Mittwoch, 8. April 2020
Kurse fallen aus, Prüfungs- und somit auch Verbuchungszeiträume verschieben sich massiv, Bibliotheken sind geschlossen und die nette Dame am anderen Ende der Email-Leitung meint, nee, an der Frist zur Zeugnisvorlage ändert sie nix, wir haben die ja schon mal verschoben.
(Zur Erinnerung: die erste Verschiebung ergab sich, nachdem ich die nette Dame am anderen Ende der Email-Leitung darauf hingewiesen hatte, dass der erste zugeteilte Termin IN DER VORLESUNGSZEIT und somit Wochen, bevor die Verbuchung überhaupt anfängt, liegt).

Ich soll also eine Leistung in einem Kurs, der wahrscheinlich nicht stattfindet, einfahren, auf eine rechtzeitige Verbuchung der fehlenden Hausarbeiten hoffen, eine Themeneingrenzung, darauf aufbauend ein Exposé zur Vorlage bei meinem Betreuer und, je nachdem, wie lange die Bibliotheken geschlossen bleiben, auch die Bachelorarbeit an sich ohne Bücher (und ohne nennenswerte Auswahl an Onlinequellen) schreiben.
Eine wissenschaftliche Arbeit, die, wenn es nach meinem Betreuer geht, 30 oder mehr Titel in der Sekundärliteraturliste haben soll und sich mit noch festzulegenden Einzelaspekten spezieller Phänomene in speziellen deutschen Theaterstücken eines speziellen Autoren beschäftigt.
Weil ja noch Zeit ist und ich doch schon mal eine Verlängerung erbeten hatte.

Der Kopfkrieg der letzten Tage (kein Unikram, kein Yoga, keine ausgewogene Ernährung, kein Haushalt, nichtmal Gesichtsmaske oder Haarkur, dafür Überlastungsprokrastinieren und mentale Selbstzerfleischung) wird von einem großen, hässlichen Heulkrampf weggespült.

Ich will das Schicksal anschreien, was die Scheiße soll; dass ich den Master (Themenbereich, Dozentin, mögliches Praktikum und nebenher ein Angebot, für eine Saison eine Regie-Unterstützung bei einer kleineren Bühne zu übernehmen, die mit ihren Stücken tatsächliches GELD VERDIENT) quasi jetzt schon in der Tasche habe und es ein dramaturgisch genialer, aber auch verdammt mieser Schachzug wäre, da jetzt den Bachelor zu verunmöglichen. Wir sind hier nicht auf der Bühne, ein schlichtes, langweiliges Happy End ist erlaubt und erwünscht.

Dann fällt mir ein, dass es das Schicksal ja gar nicht gibt und die einzige höhere Macht der Zufall ist.
Und die Soft Skills, die sich aus meiner einzigartigen Kombination eines geisteswissenschaftlichen Studiums, schräger Persönlichkeit und des tendenziell unüblichen Lebenslaufes ergeben (und die mich laut Suffausspruch des Thekenzwergin-Mannes zur perfekten Personalerin, Managerin oder Weltherrscherin machen würde, er könne quasi spüren, dass ich der Menschheit Großartiges bringen werde).


Mit dem Selbstwert und der Wertschätzung meiner positiven Persönlichkeitsaspekte habe ich es gerade aber nicht so, also fährt mein Hirn eine Runde Achterbahn und ich lasse mich von mir selbst anschreien (verschenktes Potenzial, Unfähigkeit aufgrund grotesker Faulheit, ich müsse mich ja einfach nur aufraffen, drei oder vier oder mehr Tage nichts produktives gemacht, Selbstsabotage und Unvermögen, etwas dagegen zu tun, obwohl das doch so leicht wäre),
um mich anschließend zurück anzuschreien (JA BITCH ich hab die letzten Tage nichts gemacht, das liegt aber auch daran, dass die ganze Selbstvorwurfmühle und das Kopfchaos mich derart intensiv energiefressend in absolute Überlastung schleudern, dass ich komplett gelähmt bin, hatten wir nicht ausgemacht, dass in meinem Kopf Demokratie herrscht?).
Dann schreibe ich Dory, ob sie gerade Mittagspause hat und telefonieren kann, weil mich die Nachricht der netten Dame am anderen Ende der Email-Leitung gerade wieder zum weinen bringt und das irgendwie raus muss und mir sonst niemand verfügbares einfällt, vor dem ich am Telefon weinen würde.


Dory findet, die nette Dame am anderen Ende der Email-Leitung übertreffe selbst die Leute aus der Höhle des Studienkredit-Satans und fragt, ob das irgendwie ein Wettbewerb ist und was man da gewinnen kann.

Wir rechnen zusammen durch, ob es technisch möglich ist, den Bachelor zu packen, und stellen fest: selbst, wenn ich es schaffen sollte, buchstäblich um mein zukünftiges Leben zu schreiben, hängt alles davon ab, ob die Bibliotheken früh genug wieder öffnen, damit ich das überhaupt tun kann; davon, ob die Verbuchungen früh genug stattfinden und ob sie, entgegen der jahrzehntelangen "Schnecke auf Valium"-Tendenz dabei zumindest in meinem Fall Überschallgeschwindigkeit hinlegen.
Was in etwa so wahrscheinlich ist wie ein Lottogewinn.

"Ich sag das ja echt nicht gerne, aber das ist halt echt schöne Scheiße. Weil es einfach mal krass unwahrscheinlich ist und null in deinen Händen liegt. Ich würd' ja sagen, ich komm' vorbei und wir gehen tanzen oder was trinken, aber nee, so ein Scheißdrecksvirus hat ja beschlossen, er muss jetzt grad rumseuchen. Die Drecksau."
Mittlerweile findet auch Dory die aktuelle Weltkreuzfahrt auf der MS Pandemie nicht mehr so entspannend und angenehm.
Also reden wir über Lähmungs- Überlastungs- und Unvermögensgefühle und deren Bewältigung (ein paar jage ich gleich aus ihrem Kopf, wenn ich schon dabei bin), Selbstzweifel, im Hirnsumpf schwimmende Identitätsfragmente, Geisterachterbahnfahrten, das Ertragen und Aussitzen und das große Trotzdem.
Ich scheine konstruktiv zu sein; Dory weint ein bisschen und sagt, ich sei die beste Freundin, die ihr in fast dreißig Jahren je begegnet ist.
-"Dory, vielleicht ist dein früherer Freundeskreis auch einfach nur genauso suboptimal wie dein Männergeschmack." Manchmal sieht der Glückstreffer nämlich nur deswegen wie einer aus, weil man als Maßstab lediglich die vorherigen Blindgänger anlegt.

"Stimmt alles, aber du bis trotzdem großartig. Hab dich lieb! Und jetzt koch dir was schönes, mach dir n Bier auf oder ein Glas Wein und lad' dir endlich mal die Datingapp runter, von der wir geredet haben, damit du mal auf andere Gedanken kommst."

-"Ich gönn mir dauernd irgendwas zu Essen, ein- bis dreimal die Woche bis zu ein Glas Wein oder Bier und das einzig interessante an deiner App ist, dass du da den Baumgeist gefunden hast, den ich sowieso nicht anschreiben würde, weil ich gerade besseres zu tun habe und dem sicher nicht nachlaufe."
"Ok, also warten wir wieder ein paar Monate auf eure nächste Begegnung, er erinnert sich vielleicht nicht mehr dran, dass er mal nüchtern mit dir quatschen wollte und wir finden nie raus, ob ihr das ultimative Traumpaar sein könntet? Klingt nicht so geil, der Plan."

- "Genau das machen wir. Wenn er sich nicht mehr erinnert, war's nur blöd dahergesagt, es besteht kein Interesse oder er säuft wie nochwas; in allen drei Fällen lautet die Diagnose: aussortiert.
Ansonsten lernt man sich halt kennen und schaut, ob da was sein könnte - oder eben nicht. "
Dory fühlt tendenzielle Zustimmung, zumal sie seinen Humor nicht mag und ihn deswegen auch nicht, findet aber dennoch, zu mir könnte der passen und man müsse da deswegen mal was machen.
Ich, Aussitzen und Ungewissheiten und Schwebezustände absolut hassend, werde von einem spontanen Anfall konstruktiver Gedankengänge getroffen, der meine Therapeutin stolz machen würde.
-"Nur, weil der tageslichttauglich ist, den passenden Musikgeschmack hat und anscheinend Bücher liest, heißt das nicht, dass man kompatibel wäre. Wir hatten's doch bei dem letzten Typ, den du getroffen hast, vom Unterschied zwischen "Das brauche ich" und "Das möchte ich" und dass das wichtig ist. Selbst, wenn ich merken sollte, dass ich echt Interesse an ihm habe und er auch an mir, was aktuell noch völlig unklar ist: ohne Kompatibilität im "Das brauche ich" bringt das auch nix."


Mir fliegt hier vielleicht grad alles um die Ohren und potenziell geht die Welt unter, aber ein paar Verlässlichkeiten scheint es nach wie vor zu geben:
- Der Zufall bastelt weiter eigentümliche Storylines, die entweder unerbittlich auf den Super-GAU zusteuern oder der Charakterentwicklung für die Vorbereitung grandioser Zeiten dienen
- mit Empathie, Verständnis,Gnade und guten Ratschlägen begegne ich vorwiegend anderen, statt sie mir selbst auch mal zu erlauben
- kein Bock auf's Kennenlernen oder Daten des menschlichen Äquivalents zu Discounter-Sonderangeboten
- keine Ahnung, wie ich aus dem ganzen Scheiß hier heil rauskomme
- da Teile davon nicht in meinem Einflussbereich liegen, übe ich mich im Aushalten, Aussitzen und Vertrauen auf Glück oder Zufall

Also eigentlich alles wie immer, nur mit voll aufgedrehtem Verstärker.