Die letzte Hausarbeit ist geschrieben, gedruckt und gestern in die Post gegeben.
Ein Tag ohne Schlaf, aber mit Pausen - ich bin nicht mehr Anfang 20 und ein junger Gott, meine Extreme brauchen Harm Reduction, wenn ich noch was von mir haben will.
Vier Stunden für zwei Seiten Fazit, die alles sein können, von interessantem Essay bis zur glorreichen Short Story, nur leider kein Fazit.
Nach zwei weiteren Stunden gebe ich auf und gehe schlafen. Brauche fast den gesamten nächsten Tag, um aus dem Bett zu kriechen, schreibe ein ausreichendes Fazit, merke erst, dass meine Überschriftennummerierung nicht passt, als schon alles gedruckt ist. Also nochmal, dabei gleich den bisher nur online abgegebenen Zweitfachkram gedruckt und einen Schrieb für die Waisenrente; Onlinefrankierung, weil ich es nicht mehr zur Post schaffen werde, und ab zum Briefkasten.
Meine Stadt ist postapokalyptisch, sie flirrt und fühlt sich orange an vor lauter Hitze. Menschen und Gebäude wiegen sich schmelzend in der windtoten Luft, Feuerwehrautos jagen Krankenwägen jagen Notärzte jagen Polizei jagen Feuerwehrautos jagen Krankenwägen jagen Notärzte jagen-
Neben dem Briefkasten sitzt eine Taube und weigert sich, Angst vor mir zu haben. Ich überlege, ob Tauben Tollwut haben können, dann erinnere ich mich daran, dass ich seit einem halben Jahrzehnt in einer Stadt wohne, die ganz wo anders und zweihundert Mal so groß ist wie Mayhemsdorf.
"Ey Taube, kann ich dir helfen?"
Die Taube schaut mich aus halb geschlossenen Augen an und seufzt etwas genervt. Sie hat ein ziemliches Resting Bitchface, fällt mir auf.
"Keine Ahnung, wenn du sterben willst, halt ich dich davon nicht ab, aber ich kann dich in den Park bringen oder so, dann krepierst du nicht in der heißen Sonne und mit asphaltgebackenen Füßen. Das tut doch weh. Also, ist natürlich deine Sache, persönlich will ich nicht schmerzhaft sterben. "
Die Taube seufzt nochmal, watschelt auf mich zu und starrt mit ihrem Resting Bitchface zu mir hoch, dann wackelt sie mit dem Flügel.
"Ja Mensch, sag das doch gleich!" Entweder macht sie gerade Dehnübungen, oder Bitchfacetaube hat einen kaputten Flügel. Da kann man schon mal sein Ende nahen sehen.
"Taube, heute wird nicht gestorben. Nein, ernsthaft - wenn du lebensmüde bist, ist das jetzt natürlich doof im ersten Moment, aber ich möchte, dass du nochmal drüber nachdenkst. Wenn du dann immer noch sterben willst, ok, aber ich möchte, dass du dir ne Auszeit nimmst und gründlich drüber nachdenkst. Therapie fänd' ich spitze, kenne aber natürlich deine Möglichkeiten und Krankenkasse nicht."
Bitchfacetaube schaut mich an, als würde sie mir gleich eine reinhauen, lässt sich aber widerstandslos aufheben.
Wir telefonieren kurz, weil wir nicht in Mayhemsdorf sind, gibt es hier nämlich a) Empfang und b) Anlaufstellen für sowas, ein kaputter Flügel allein ist kein Einschläferungsgrund, der kann heilen und die Taube ist wieder flott.

Weil ich chaotisch und wirr immer gut vorbereitet bin, habe ich in meiner Tasche noch eine Maske und ein bisschen Kleingeld,also lege ich auf dem Weg zur Bahn einen Zwischenstop ein. Die Luft ist Lava und Bitchfacetaube hat bestimmt Durst.
Eine Verkäuferin, Modell Durchschnittshohlbrot, sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Tiere dürfen hier nicht rein." Der Handtaschenhund auf dem Arm der Frau vor mir anscheinend schon.
-" Sorry, ist ein Notfall. Könnte ich, sobald ich den Laden betreten habe, bitte eine Flasche Wasser kaufen? Oder könnte mir jemand der Anwesenden eine mit rausbringen?"
"Ähm, das geht nicht. Sie, ähm, können hier nicht mit dem Tier rein."
-" Und Sie können die aufgetaute Mischung aus Mehl, Fett und Verdammnis hier nicht als traditionell mit Liebe hergestellte Backwaren bewerben, machens aber trotzdem. Meine Taube hat Durst und ich kann sie schlecht draußen anbinden."

Bitchfacetaube und ich laufen durch einen Vorort, ich habe ihr aus einem Taschentuch ein kleines Bandana und einen Umhang gebastelt, einerseits, weil ich das anfeuchten und sie so ein bisschen kühlen kann, andererseits, weil sie so richtig badass aussieht.
"Weißt du, Taube", erzähle ich ihr, während wir der Handynavigation folgen und, wenn uns keiner sieht, querfeldein durch ein paar Gärten abkürzen um Zeit zu sparen, weil der Ort nur unzureichend an den ÖPNV angebunden ist und ich nicht zwei Stunden auf die nächste und letzte Verbindung nach Hause warten will, "ich bin eigentlich gar nicht so krass."
Bitchfacetaube legt skeptisch das Köpfchen schräg.
"Jaja, ich weiß, wir begehen gerade mehrfachen Garten-Friedensbruch, ich hab' ne Verkäuferin dumm angemacht und du trägst ein Bandana und einen Umhang. Aaaaber man muss ja den Kontext betrachten. Der Baumgeist hat mich damals, als man noch feiern durfte, komisch gefunden wegen diesem Empathie-Ding, glaub ich. Aber das ist irgendwie so meins. Außerdem machen Sinnkrisen pragmatisch."
Bitchfacetaube schnaubt.
"Achso, den kennst du ja garnicht. Ist so ein Typ, den hab ich jetzt dreimal gesehen, letztens spontan, war mit Freunden unterwegs und dann sind wir zu ihm. Und der hat schon was, also nicht so rosarote Idealisierungswolke, aber schon interessant und irgendwie vielleicht tatsächlich kompatibel. Hm, und die Krise: ich hab gerade die letzte Hausarbeit rum und hab dafür etwa dreimal so lang gebraucht, wie ich jetzt Zeit für eine viermal so aufwändige und noch nicht angefangene Abschlussarbeit habe."
Bitchfacetaube schaut mich fragend an, jetzt sogar mit zwei offenen Augen.
"Nein, keine Nummern getauscht. Der knallt zwei oder drei andere und generell sind da eher gemischte Signale."
Gurr.
"Ja, sagt meine Therapeutin auch! Und ich würde die Nummer auch über Freunde kriegen, so isses jetzt nicht. Aber ich kann doch nicht einfach schreiben, hey, ich hab deine Nummer von der Thekenzwergin geholt, ich find dich nämlich interessant, lass mal n Bier trinken gehen?"
Gurr-Gurr.
"Weil mich das verletzlich und angreifbar macht und so wirkt, als würde ich ihm nachlaufen!"
Gurr.
"Du klingst wie meine Therapeutin! Ich riskiere dauernd, oder habe risikiert, und das jetzt..."
Hinter dem Zaun, über den ich gerade steigen wollte, sitzt ein kleines Mädchen im Planschbecken und schaut mich fragend an.
"Entschuldigung, ich wollte nicht einfach in euren Garten. Meiner Taube geht es nicht gut und das wäre eine super Abkürzung gewesen. Darf ich durch, oder soll ich außenrum?"
Bitchfacetaube ist amüsiert, sie wird langsam wieder wacher und findet entweder Gefallen an unserer Exkursion oder lacht mich ein wenig aus. Vermutlich beides. Das Mädchen sagt nichts, ich frage mich, ob es vielleicht blöd ist, schließlich ist es mindestens zwei. Ich konnte schon mit neun Monaten sprechen. Irgendsoein ringförmiges Plastikspielzeug fällt aus seiner Hand und neben das Planschbecken, und sofort verzieht es das Gesicht und fängt an zu schluchzen.
"Ach Kinder, ich hab keine Zeit für sowas!" Also steige ich über den Zaun mit meiner bandana- und umhangtragenden Bitchfacetaube, hebe den Plastikring auf, drücke ihn dem Kind in die Hand und beeile mich, weiter zu kommen.

Das Tauben-Paar (also, das Ehepaar, das sich um die Tauben kümmert, kein tatsächliches) sitzt in seinem Garten, aus Höflichkeit klettere ich aber nicht einfach rein, sondern warte am Tor.
"Ach, so früh haben wir gar nicht mit Ihnen gerechnet", zeigt sich der Tauben-Mann erstaunt. "Warum hat die Taube ein Cape?"
-"Hab eine Abkürzung genommen. Taschentuch für Verdunstungskühlung, habs immer mal angefeuchtet. Wollte sie nicht in mein Shirt wickeln, hab nur das eine."
"Ja, das ist natürlich ein Argument. Dann schaue ich mir den Patienten mal an!"
Bitchfacetaube gurrt mich nochmal an, ich habe ein bisschen Trennungsschmerz, aber bringt ja nix.
"Werd' mir wieder gesund, ne. Und drück mir die Daumen, für alles. Bitte."
Gurr.





sid, Sonntag, 23. August 2020, 01:29
Gut gemacht!!