Meine große Stadt spielt Dystopie.
Übergangswetter, Übergangsgefühle. Traditionell der Zeitpunkt, an dem ich vom Existieren ins Leben wechsle. Danach Sommerkrise, bevor sich das Phänomen wiederholen wird, um anschließend Winterpause zu machen.
Ich krieche raus aus mir und sogar raus aus dem Haus.
Zärtlicher Sonnenschein, milde Temperaturen, selbst der Wind ist freundlich und flaniert sachte durch die menschenleeren Gassen.
In den dunklen Schaufenstern hängen Hinweise auf Onlineshops, in den erleuchten Appelle, das Personal weder verbal noch physisch anzugreifen.
In öffentlichen Verkehrsmitteln gibt es plötzlich Sitzplätze und selbst die gruseligen Mitfahrer halten Abstand, sodass es gar nicht so schlimm ist, dass ich meine Kopfhörer vergessen habe.
Ein paar Sitzreihen vor mir erzählt ein circa fünfzehnjähriges Mädchen, dass es nichts essen kann, weil sich das nicht mit ihrem Rausch verträgt.
Ihre Sitznachbarin stimmt zu; sie habe an Fasching eine Woche lang durchgehend "Teile geschmissen" und danach mehr gewogen, obwohl sie "voll wenig gegessen und eigentlich nur gesoffen" habe.
Der Gegenübersitzer äußert Zweifel, es entwickelt sich eine Diskussion, in deren Verlauf Mädchen1 poltert, was die Scheiße soll, es müsse nicht jeder wissen, dass sie sich "Teile schmeißt". Die Faschingsfeiermaus poltert mit: da sei ja eigentlich nix dabei, aber irgendwie würde einen jeder sofort voll assi finden, wenn man sich was schmeißt und wenn jeder sage, oh, das ist voll schlimm, würde sich das negativ aufs Rauschempfinden auswirken.
Man dreht sich kurz um und scannt die anderen Fahrgäste; mit geschultem Auge wird festgehalten: Eh alles Spießer.



Im Frontenkrieg um die Bunkerausstattung finde ich mich auf der Seite wieder, die sich moralisch besser anfühlt, aufgrund der anderen Seite aber vermutlich bald vor ein paar versorgungstechnischen Problemen steht.
Der PTBS-Rentner braucht ein paar Dinge, und die "Wir helfen Ihnen gegen einen Obulus gerne beim Einkaufen, Kinder betreuen, oder was Sie sonst noch brauchen - deshalb werfen wir Zettel mit diesem uneigennützigen Angebot in fast jeden Briefkasten, an den wir kommen"-Studenten sind in der Verteilung ihrer Gunst immer noch selektiv genug, um ihn zu meiden.
Als sie gerade eine Runde durchs Haus drehen und bei seinen Stockwerksnachbarn klingeln, vielleicht fällt denen ja spontan noch was ein, kommt er anscheinend auch raus; ich höre ihn fragen, ob sie ihm etwas mitbringen können. Die Studententruppe verneint, sie würden nicht da hin gehen, wo es seine Sachen gibt.
"Aber ich brauche doch nur ein paar Dosen Katzenfutter und eine Packung Klopapier."
Studententruppe dreht sich um und läuft die Treppe runter.
Alter Mann schreit Untermenschen, verdammte, bösartige.
Ich stelle meinen Müllsack in die Ecke und laufe die Treppe hoch.
Auf halber Strecke Begegnung mit der Studententruppe.
Alter, der Pisser hat doch ein Rad hab, sagt eine bejutebeutelte Bloggerduttträgerin im Carpe Diem-Shirt.
Wahrscheinlich, aber er hat halt auch Recht, ihr scheinheiligen Arschlöcher, sage ich im Vorbeigehen, mit der Wortwahl des PTBS-Opas durchaus unzufrieden, der vermuteten Grundaussage allerdings zustimmend.
Keine Verurteilung für bezahlte Dienstleistungen, aber: Ehrlichkeit bitte. Das "Einer für alle"-Altruismusphrasenschwein macht sich nicht gut als vorgeschobene Tarnung.

Alter Mann hat die Wohnungstür geschlossen und reagiert nicht auf klingeln.
Ich, ganz pragmatisch, schreie seine Tür an, dass ich einkaufen gehe und ihm was mitbringen kann.

Der PTBS-Opa sagt mir, dass er nicht daheim bleibt, weil sein Arzt es ihm befohlen, sondern, weil seine Enkelin ihn darum gebeten hat. Die wohne ganz wo anders, sei gerade außerdem in Indien und weiß vielleicht nicht so recht, was sie machen soll, wohl aber, was er machen soll: das Haus möglichst nicht verlassen und immer gründlich Hände waschen, weil sie sonst traurig ist.
Was der Arzt sagt, sehe er ja schon skeptisch, eigentlich sei das ja auch alles übertrieben, aber traurige Enkelin, nee, das kann er nicht, also bleibt er daheim.
Ich frage ihn, was er so braucht, ob er eine Einkaufsliste hat oder eine schreiben möchte; er fragt mich, ob das Angebot ernst gemeint ist oder ob ich kriminelle Absichten habe.
Ich biete ihm an, die Einkäufe auszulegen und die Rechnung mitzubringen, zeige ihm, dass ich keine Waffe im Rucksack habe und mein Rock keine Taschen hat.
Man kann ja nie wissen, meint er, sagt aber danke und holt einen Einkaufszettel.

Nach mehr als einer Stunde und vier verschiedenen Geschäften habe ich immer noch kein Toilettenpapier.
Radiostimmen schwärmen von Wochenangeboten, einwegbehandschuhte Angestelle huschen zwischen leergefegten Regalen durch ausgestorbene Supermärkte und korrigieren die Stückzahlen auf den "nur haushaltsübliche Mengen"-Zetteln nach unten.
Eine Einkäuferin blockiert mich, als ich zwei Packungen Nudeln in meinen Korb legen will, eine für den alten Mann, eine für mich. "Denken Sie vielleicht mal daran, dass es auch noch andere Leute gibt? Ich habe Kinder, ja!"
Aus dem Loch,dass mir meine Aggression in den Brustkorb gebrannt hat, steigt irgendwas anderes, groß und ruhig und majestätisch. Ein gestaltlos wabernder Schatten, schwärzer als schwarz, so leise, dass es im ganzen Kopf totenstill wird.
Der Baumgeist fällt mir ein, der hohle Klang seines Lachens, als ich gesagt habe, dass nicht jeder Mensch in jedem Moment gut ist, wohl aber das Potenzial hat, es zu sein.
Ich lasse eine Packung Nudeln in den Einkaufswagen der Frau plumpsen, neben die anderen acht, vier Flaschen Öl und sechs Sechserkartons Milch und starre ihr in die Augen, auf der Suche nach einer Seele.
Der Baumgeist hat gesagt, es ist einfacher, wenn es keine gibt.

Aufgrund des gebotenen Sicherheitsabstands bildet sich eine kleine Pseudoschlange an der Kasse.
Die Nudelfrau steht vor mir und telefoniert mit irgendwem.
Ihr Gesprächspartner scheint Probleme mit der Kinderbetreuung zu haben, jedenfalls hält sie fest, dass sie froh ist, keine zu haben.
Der Kassenazubi hält sie und sie die ganze Schlange auf.
"Geht nicht, zu viel. Ein Karton Milch, heute Nudeln nur einmal, Bitte."
Nudelfrau schreit den Laden zusammen, was ihm einfalle, wer wisse schon, wann es wieder was gebe, kaufen ja schließlich alle ein wie blöd, sie habe Kinder zuhause und Angehörige zu pflegen.
Der Kassenazubi, irgendwo zwischen Überforderung und Resignation, bittet sie, kurz an der Seite zu warten, damit sie das mit der Chefin klären können.
Nudelfrau regt sich auf, sie habe auch noch anderes zu tun, aber diese Chefin, die könne ruhig her kommen, der würde sie was erzählen, wie die sich das eigentlich vorstelle, so eine Frechheit, wir seien hier doch nicht in der DDR, wo einem der Staat vorschreibt, wie man einzukaufen habe.
Ich bezahle meine Einkäufe (inkl. einer Packung Nudeln für den alten Mann, einer Packung Sojamilch, einer Packung Hafermilch, keiner Packung Toilettenpapier) und wünsche der Nudelfrau beim rausgehen alles Gute für ihre Angehörigen und ihre Kinder.

Auf dem Heimweg versuche ich es in zwei weiteren Geschäften; keines hat Toilettenpapier.
Bei einem überlege ich kurz, ob ich den Ladenschluss übersehen habe und bekomme kurz Angst, eingeschlossen zu werden.
Dann mache ich einen weiteren Kunden aus, ein Rollstuhlfahrer, der das Regal anstarrt, auf dessen oberster, der Vorrats-Ebene, eine Packung Küchenrolle steht, weil noch niemand dazu gekommen ist, nachzufüllen und die unteren Regalreihen zu bestücken.
Aus irgendeiner Ecke kommt eine Verkäuferin mit verquollenen Augen und verlaufener Wimperntusche und läuft vorbei.
Die Zeit bleibt stehen, der gestaltlose Schemen kriecht wieder aus dem rauchenden Brandloch, das die Wut hinterlassen hat, groß und majestätisch und schwärzer als schwarz.
Der Baumgeist hat gesagt, es heißt Misanthropie und ist kein Szeneklischee und kein untergangsromantischer Identitätstopos, sondern eine natürliche Folge des inneren Überlebenskampfes, Alternative: Untergang.
Unsere zweite Begegnung muss Wochen her sein, wer weiß, ob und wann ich ihn überhaupt wieder sehe und ob er sich noch erinnert.
Ein unbestimmtes Gefühl will sich einstellen, kein richtiges Vermissen, vielleicht eine Art Melancholie, wer weiß.

Die Verkäuferin kommt zurück, ohne Wimperntuschegefechtsgräben, aber mit einer Leiter.