da wird nicht nur Barbie Girl gequietscht, sondern auch Auf gute Freunde gegröhlt, zwischendurch steht die alte Sache höchstpersönlich auf der Bühne und der Raucher hinter mir startet einen unsicheren Versuch, seine Arme um mich zu legen, den er aber wieder abbricht, als er merkt, dass Umarmungen gerade nicht gesund sind.
Kurzes Handdrücken ist aber nicht nur ok, sondern fühlt sich richtig an, und ich sage mir, dass ich rücksichtslos und übertrieben kompliziert, und ihm, dass ich bekloppt und viel zu seltsam bin, und er sagt, das passt schon so.

Mit meinem Einlassbändchen habe ich mir auch ein Stück Gelassenheit gekauft, und so lasse ich die ungläubig-herablassenden Blicke, die folgen, als ich auf ein bewusst provozierenwollendes "Also MICH an deiner Stelle würde es stören, wenn der Raucher so intensiv mit anderen Frauen flirtet" ganz neutral und sachlich "Wir sind nicht im klassischen Sinn zusammen" erwidere, völlig gleichgültig an mir abprallen.
Mein Glas ist erst halb leer, das Leben nicht schön, aber stabil neutral, es reicht, um anderen nicht den Abend zu versauen.
Die Feindin ist keine richtige Freundin mehr, aber man mag sich eben aus Höflichkeit, also begrüße ich sie und ihren Freund, bin dann aber doch wieder bei ihr und der Nachbarin, manchmal reicht es auch, um sich alleine vor die Bühne zu stellen, wenn die Musik gut ist, und wenn er nicht gerade spielt, bin ich beim Raucher und werde einer derart riesigen Menge fremder Menschen vorgestellt, dass mir der Kopf schwirrt vor lauter neuen Namen.

Und dann ist Mr. Gaunt neben mir.
Mein Glas wurde inzwischen von der Feindin geleert und der Raucher hilft gerade der Thekenjeanette, den nicht enden wollenden Ansturm minderjähriger Falschausweisbesitzer irgendwie unter Kontrolle zu bekommen, während ich mich eigentlich nur hier vorne geparkt habe, um bei Bedarf schnell wiedergefunden zu werden (bei den von mir bevorzugten Musikrichtungen ist die Frauenquote unter den Fans erfahrungsgemäß zumindest in unserer Gegend ziemlich niedrig) und mich wesentlich lieber in einer Ecke verkrochen hätte, zu viele fremde Menschen, beginnende Unsicherheit trotz Absteigenkonzert.
Aber das ist jetzt egal, überhaupt ist gerade relativ viel egal, sogar der Bekloppte mit der Theo-Waigel-Gedächtnisaugenbraue, der seine fettigen Haare beständig in unrhythmischen Dauerpropellerschleudergängen gegen mich flatscht, ist jetzt egal, und die doof guckenden Fangirlies, die abgefüllt auf ihren Hockern hocken, sind es erst recht.
"Hey mayhem."
"Hey Mr. Gaunt."
"Wär ich nicht so betrunken, ich würde sofort wieder mit dir Walzer tanzen."
"Aber die covern gerade Cannibal Corpse."
"Eben deshalb ja."
Dann wird er vom Mischpultmann um die viel zu dünne Taille gepackt und Richtung Backstagebereich geschleift, anscheinend muss er als nächstes spielen.
Aber er grinst mich an, nicht komatös-alkoholisiert, sondern ehrlich, und hält Blickkontakt, bis er hinter dem eingesifften, ehemals dunkelblauen Vorhang verschwindet und mich nicht nur geflasht oder aus den Socken gepustet, sondern total umgeschmissen und konzeptlos zurücklässt.
Hach.

Nach ein paar vergeblichen Versuchen, mich innerlich wieder zu sortieren, spricht sie mich nicht direkt auf mein bis jetzt noch dezentes grenzdebiles Grinsen, aber auf Mr. Gaunt an. Ob ich ihn denn mögen würde. Und so.
"Das kann ich jetzt noch nicht sagen, glaube ich.." ...vor allem, weil deine Schwester die Löwin alias seine Exfreundin ist und gerade aussieht, als würde sie den richtigen Moment abwarten, um mich anzufallen und zu zerfleischen.
-"Ihr würdet aber schon gut zusammenpassen", findet sie.
"Ja, weil ihr beide total übersensible Heulsusen seid", mischt sich die Löwin ein und ihr Lachen klingt etwas zu brutal, um das Ganze komplett wie einen Witz erscheinen zu lassen.
"Woher kennst du denn Mr.Gaunt?", frage ich ganz unschuldig.
"Ich war mal mit dem zusammen, hab dann aber was besseres gefunden", antwortet sie knapp und fügt noch ein "war ja auch nicht weiter schwierig" hinzu.
-" Jetzt sei doch nicht so, jeder Mensch trägt etwas Gutes in sich". Sie, die ewig-naive Optimistin.
"Das einzig Gute in dem Kerl ist der Alkohol, den er reinkippt", knurrt die Löwin und zieht ab, um sich eine neue Flasche Bier zu holen.
"Lass dich nicht verunsichern", flüstert mir ihre Schwester aufmunternd zu, " sie will dich nur anfangs von ihm abbringen, weil es ihr Exfreund ist und er Schluss gemacht hat. Verletzter Stolz. Das ist aber nicht weiter dramatisch und geht vorbei".
Den Versuch, ihr zu erklären, ich brächte Mr. Gaunt absolutes Desinteresse entgegen, ersticke ich selbst im Keim, als mein Puls bei ihrem Hinweis, er habe gerade die Bühne betreten, innerhalb einer Millisekunde die magischen 180 passiert und meine Herzfrequenz in den Bereich "Jenseits von Gut und Böse" schießt.
Nicht mal schlecht als Musikbegeisterung getarnte Emotionseskalation, und als er fertig gespielt hat, geht er nicht zurück zum Gratisbier, sondern erst zu mir, und mein inzwischen vermutlich absolut beklopptes Grinsen wäre mir sowas von peinlich, wenn seines nicht genauso doof wäre.
"Hey mayhem."
"Hey Mr. Gaunt. Lange nicht mehr gesehen."
"Kommt mir vor wie Jahre."
"Zum Glück haben wir uns überhaupt noch erkannt."
"Das müssen wir auf jeden Fall feiern. Ich geh jetzt eine rauchen und danach lade ich dich auf ein Glas Wein ein."
Und er lächelt. Mich an. Auf diese Art und Weise.
Von irgendwoher kommt ein ganz winzigkleiner Schmetterling und flattert so in mir rum, endorphinverteilend, leicht desorientiert, aber unter Garantie grenzdebil grinsend.

Aus der kurzen Kippenpause wird eine halbe Stunde, in der meine Euphorie von der Verunsicherung zunächst angenagt, dann aber schließlich ganz aufgefressen wird.
Irgendwann denke ich mir aber, reiß dich zusammen, rutsche von meinem Barhocker, schreite zur Tat und in Richtung Ausgang und sage mir, zur Not könne ich immer noch behaupten, ich wäre auf der Suche nach Faust.

Draußen finde ich nicht Faust, aber dafür Mr.Gaunt.
In der einen Hand hält er tatsächlich eine Zigarette, in der anderen eine Flasche mit klarem, vermutlich hochprozentigen Inhalt, und an ihm dran klebt die Löwin, wahlweise wimpernklimpernd, haarsträhnendrehend, schmollmundziehend oder ihn zum Weitertrinken motivierend.
Ich verzichte darauf, zu ihm zu gehen und irgendwas zu sagen, stattdessen suche ich die Feindin alias meine Fahrgemeinschaft.
Irgendjemand hat den Schmetterling erschlagen, und das nicht etwa mit einer Fliegenklatsche oder einem Schuh, sondern mit sämtlichen Brockhausbänden auf einmal.

An dieser Stelle nochmals ein gepflegtes "Ach scheiße!".





arboretum, Sonntag, 30. Dezember 2012, 11:23
Was dem dummen Fremden lieber ist, ist wurscht. Es kommt nur darauf an, was Dir lieber ist.


mayhem, Samstag, 5. Januar 2013, 01:51
worauf genau beziehst du dich damit?
(ich weiß es gerade wirklich nicht,manchmal stehe ich etwas auf dem schlauch)


arboretum, Samstag, 5. Januar 2013, 16:21
Darauf: Wenn ihm das lieber ist, denke ich mir (...)


mayhem, Sonntag, 6. Januar 2013, 15:16
ich war durch das "Es kommt nur darauf an, was Dir lieber ist" etwas irritiert, bzw das konnte ich nicht genau in den zusammenhang setzen.


arboretum, Sonntag, 6. Januar 2013, 15:30
Der dumme Fremde ist einfach nur dumm und ignorant - und letztlich viel zu unwichtig, um weiterhin viele Gedanken an ihn zu verschwenden. Wichtig ist, was Dir lieber ist, Du und Deine Zukunft zählen.