Donnerstag, 21. Juni 2012
Ich hoffe.
Vermutlich ist das ein Fehler.
Vielleicht ist es sogar der Fehler, der dafür sorgt, dass die ganze Lebenssache generell oft in Richtung "unschön" driftet, der es mindestens kompliziert und meistens schmerzhaft werden lässt.

Ich glaube.
Nicht wirklich an Gott, aber bisweilen an das Schicksal und außerdem daran, dass alles gut wird.
Vermutlich ist das einer der Gründe dafür, dass es wehtut.
Vielleicht täte es weniger weh, wenn ich es lassen würde.
Ich lasse es aber nicht, und zweifle vielleicht manchmal daran, dass ich ein kleines Glück, das mir begegnet, verdient habe, aber nie daran, dass alles gut wird.
Muss ja schließlich.

Ich fühle.
Fast alles im Voraus, häufig Verborgenes,gerne mit einer Wucht, die bisweilen Angst macht und prinzipiell wohl zu viel.
Und ich habe nicht vor, das zu bekämpfen.
Auch, wenn ich manchmal gerne würde.
Geht sowieso nur eingeschränkt, und macht auf Dauer unglücklich.
Also versuche ich, damit klarzukommen.

Klarkommen, das ist generell so eine Sache.
Ich komme nicht klar.
Auf Dauer erst Recht nicht, aber allgemein wird Klarheit sowieso überbewertet.
Ich bin Chaos, wie mein Zimmer, wenn die böse Klausurenphase ihren Höhepunkt erreicht hat und langsam ausklingt.
Ich bin Kontrast, Gegensätze prallen gegen- und tanzen miteinander, alles in mir, alles viel zu sehr und gleichzeitig viel zu wenig, und alles gleichzeitig.

Eigentlich zu viel, was sich in meinem Gehirn sammelt wie meine Notizen auf dem Schreibtisch, neben dem Bett, an der Pinnwand;
Eigentlich zu viel, was auf mich einstürzt wie meine gefährlich instabil gebauten Bücher- und Papiertürme.
Aber wissen Sie was?
Phasenweise fange ich an, damit klar zu kommen,auch, wenn ich eigentlich verloren bin in meiner für mich so unüberschaubaren, fremden Existenzwelt.

Gerade wieder alte Einträge gelesen, November 2010.
Fernab von epischen Vatersfreundinattacken, in einem durchaus annehmbaren Gewichtsbereich und hoffnungslos wie nie zuvor. Und dieses damals soll also "die gute alte Zeit" sein..

Es ist jedenfalls nicht viel übrig geblieben von ihr.
Immerhin, die Unsicherheit,natürlich (und) vor allem die Unsicherheit, aber auch manche anderen Eigenarten.
Und weil das gut so ist, rufe ich jetzt mal wieder bei Kriemhild an, genehmige mir danach den Rest der Schokolade, von der ich im Laufe des Tages viel zu viel gegessen habe, drehe die Musik so laut auf, wie das eben geht, wenn man nur über den PC welche hören kann, und feiere "Jahrgangsstufenbeste" mit 14 Punkten in der mündlichen Englischprüfung, eine ähnliche Leistung in der seltsamsten Musikabfrage des Semesters, somit einen leichten Notenschnittausgleich, den Untergang der Welt, ihre Wiedergeburt, das nahende Festival und das, das in den Sommerferien ansteht, den Fakt, dass ich mich getraut habe, den viel zu Normalen zu grüßen, die für 4 Euro erstandenen schönsten Ballerinas der Welt und vor allem mich selbst.





Samstag, 9. Juni 2012
Wir sind wieder Totalschaden, das weggeschwemmte Dorf, der nach einem Orkan völlig zerstörte Wald, die verwüstete Siedlung.
Oder, eigentlich ist er es.
Er ist das Krisengebiet, und ich bin die am Rand stehende Hilfsorganisation, die weder die Mittel, noch die Möglichkeiten hat, zu helfen.

Mein Krisengebietsvater schlurft so in Jogginghose und Kapuzenpullover durch die Wohnung, liest Briefe, schreibt Mails, erledigt Bankgeschäfte und versucht allgemein, möglichst geordnet zu leben, vermutlich mit dem Gedanken, ich würde es nicht merken und es würde schon verschwinden, mit der Zeit.
Papa, Gefühle kann man nicht wegarbeiten, und ich sehe es.
Ich sehe, wie du auf den Boden schaust, ich höre dein Schweigen und den Ton, den du anschlägst, wenn doch mal ein Halbsatz aus dir rauskommt, irgendwo zwischen neutral und sehr erbost.
Ich habe gemerkt, dass du an den Abenden, an denen sie nicht da war, dein Bier geholt hast, und dass das jetzt Regelmäßigkeit wird, und auch, dass du jetzt länger wachbleibst als ich, gestern vorm Fernseher, am Abend zuvor wohl am Computer.
Keine Ahnung, wessen digitales Kabelfernsehen wir da angezapft haben, weil du gestern Pseudocomedy sehen konntest, obwohl wir nur Analogfernsehen hatten. Eigentlich mag ich auch gar keine Pseudocomedy, aber als ich um halb eins von der Nachbarin zurückkam und du da so im Dunkeln gesessen hast, hab ich mich dazugesetzt, damit du nicht so alleine mit deinem leeren Puddingbecher und dem Bier sitzen musst.
Ich weiß nicht, ob dich das stört oder du es gut findest, aber ich habe mich wieder darauf verlegt, einfach da zu sein.
Dann sitze ich eben da und wir schweigen zehn Minuten zusammen, wenn du Zeitung liest, bis du das Schweigen kurz durchbrichst, weil du Kleingeschriebenes nicht mehr lesen kannst.
Oder ich lasse Gewicht eben Gewicht sein und esse mit zu Abend, weil du Rührei gemacht hast, sogar ohne Speck für mich, obwohl ich zwei Stunden vorher, zur eigentlichen Essenszeit, ein Käsebrötchen und davor schon genug gegessen habe.
Oder ich schaue mir völlig bekloppte Pseudocomedy an,weil du schon genug Angst davor hast, alleine in diesem Zimmer zu schlafen, dass sie im Alleingang eingerichtet hat, mit ihren Buddhas und Dekosternen und Kunstpflanzen und Miniteppichen und Lämpchen.

Du hast ihr mal gesagt, wenn sie geht, dann gehst du auch weg, oder du bist nur noch auf der Rettungswache.
Ich weiß, dass du gern und viel verdrängst, als wir einmal reden konnten, hast du es selbst gesagt, und ich würde dir gerne sagen, dass du das lieber sein lassen solltest. Nicht weglaufen, Papa. Es holt dich doch sowieso ein, und es wird so oder so wehtun, je länger du wegläufst, desto schlimmer wird es.
Du hast vermutlich andere Verarbeitungsmechanismen als ich, und überraschenderweise sind meine auch besser ausgeprägt oder aber einfach effektiver als deine, aber lauf nicht weg. Es bringt dir doch nichts.
Gefühle können Angst machen und weh tun, meistens ist auch mindestens eins von beidem der Fall, aber es wird nicht besser, wenn du schweigst und arbeitest und abends dein Bier trinkst und fertig. Weißt du, ich hatte auch mal Liebeskummer. Das passiert, und man kann es leider nicht ändern. Wenn wir uns in der Hinsicht auch ähnlich sind, bist du jetzt irgendwo zwischen Wut und "Ach, halt dein Maul" und Verzweiflung, weil ich eben doch ein wenig Recht habe, auch, wenn ich dir nicht helfen kann.
Trotzdem, du schaffst das schon, Papa.
Und auch, wenn du es sowieso in nächster Zeit nicht einlösen wirst, gilt das immernoch, das "du kannst mit mir reden".
Ich weiß nicht, ob du überhaupt mit mir reden willst, oder ob du mich am liebsten los wärst, aber ich glaube, es ist gut,dass ich da bin. Trotz allem.
Und wir kriegen das wieder hin, auch, wenn es vielleicht eine Weile dauert,so, wie es eine Weile dauern wird, bis ich einen Ersatz für das Shirt von Audiolith, dass deine ehemals-Freundin ermordet hat, habe, aber das macht nichts.
Weißt du, irgendwann, da wird dann alles gut.
Muss ja.


Vielleicht ist das eine Bedeutung von "Familie", die ich da gefunden habe.




Freitag, 1. Juni 2012
Wenn die Ferien vorbei sind, brauche ich erstmal Urlaub, vermutlich..

Zu viel Vatersfreundin, zu viel Schreikind, zu viel Lerndruck, so wenig getan und nichtmal genug Frieden, um in Ruhe ausschlafen zu können.
Wer nachts um drei im Hof sitzt und sich Grillenkonzerte anhört, sollte auch bis mittags ausschlafen dürfen, ganz eindeutig.
Sollte das Schreikind jemals anfangen, über Instinkthandlungen hinaus zu denken, werde ich ihm das auf jeden Fall sagen, vorausgesetzt, ich habe dann noch Kontakt zu dem Haufen.
Innerlich schreit jetzt schon alles laut "Nein!" und klingt dabei wie Fingernagelkratzen auf Schiefertafeln, wenn ich die laute Hexenstimme nahen höre.

Aber da ist die Gewissheit, dass ihre Angriffe ins Leere laufen.
Ihre verbissenen Versuche, zu zeigen, wie toll das Leben doch ist, wenn ich mich nur erstmal in mein Zimmer verzogen habe; das künstliche laute Lachen, die Pseudofröhlichkeit über Handlungen des Schreikinds, die ihr zwischendurch vom Gesicht rutscht wie eine schlechte Maske, wenn sie das Kind wegen einer Kleinigkeit so anschreit, dass es anfängt, zu weinen.
Ihre verkrampften Versuche der Ignoranz, bei denen ihre Wut, ihre Aggression, vielleich auch ihr Hass, fast sichtbar um sie herumwabern wie Rauchwolken, wenn ich sie neutral-freundlich begrüße, einfach neben ihr her existiere und keinerlei Anstalten mache,spontan in einen fürchterlichen Weinkrampf im Angesicht ihrer vermeintlichen Stärke, Allmacht und Weisheit zu verfallen.
Ich habe die Vatersfreundin besiegt, augenscheinlich.
Und selbst in ihrer naturgegebenen Beschränktheit (was nicht als Beleidigung oder Arroganz, sondern einfach als Diagnose aufzufassen ist) begreift sie es, wenn auch vielleicht nicht bewusst. Und es macht sie aggressiv, wie einen Hund, der immer weiter in die Enge getrieben wird.

Da ist immernoch mein zitterndes Nervenkostüm und das Kreischen aus dem Inneren, wenn sie vorbeikommt, aber ich habe mir angewöhnt, das nicht zu zeigen.
Die Fähigkeit zum stummen, wort- und tatenlosen Terror, die Oma Mayhem bis zur Perfektion beherrscht hat und wegen der meine Mutter mal zitternd auf dem Sofa lag und auch dann nicht aufstehen konnte, als der Arzt da war, habe ich nicht in diesem Umfang geerbt, die emotionale Kaltblütigkeit sucht man bei mir komplett vergeblich. Vielleicht beherrsche ich den stummen Psychoterror deswegen nicht perfekt.
Aber ich gehe davon aus, dass die Fähigkeit dazu vorhanden ist, vererbt wie die tiefliegenden Augen.
Und speziell für die Vatersfreundin werde ich versuchen, sie zu perfektionieren.
Vermutlich widerspricht das meiner Unsicherheit und der Emotionalität, aber im Hinblick auf meine Person hat ja sowieso jemand den Kontrast gewaltig nach oben geschraubt.
Ganz offensichtlich zählt auch freundliches Neutralbleiben zu einer Form der Belästigung, Beleidigung oder sogar schon zum stummen Psychoterror. Vielleicht ist das aber auch nur in unserem besonderen Fall so, und normale Menschen sind fähig dazu, freundlichem Neutralbleiben mit ebenfalls freundlichem Neutralbleiben zu begegnen.

Dear Vatersfreundin,
Ab jetzt streiche ich das "freundlich" vor meinem Neutralbleiben.
Letztgenanntes werde ich weiterhin beibehalten, egal, wie sehr ich dich verabscheue und verachte, denn nichts anderes empfinde ich mehr.
Aber ich werde dir zeigen, wie viel Verachtung und Abscheu man jemandem entgegenbringen kann.
Ohne irgendwas zu machen oder ein Wort zu sagen werde ich es dir zeigen, und du wirst es spüren, selbst du wirst es spüren.
Das garantiere ich dir.




Mittwoch, 16. Mai 2012
"(...)
Es war einmal ein arm Kind und hat kein Vater und keine Mutter, war alles tot und war niemand mehr auf der Welt.
Alles tot, und es ist hingegangen und hat gesucht Tag und Nacht.
Und weil auf der Erde niemand mehr war, wollt's in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an;
und wie es endlich zum Mond kam, war's ein Stück faul Holz.
Und da ist es zur Sonn gangen, und wie es zur Sonn kam, war's ein verwelkt Sonneblum.
Und wie's zu den Sternen kam, waren's kleine goldne Mücken, die waren angesteckt, wie der Neuntöter sie auf die Schlehen steckt.
Und wie's wieder auf die Erde wollt, war die Erde ein umgestürzter Haufen.
Und es war ganz allein, und da hat sich's hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch und is ganz allein.

(Die Großmutter in Georg Büchners Woyzeck)

Das Balancieren wird zur Routine für mich und ich falle seltener runter.
Mein Vater muss sich noch daran gewöhnen.
Ich weiß nicht, wie oft er fällt, aber ich weiß, dass er es tut.
Dass er schwankt, wenn der eine Mann da vorbeikommt.
Der, der mit ihr geschlafen hat.
Der jetzt mit meinem Vater im Gemeinderat sitzt.
Es setzt ihm noch heute zu, weil das damals wohl Liebe für ihn war, die auch durch die ganze Sache mit meiner Mutter nicht totzukriegen war.
Dieses Herz, das sich geweigert hat, zu kollabieren, und auf der anderen Seite ihres, überbelastet.
Auf beiden Seiten Eltern, die nicht unbedingt gute waren; die einen unfähig, die anderen mit früher ungesundem Trinkverhalten und anschließender Mäßigung, aber leider immernoch keiner Erleuchtung in Sachen Erziehung.
Verpasste Chancen, verfahrene Ansichten und weggeprügelte Emotionalität vs. Haltlosigkeit. Leben als Drahtseilakt, irgendwo zwischen Perspektivenlosigkeit, Resignation und dem Auflehnen dagegen. Immer mit Bier- oder Sektflasche in der Hand.
Irgendwann hat es ihr den Boden unter den Füßen weggezogen.
Vielleicht damals, als er bei einem Motorradunfall gestorben ist. Ihre alte Sache. Sechs Jahre lang in Gedanken ihre alte Sache, sein scherzhafter Satz, Großmutter Mayhem, ich werd mal dein Schwiegersohn.
Zwei Wochen später seine Todesanzeige, ausgeschnitten in ihrem Tagebuch. Darunter, die Familie trauert. Mit Kuli ergänzt "und Ich", in ihrer Schrift.
Sie hat sein Sterbebild bis zuletzt aufgehoben und mir auch 20 Jahre später noch davon erzählt.
Von ihm, und dem Unfall, und wie sein brennender Leichnam im Gebüsch gefunden wurde.
Dass ihr Herz auf der Beerdigung fast auseinandergefallen wäre.
Dass sie immer wegen ihm die Fußballspiele angeschaut haben, sie und ihre Mutter, jahrelang, vorbei an diversen kleineren Schwärmereien. Immer sonntags die Fußballspiele.
Vielleicht war es das.
Vielleicht war es das, was ihr Herz so kaputt gemacht hat, dass es einfach nicht mehr richtig zurücklieben konnte. Nicht so, wie ein Herz das normalerweise macht.

Das Herz meines Vaters liebt auch nicht so, wie ein Herz das normalerweise macht.
Es tut das eher versteckt und manchmal auf eigene Art und Weise, weil es so zurechtgequetscht und ihm eingebläut wurde, dass es die Sache mit dem Gernhaben doch bitte möglichst bleiben lassen sollte.
Das zurücklieben, das wurde nur an dafür vorgesehenen Tagen deutlich sichtbar; Hochzeitstag, Kennenlerntag, Geburtstag. Da muss man schließlich schenken, dachte sich wohl Papa Mayhems Herz, und schenkte. Schmuck, oder Blumen, oder beides.
Es tut das manchmal heute noch, wenn es der Vatersfreundin Gefühle zeigen will. Blumen schenken, oder eine Tafel Schokolade, oder einen Schokoladenosterhasen, wenn gerade Ostern ist.
Für ihn ist das keine belanglose Nebensächlichkeit, und keine absichtliche Reduktion auf greifbares, sondern eine notwendige; greifbare Gefühle sind so viel einfacher und verlangen einem oft so viel weniger ab.


Manche Gefühle kann man nicht auf greifbares reduzieren.
Sie hat es gewusst und versucht, sie wegzukriegen, er will es bis heute nicht wahrhaben.
Ich lasse ihre Übermacht über mich hinwegrollen und warte, bis die Flut sich wieder zurückzieht und irgenwann ein Verarbeitungsprozess einsetzt.
Manchmal tut er das nicht; stattdessen kommt die Flut wieder oder wird zum Malstrom, und für mich als Nichtschwimmer sollte es eigentlich unmöglich sein, in solchen tosenden Massen nicht zu verschwinden, aber irgendwie scheint es zu funktionieren, jedes Mal aufs Neue.
Vielleicht ist die Kunst nicht, unkaputtbar zu sein, sondern die eigene Verletzlichkeit zu akzeptieren und es einfach passieren zu lassen.
Sich treiben lassen,
ohne dauerhaft unterzugehen. Auch, wenn man manchmal mit dem Kopf unter Wasser ist.
Vielleicht ist es ja wirklich so.

Mein Vater kann das nicht, sich treiben lassen.
Er muss sich festhalten, an Realem, an Greifbaren, an Konventionen, Fakten, an irgendwas.
An dem, was "getan werden muss".
So, wie das aussortieren der Wohnung seines Vaters.
Ist ja im Krankenhaus, nicht sicher, wann und wie er zurückkommt, also. Längst fällig, das. Sagen sie.
Akten, die geschreddert werden, Kaufrechnungen von 1971, Wertbriefe von 1962.
Die Garantie für den Staubsauger ist ebenso abgelaufen wie die für den ehemals weißen Teppich, den ich nur in mittelgraubraun kenne.
Oder wie das Abmelden des Autos.
Heute hat er die Nummernschilder abgeschraubt, sie liegen jetzt auf der Treppe.
Landkreis-Anfangsbuchstabe Opa Mayhem-Anfangsbuchstabe Papa Mayhem-65.
Was sie mit dem Auto vorhaben, frage ich.
"Verschrotten", antwortet mein Vater und meint das ernst.
Der eigentliche Plan hatte gelautet, das Schlachtschiff nicht durch den TÜV kommen zu lassen, war alles mit dem Prüfer abgesprochen, und dann weiter zu sehen.
Jetzt ist Opa Mayhem definitiv nicht mehr fahrtüchtig, also wird die Idee der Vatersfreundin umgesetzt.
Wir verschrotten einen 30 Jahre alten Mercedes. Damals neu gekauft worden, als der epische weiße Käfer an Papa Mayhem übergegangen war, der ihn damals genauso toll gefunden hatte wie ich, als ich ihn Jahrzehnte später auf Fotos wiederfand und fortan in der Reihe der Autos, die später im Idealfall für mich in Frage kommen würden, auch den Käfer listete.
Der epische weiße Käfer ist irgendwann gegangen, und bald geht das Schlachtschiff.
30 Jahre alt, nur äußerlich etwas angerostet und bis auf das beschränkte Kofferraumvolumen (Opa Mayhem hatte versucht, in einer gefühlt vier Quadratmeter großen Hofeinfahrt zu wenden) noch völlig in Ordnung.
Und bald verschrottet.
Er hat immer gesagt, irgendwann fahre ich auch mal damit.
Die Vatersfreundin hat immer die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen. Ich in der vierrädrigen Titanic. Könne ja garnicht gut gehen.
Mein Vater hat sich enthalten, wie so oft.

Vielleicht muss es für ihn so sein. Vielleicht kann er das Auto nicht verkauft sehen, sondern muss es verschrottet wissen, findet sonst keine Ruhe und sich damit konfrontiert, dass Opa Mayhem abbaut.
Die Verarbeitungsmechanismen meines Vaters sind insofern etwas eigen, als er keine hat.
Vielleicht ist das einer der grundlegenden Unterschiede zwischen uns beiden.
Ich kann biszumgehtnichtmehr und noch weiter an einer Sache kaputt gehen, aber ich verarbeite.
Wenn auch manchmal langsam, fast unbemerkt und für mich schmerzhaft. Aber ich verarbeite, zumindest aktuell geht das noch,und irgendwann schließe ich mit der Sache ab.
Werde ich damit abschließen können.
Und wieder neu fallen.
Und immer so weiter.
Muss ja.


"Und allem Weh zu Trotze bleib ich
Verliebt in die verrückte Welt.

(hier komplett zu lesen)




Donnerstag, 3. Mai 2012
"Und dann bin ich auf der Wiese im Wasserschutzgebiet aufgewacht, nach zwei Stunden oder so!"
Was wie der Beginn einer weiteren hochdramatischen Erfindung eines schlecht bezahlten Autorenteams Offenbarung im qualitativ hochwertigen Nachmittagsfernsehen klang, beendete in Wahrheit den Bericht der Mitsanitäterin darüber, wie sie ihren Sonntagabend verbracht hatte.
Während Blondine Nr.3 und auch die Mitsanitäterin selbst darüber lachten, dass sie, nachdem ihr Freund um eine Beziehungsauszeit gebeten hatte, zwei Flaschen Billigbaileys geleert, sich danach noch auf ihr Fahrrad geschwungen, das Haus ihres Freundes aufgesucht und die ganze Nachbarschaft zusammengeschrien hatte, fand ich die ganze Sache mal wieder eher weniger lustig.
Als tendenziell bedenklich empfand ich dagegen den Fakt, dass die Mitsanitäterin, nachdem ihr Freund und seine Familie dann definitiv wach waren, anscheinend weggefahren war, einen totalen Filmriss hatte und 2h später, um fünf Uhr morgens, im Wasserschutzgebiet wieder aufgewacht war, weil ihr Freund sie dort gefunden hatte und im Begriff war, sie zu sich nach Hause zu tragen, damit sie in Sicherheit ihren vermutlich beträchtlichen Rausch ausschlafen konnte.
Der Rest der Welt verstand mal wieder nicht, wo mein Problem lag, es wäre ja schließlich nichts passiert.
Dass die Mitsanitäterin schön blöd sei, sich alleine daheim zwei Flaschen Billigbaileys reinzuziehen, schließlich sei Trinken ohne Gesellschaft irgendwie langweilig und sinnlos, fand man ; aber sonst..
Die Biokurskollegin ließ noch ein gespielt ernstes "Alkohol löst keine Probleme, mein Kind!" ab, und damit war die Sache dann auch vom Tisch.
In meinem Kopf machte ich einen weiteren Strich auf der Liste "Wochenenden, an denen die Mitsanitäterin mindestens so dicht wie der Fremde war" und legte vorsichtshalber schonmal ein weiteres Blatt bereit.

Die Mitsanitäterin ist eine sehr zwanghafte, verkrampfte Person.
Sie lernt nicht nur Hefteinträge, sondern ganze Schulbücher auswenig, putzt jedes Zimmer, das sie erreichen kann, bis auch die Möbel glänzen, setzt sich selbst massivst unter (schulischen) Leistungsdruck, im ständigen Wettkampf mit der, die letztes Jahr um 0,1 besser war, und hat auch keine Probleme damit, die Hefteinträge ihrer Mitschüler verschwinden zu lassen, wenn sie Konkurrenz wittert. Bei ihr muss alles perfekt sein, fest geplant, auswendiglernbar. Denkaufgaben lassen sie ebenso verzweifeln wie mich Vokabeltests.
Vielleicht sind wir deshalb in der siebten Klasse Freunde geworden.
Ich verkörperte die Gegenteilextreme zu ihren, und ich tue es auch heute noch.
Uns beiden ist eine gewisse innere Zerissenheit zu eigen, und eine gewisse Vorschädigung durch Eltern, die eigentlich keine Kinder hätten bekommen sollen.
Die Ausprägung der Probleme, und auch ihre Folgen, könnten allerdings nicht unterschiedlicher sein.
Da ist sie, seit einem Jahr Scheidungskind, mit dem Vater, der sich selbst gerne irgendwo zwischen Herrscher der Welt und cooler Teenie sehen würde, und sitzt alleine daheim und schüttet zwei Flaschen Likör in sich rein, weil sie Beziehungsprobleme hat, mit ihrem Freund, diesem endlos geduldigen Menschen, der versucht, sie zu stützen, aber vermutlich zu normal ist, um zu verstehen.
Und da bin ich, die Halbwaise, deren Mutter angefangen hat, zu trinken, als sie so alt war wie ich jetzt, und sich damit so kaputt gemacht hat, dass sie 2007 einfach gestorben ist.
Mit dem Vater, der, selbst traumatisiert von zu schlechten Eltern und deren zu falschen Vorstellungen, gefesselt von dem, was ihm beigebracht wurde und dem, was sich "so gehört", nie so richtig fähig war, eine funktionierende Familie hinzubekommen, und der sich vermutlich doch nur das gewünscht hat. Funktionierende Hausfrau, funktionierendes Kind, das eigentlich noch einen funktionierenden Bruder oder eine funktionierende Schwester hätte haben sollen. Funktionierende Familie. Funktionierendes Leben.
Der das nie bekommen hat.
Mit der Vatersfreundin, in der sich schon seit ihrer Kindheit Wut und Zorn und Frustration aufstauen, und die in mir die Person gefunden hat, an der sie all das willkürlich auslassen kann.

Da bin ich, sitze daheim und schreibe, fahre Bus und schreibe, gehe auf Konzerte und manchmal tanze ich, wenn auch sehr schlecht, verliebe mich und weine, verliere mich und suche, balanciere und falle, aber gehe irgendwie doch weiter.
Ich denke bis tief in die Nacht und bis zum nächsten Morgen, und wenn ich darüber schreiben kann, wird es besser, ansonsten nicht.
Ich ertränke es nicht. Auch, wenn es sich dann manchmal anfühlt, als würde es einen umbringen.
Oder einfach nur leer; dumpf und leer.
Ich weiß nicht, was schlimmer ist.

Die Mitsanitäterin erlaubt sich nicht, sowas zu fühlen,vielleicht hat sie auch Angst davor.
Ich habe genauso Angst davor, irgendwo in dieser Leere verloren zu gehen, aber wenn sie dann auftaucht, sehe ich trotzdem direkt in sie, und wenn es sein muss, springe ich auch rein.

Sie wird immer mehr zum Extremmensch. Auf der einen Seite der Leistungswahn, auf der anderen der totale Kontroll- und inzwischen schon Gedächtnisverlust an Feiern. Das, was sie früher so sehr abgelehnt hat.
Leute, die zuviel trinken.
Leute, die fremden Menschen aufs Shirt kotzen.
Die sich nachts um drei an den Schultern ihrer noch nüchternen Sanikollegin abstützen, wie gestört lachen und so sehr schwanken, dass man Angst haben muss, sie würden gleich in Ohnmacht fallen.
Die das Bewusstsein verlieren vor lauter Alkohol, und morgens um fünf auf einmal auf der Wiese neben dem Wasserschutzgebiet liegen.
Und am nächsten Tag übersät mit blauen Flecken und dem Kater des Jahrtausends aufwachen,weil sie besorgniserregend betrunken waren, als sie mit dem Fahrrad 10km gefahren und mehrmals runtergefallen sind.

Früher fand sie solche Menschen abstoßend, die so die Kontrolle über sich verlieren. Das Problem hatte zu der Zeit gerade angefangen, einer von den Coolen zu werden, und sie hätte am Liebsten gesehen, wie ich meine Gefühle für ihn im Wald vergrabe und dort lasse.
Überhaupt verstand sie das nicht so gut, den Gefühlskram, für sie war das immer etwas, was man sich aussuchen und nach Belieben ein- und ausschalten konnte.
Sie hat auch heute noch manchmal Probleme damit, Gefühle als einen Wert anzusehen, aber die Emotionen holen sie ein, all die, die sie sich jahrelang nicht zugestanden hat, die sie weggelernt, weggeputzt und weggewaschen hat.
Die gehen nicht einfach irgendwo zwischen Geschichtsvortrag schreiben, Frühuni und dem nächsten Absturz verloren, wie das mit einigen ihrer neuen Freundschaften passiert ist.


Meine Freundschaft zu ihr ist auch verloren gegangen, schon letztes Jahr.
Wir, beide Extremmenschen, entwickelten uns immer weiter, in Richtungen, mit denen die andere eigentlich nicht mehr klarkam oder klarkommen wollte, auch,wenn das bis heute keine von uns je geäußert hat.
Ich sage ihr immernoch, dass ich da bin für sie, und ich meine es auch so; manchmal,alle paar Monate oder am Ende längerer Ferien, meldet sie sich und wir versuchen, zu reden, aber es geht nicht.Nichtmal über die Schule können wir reden, und ich bin verunsichert, weil ich gleichzeitig befürchte, sie, inzwischen semicool bei den Normalen, könnte das, was ich unbeholfen versmalltalke, doof finden.
Manchmal ist sie noch die alte; wenn sie mich mitten im Satz unterbricht, mit Vorliebe dann,wenn es gerade wichtig gewesen wäre,um sich über die Notendurchschnittskonkurrenz aufzuregen; wenn sie in ihre kindischen Abspackphasen verfällt, die damals dafür gesorgt haben, dass keiner außer mir was mit ihr zu tun haben wollte, aber die mich, auch, wenn ich sie peinlich fand, nie davon abgehalten haben, mit der Mitsanitäterin in der Pausenhalle zu sitzen und ihr bei den Hausaufgaben zu helfen, wenn da eine Aufgabe war, bei der einem Auswendiggelerntes so garnicht weiterhelfen wollte.

Ich weiß nicht, ob ich die alte Mitsanitäterin zurückhaben möchte.
Aber ich möchte nicht, dass sie verloren geht.
Wir waren damals beste Freunde, aber nicht, weil da so eine Verbundenheit war,jedenfalls empfand ich keine,aber ich tue mir mit sowas manchmal allgemein schwer und damals war das noch viel schlimmer, sondern weil die anderen irgendwie alle gleich waren.
Und irgendwann hat die Hyperaktive die schwarz gekleidete,schwarzhaarige und schwarz geschminkte, Kafka lesende Mitsiebtklässlerin angesprochen und gefragt, warum sie eigentlich immer so düster rumläuft, das würden doch in unserer Gegend nur die machen, die um einen Verstorbenen trauern.
Und dann waren wir auf einmal Freunde; jedenfalls hat sie gesagt, dass das Freundschaft heißt; ich war mir da nicht sicher, die letzte richtige Freundschaft, die ich mitbekommen hatte, war zu einem griechischen Mädchen gewesen, das ich seltsamerweise verstanden hatte, obwohl es kein Wort Deutsch sprach, und das dann umgezogen war, und danach zeichneten sich Beziehungen zu meinen Mitkindern vor allem dadurch aus, dass diese ausgesprochen gemein sein konnten.
Aber die Mitsanitäterin nannte mich "beste Freundin", also war ich das eben, durch viele Haarfarbenwechsel meinerseits hindurch, egal, was passieren wollte und auch, wenn sie und ich weder auf eine Wellenlänge, noch irgendwie auf einer gemeinsamen Ebene waren.

Habe mich anschreien und halb totdiskutieren lassen, volllallen und anlachen, eventuell auch auslachen, ihr Ego gegen mein Ego, ein harter Kampf, war mit ihr auf Stammtischen und Beatabenden und einmal hat sie mich wegen dem Problem weinen sehen.
Ich war da,als ihre Eltern sich getrennt haben;als ihr Vater eine neue Freundin hatte; als Schluss war und er zu Kurzzeitfickbeziehungen übergegangen ist, weil man sich da emotional nicht so schrecklich nah sein muss. Nah sein bedeutet verletzlich sein.
Trotz allem da sein konnte sich unsere Freundschaft nicht halten, weil ich mich verändert habe. Und weil sie sich verändert hat.
Und aller Logik zu Trotz scheint es so,als würde sie,die organisierte, die geordnete; die, die einen Plan und immer den Überblick hat; als würde sie jetzt über genau diese Dinge stolpern, während ich anfange, das balancieren zu lernen.

Vielleicht sehen wir uns nach dem Studium wieder; ich bin mir sicher, dass sie dann eine erfolgreiche Medizinerin ist, Mediziner müssen Faktenwissen haben,sich an den Plan halten und logisch denken; das kann sie gut, die Misanitäterin, und ihr Notendurchschnitt spricht ihr das zu, was allgemein Intelligenz genannt wird, locker stipendiumstauglich.
Ich weiß nicht, was dann aus mir geworden ist.

Wenn es klappt, wenn ich dann wirklich Psychologin bin, und wenn ich dann wirklich in der Superklinik arbeite, sehe ich sie vielleicht.
Sie säße dann möglichst gerade auf einem Stuhl, permanent mit dem Fuß tippend oder den Fingern trommelnd, aber nicht zu einer Melodie, die in ihrem Kopf ist, sondern, weil sie es muss; und sie würde mich als erstes anraunzen, weil ich nur fünf und nicht zehn Minuten zu früh da sein würde.
Dann, bei der Gruppensitzung, würde sie mir erklären, dass ich unfähig und meine Methoden bescheuert seien, würde aus dem Raum stürmen und sich mindestens zwei Stunden lang aufregen, bis ich sie suchen, finden und dann versuchen würde,mit ihr zu reden, darüber, dass ihr manches vielleicht auf den ersten Blick ungewohnt vorkäme, das aber alles seinen Sinn habe. Sie würde schrill lachen, sagen, dass ich ein Rad ab habe, und den Rest des Abends auf ihrem Zimmer verbringen, während der Rest meiner burnout- und/oder suchtgeplagten Truppe im Billardraum die von oben verordneten Gemeinschaftszeiten abarbeitet.




Donnerstag, 19. April 2012
Im Gesicht der Vatersfreundin der blanke Hass, in mir die altbekannte Verzweiflung.
Sie am schreien, mein Vater am Schweigen, die Sätze fliegen mir entgegen wie Handgranaten und weglaufen geht nicht, also lasse ich sie zu meinen Füßen detonieren und hoffe darauf, mit dem Leben davonzukommen.
Und sie schreit und schreit und lässt mich nicht zu Wort kommen, keinen Ton darf ich sagen, eigentlich solle ich noch viel weniger dürfen als nichts, und mit 18 würde ich rausgeworfen, von ihr höchstpersönlich, wenn es mein Vater nicht über sein kleines, kaputtes, eingegangenes Herz bringen sollte.
Keinen Cent Unterstützung werde ich von ihnen bekommen, schreit sie mir entgegen, Kindergeld und die halbe Waisenrente würden ja wohl dicke reichen, würde mir eigentlich auch sowieso beides nicht zustehen.
Lässt mich nicht zu Wort kommen, als ich sie darauf hinweisen möchte, dass ich dafür auch praktisch alles außer Strom und Wasser selbst bezahle und man von dem Geld mit Glück gerade die Kaltmiete für eine Wohnung zusammenbekommt.
Schreit, ich solle in mein Zimmer gehen, sonst würde sie gehen.
Dass ich sie und meinen Vater kaputt mache. Und damit aufhören soll, ich soll mich gefälligst selbst kaputt machen, man habe ja an meiner Mutter gesehen,dass ich das kann.
Wie meine Mutter sei ich, genau so.
Und wieder, entweder ich gehe oder sie geht.
Mein Vater im Hintergrund. Hatte sich hinter ihrer Wut und seinen Akten versteckt und tut es eigentlich immernoch, sieht aber ein, dass er Stellung beziehen muss.
"Geh jetzt in dein Zimmer". Ganz leise sagt er es und mit der Ruhe, die er sonst nur zeigt, wenn wir Dienst haben.
Der Kopf ist frei, doch das Herz ist so schwer, es könnte leicht sein, doch es wird immer mehr
Sehe der Vatersfreundin in die Augen, ohne ein Wort, eine Minute lang, und der blanke Hass starrt zurück und keift wieder, dass ich gehen soll, es würde sonst eskalieren, da ist dieses Vorahnungsgefühl, das man hat, wenn aggressive Familienmitglieder kurz davor sind, handgreiflich zu werden, und ich drehe mich um und gehe, bevor ich ihr die Gelegenheit gegeben hätte, ihre ungewaschenen Hände in mein Gesicht zu schlagen.

Sie schwankt zwischen betont fröhlich und vertontem Hass, beides möglichst so laut, dass ich es mitbekomme.
Da wird im Nebenzimmer ganz laut gelacht, um sich anschließend in der Küche über einen noch nicht in die Spülmaschine geräumten Löffel aufzuregen. Nicht mein "Neger" sei sie, und wenn ich unfähig sein "drinnen zu fressen", solle ich "auf dem Hof fressen, was anderes als fressen macht die ja nicht".
Ich bin mindestens acht Zentimeter größer als die Vatersfreundin und zwei Kilo schwerer.
Wobei man Gefühle ja nicht wiegen kann.

Alles wie Bleigewichte an meinen Füßen, eigentlich zieht schon das Restleben stärker, als es sollte, und so werde ich mal wieder nach unten gezogen, gefühlt geht es diesmal tiefer denn je.
Frage mich wieder, wo mein Kompensationsverhalten hin verschwunden ist, und wieso ich noch halbwegs funktioniere, obwohl es sich anfühlt, als würde ich jeden Moment zerspringen, einfach so.
Es tut weh, mehr denn je, jede Sekunde tut es das und ich übertreibe nicht.
Trotzdem geht es weiter. Die Ferien hindurch, bis jetzt, und auch morgen wird es weitergehen, wenn der Fakt, dass ich vor lauter Kaputtgehen viel zu wenig gelernt habe, sich in der Klausur aus der Hölle rächen wird.

Es wird auch am Samstag weitergehen, wenn ich mit der Nachbarin, dem Solariumfan und diesen fremden Menschen unterwegs bin.
Anfangsabsteigenphase, nur gesteigert und je nachdem, wie ausgeprägt sich meine Schmink- und Schauspielfähigkeiten an diesem Abend zeigen, ohne u18-Bändchen.
Und ohne die alte Sache, seine Schwester, die Feindin, sie und die Anhängsel.
Geht verloren, all das. Ist vielleicht schon verloren gegangen.

Geht alles verloren,inklusive mir, und eigentlich sollte doch alles ganz anders sein, leichter zu ertragen und nicht so kaputtmachend.
Keiner hat mir gesagt, dass es mich so kaputt machen wird.

Aber es hat auch keiner gesagt, dass es leicht wird.
Meine Mutter hat gesagt, ich muss kämpfen. Wir müssten kämpfen, und es war ja so, wir beide gegen den Rest der Welt. Immer wir beide..
Sie gegen mich.
Sie gegen ihn.
Der Rest der Welt gegen sie.
Ich zwischen den Fronten.
Aber immer wir beide gegen den Rest der Welt.
Es gibt niemanden, dem ich eine derartige Verbundenheit entgegenbringe, wie ich es bei meiner Mutter tat, und es gibt nur wenige Personen, die ich ähnlich verabscheute, wie ich sie.

Ich verabscheue die Vatersfreundin.
Ich verabscheue sie für alle Handgranatensätze, die sie auf mich abgeworfen hat und abwirft, verabscheue sie für ihre aufgestauten Aggressionen, ihre Wut, ihren Hass, ihr Reinsteigern, ihr Nichtausredenlassen, ihr Tatsachenverdrehen und vor allem dafür, dass sie es an mir auslässt und auf mich konzentriert.
Die Quasi-Stiefgeschwister hatten, als sie alt genug waren, alle den Kontakt zu ihr abgebrochen, eine von ihnen hat daran bis heute nichts geändert.
Sollte ich so lange durchhalten, werde ich es vermutlich genauso handhaben.

Durchhalten ist wohl das Wort der Stunde, mehr denn je.
Durchhalten und hoffen, dass Amtsgewalten und das Schicksal gleichermaßen auf meiner Seite sind und möglichst auch bleiben.
Durchhalten und vergessen, dass es für mich schon schwierig ist, fremde Menschen nach der Uhrzeit zu fragen, und eigentlich unmöglich, ihnen meine Situation auf den Schreibtisch zu werfen, um Hilfe zu bitten und zu erklären,dass es keine andere Option gibt.
Alleine.
Wie eigentlich fast immer in den schwierigsten Situationen.
Das ist jetzt wohl einer der Momente, in dem ich mir wünsche, die alte Sache, der Kumpel oder irgendeiner dieser (ehemals?) so wichtigen Menschen hätte es ernst gemeint, als er sagte, er sei immer da, egal, was ist.

Vermutlich bin ich noch naiver als gedacht.











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Zitat aus Einfach nicht leicht von Frittenbude




Donnerstag, 5. April 2012

siouxsie and the banshees - passenger von aosonho

Vatersfreundin wieder da, alles wieder beim Alten.
War ja absehbar.
Vom Solariumfan eine Einladung bekommen, die alles ändern kann.
Überraschend.
Mit Kriemhild deswegen gestern Abend gesprochen, Zusage bekommen.
Aufbauend.
Heute ein Anruf von ihr, sie benötige mehere Stunden, um sich zurechtzumachen,folglich müsse sie bereits nachmittags anfangen, um rechtzeitig zur Abfahrt an dem Abend, der alles ändern kann, fertig zu sein. Nee, das ginge ja wohl gar nicht.
War absehbar.
Sie könne aber mal mit ihren Eltern reden, ob die ihrer volljährigen Tochter erlauben würden, sich zwei Stunden früher als im Normalfall zu schminken. Sie wird mich noch zurückrufen, angeblich.
Lächerliche Ausrede. Werde sie wohl selbst anrufen und mir dann ziemlich sicher eine Absage anhören müssen.
Aber war ja vorhersehbar.


Draußen Aprilwetter, im Hause Mayhem immernoch Sturm und Weltuntergang, as usual.
Das Schicksal lässt die Puppen tanzen, aber es ist kein guter Puppenspieler, sondern einer mit Koordinations-, eventuell auch Suchtproblemen und aufgestauten Aggressionen, die das Miststück ausnahmslos an seinen Spielfiguren auszulassen scheint.
Laufe also immernoch orientierungslos über die Bühnenbretter, stolpere manchmal, falle mit schöner Regelmäßigkeit relativ schlimm auf die Fresse und gehe gelegentlich verloren, entweder in der großen Welt da draußen oder in meinem Gedankenmahlstrom.
Vielleicht sollte ich deswegen verzweifeln; oder ich bin es schon längst, ohne es gemerkt zu haben.

Singing...
Aber selbst, wenn es so ist; wenn ich verzweifelt und verloren bin.. sollte es mir etwas machen? Sollte ich resignieren?
Meinem Beinahe-optimismus , meiner vermutlichen Naivität und meiner eventuell vorhandenen Trotzigkeit macht es jedenfalls nichts, und somit bleibe ich weiter davon überzeugt, dass schlussendlich alles gut wird; muss ja .
Und wenn die Welt schon untergeht, oder wenn ich untergehe, sehe ich dabei wenigstens gut aus läuft bei mir wenigstens gute Musik.

Herzlichst,
Frau mayhem.



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Ursprünglich wollte ich nur das Lied posten; statdessen ists ein (pseudo)dramatisch formulierter Weltuntergangs-Livebericht geworden.
Da sieht man mal, was Musik alles bewirken kann.




Samstag, 17. März 2012
Tut mir Leid,dass das Video so lange lädt, außerhalb von myspace war es aber aufgrund der g.ema nicht frei verfügbar.





Heute fiel mir das Foto wieder in die Hände.
Wir sind darauf alle drei abgebildet, Papa Mayhem, du und ich.
Ich trage ein weißes Kleid, in der linken Hand halte ich eine weiße Kerze, in der rechten mein Gebetsbuch.
Das Foto wurde an meiner Kommunion aufgenommen, eigentlich hast du Fotos gemacht, wie du eben immer die Fotos gemacht hast, für dieses Bild wurde die Kamera jemand anderem in die Hand gedrückt und so entstand eines dieser seltenen Zeitdokumente, auf denen wir alle drei zu sehen sind.
Wir haben fast den selben Haarschnitt, du und ich, und beide blonde Strähnchen, weil du das irgendwie so wolltest und ich mich nicht geweigert habe; ich bin jahrelang so rumgelaufen.
Mein Vater lächelt wieder so, als hätte er Zahnschmerzen gehabt, das ist sein Standardgesichtsausdruck auf Fotos, das Zahnschmerzlächeln, und weil es genauso zu ihm gehört wie seine Traditionsverbundenheit, trägt er Trachtenanzug, aber ohne Lederhose.
Du hast dich in ein Vorhangoberteil geworfen, ich musste wähend der Familienfeierhälfte des Tages auch so ein Vorhangoberteil tragen, nur war meines schwarz-rot und deines beige; und eine schwarze Hose hattest du an, schwarz macht schlank, das hast du mir immer erklärt.

Mir ist erst heute aufgefallen,dass dein Verfall sogar schon auf diesem Bild nach außen sichtbar war.
Die teigige Haut, das aufgedunsene Gesicht, lange nicht so schlimm, wie am Ende, aber sichtbar.
Gelb bist du auf dem Foto allerdings noch nicht, gelb wurdest du erst, als es aufs Ende zuging, in den letzten 2 Wochen, deinen letzten 2 Wochen, in denen so viel bergab ging und ich einfach nicht mehr konnte, aber trotzdem weitergemacht habe, egal,was dir wieder eingefallen ist. Egal, ob du wieder nur einen Apfel und eine Salzstange gegessen hattest und Stolz darauf warst, egal, ob da Blut dabei war, wenn du mich angespuckt hast, und egal, ob du ausgerastet bist oder nur in deinem Bett lagst.
Auf dem Foto, da sieht man das nicht.
Da sieht man auch nicht, dass mein Vater zu der Zeit kaum noch daheim war, weil er nie gelernt hat, wie man damit umgeht, wenn man Probleme empfindet, sondern nur,dass man arbeiten muss, und er sich deshalb in seine Arbeit geflüchtet hat.
Man sieht, dass es bei euch nicht mehr so gut gelaufen ist. Ich sehe es.
Ich sehe es an der Art, wie ihr beide dasteht, auch, wie ihr schaut. Außenstehende würden es nur bei sehr genauer Betrachtung bemerken, wenn überhaupt. Wir waren gut darin, heile Welt zu spielen. Schauspielerfamilie, obwohl mein Vater Arbeiter ist.

Deine Mutter hat auch viel getrunken, als du jung warst, und dein Vater noch mehr, hast du mal erzählt und steht in deinem Tagebuch. Dein Tagebuch,das ich nicht lesen wollte und er nicht lesen sollte, ich habe damals angefangen, zu weinen,als er es auf dem Dachboden gefunden und beschlossen hat, es zu lesen.
Er hat es nicht komplett gelesen, und so weiß er zwar, dass du ihm mehr als die paar Male, bei denen er es mitbekommen hat, untreu warst, aber nicht, wie sehr du unter deiner Mutter gelitten hast.
Dass du geschrieben hast, eine bessere werden zu wollen als sie.
Dass sie früher auch viel getrunken haben, deine Eltern. Sie haben dann damit aufgehört, du hast irgendwann damit angefangen und nicht mehr aufgehört.
Erst über die Freundin meines Vaters habe ich erfahren,dass du schon so viel getrunken hast, als du ihn kennenlerntest. Damals warst du 17, nur ein paar Monate jünger als ich jetzt, und er war 23.
Ich versuche manchmal, mir das vorzustellen, und es geht sogar ziemlich gut; die Spelunke, in der ihr euch kennengelernt habt, kenne auch ich, es gibt sie heute noch. Und mein Vater ist immernoch schüchtern bis unfähig, was Zwischenmenschliches betrifft, ich sehe es bildlich vor mir, wie er dich,wenn du nicht hingeschaut hast, beobachtet hat und sich wünschte, dich irgendwie ansprechen zu können.
Es hat wohl doch irgendwie geklappt, eure zwei Freundeskreise sind ins Gespräch gekommen und ihr dann irgendwie auch, und er muss so wahnsinnig hin und weg von dir gewesen sein, du hast es selbst dann nicht so sehr gemerkt, als du niedergeschrieben hast, wie es war; hast ihn ja damals noch nicht so gut gekannt. Ich schon, und ich konnte zwischen jeder deiner Zeilen herauslesen, dass er verliebt war.

Mein Vater hat dich nie betrogen. Du hast ihm gerne vorgeworfen, er würde es tun; entweder mit dem Flittchen, das auch ein Alkoholproblem hatte und außerdem noch Magersucht, oder mit der grundsoliden Dorfmenschin, die an Liebesdingen in etwa so viel Interesse hatte wie ich an Differenzialrechnung.
Papa Mayhem war treu, immer. Auch, als es so sehr bergab mit dir ging,dass er sich überwinden musste, überhaupt nach Hause zu kommen.
Wenn er doch mal erzählt,dann nur, dass die ersten sieben Ehejahre lang alles perfekt war,so perfekt, wie es eben nur sein konnte; dass du ihn auch damals schon betrogen hast, verdrängt er oder er weiß es bis heute nicht, es steht nur teilweise im Tagebuch, das Meiste hast du mir erzählt.
Überhaupt hast du mir viel erzählt, egal, ob ein Durschnittskind das verarbeiten kann oder nicht.
Aber du hast mir nicht erzählt, dass du ihn auch noch betrogen hast, als ich schon da war.
Und dass der Alkohol und du, dass ihr ein Problem miteinander hattet und es schon existierte, seit du so alt warst wie ich jetzt.

Das alles sieht man auf dem Foto nicht, nur der Verfall ist schon da, im Vergleich zu dem,was noch kam, ein leichter Schatten, ein Schleier, der sich über dich gelegt hat. Und mein Vater steht auf meiner anderen Seite, noch ohne graue Haare, und lächelt sein Zahnschmerzlächeln.
Sie haben immer gesagt, ich sähe aus wie du. Die großen Augen, und der Mund, und überhaupt.
Auf dem Foto siehst du aus wie dein Vater.
Dein Gesicht ist genauso rund wie seines, und die Mimikfalten sitzen an den selben Stellen. Deine Augen wirken auch gar nicht groß, eher schmal und schlitzförmig, und gerötete Wangen hast du nur,weil du sie dir vorher ins Gesicht geschminkt hattest, genau so wie den roten Mund und die dichten Wimpern.
Mein Gesicht ist ein bisschen schmaler als deines,und eher eckig. Und die blonden Strähnen, die wir auf dem Foto beide tragen, sind bei mir gelblicher, weil ich dunklere Haare hatte als du,nicht dein mittelblond, sondern das aschbraun meines Vaters.
Ich lächle auch ein Zahnschmerzlächeln auf dem Foto, so wie er. Meines ist ein bisschen geöffneter, und man kann es viel klarer als unecht erkennen als seines. Ich hatte ja auch weniger Übung, außerdem war mir aufgrund der Umstände und Geschehnisse des Tages eigentlich eher nach Weinen zumute, aber ich habe nicht geweint, weil du immer gesagt hast, ich soll nicht rumheulen, das sei doch scheiße.

Im August bist du seit fünf Jahren tot.
Ich habe erst jetzt wieder angefangen, rumzuheulen,wenn ich das Gefühl habe, rumheulen zu müssen.
Mein Vater bezeichnet es wahlweise als scheiße, so wie du es auch nanntest, oder als Showeinlage.
Ich schiebe es darauf,dass er nicht daran gewöhnt ist, dass seine Tochter weint, und es nicht versteht, dass man Menschen auch mit Worten verletzen kann.
Er hat ja gelernt, dass das nicht stimmt und nicht geht,
was wehtut, sind Schläge, sonst nichts, und die hat man immer verdient.

Trotzdem warst du es, die ihr Kind geschlagen hat, nicht er.
Ich kann an einer Hand abzählen, wann er es war, und ich benötige nicht einmal alle Finger dafür.
Vielleicht deswegen, weil er immer weg war.
Wahrscheinlich wäre vieles anders gelaufen,wenn er dageblieben wäre, wenn er da gewesen wäre.
Aber wie hätte er das machen sollen, "da sein", er hat es ja nie gelernt.
War ein "naja, jetzt isser halt da"-Kind, und hätte er weinen dürfen, hätte Papa Mayhem viel geweint,als Kind. Später auch.
So durfte er es nicht, und jetzt ist Papa Mayhem kein Kind mehr, sondern eben Papa Mayhem, und das,was früher alles war, ist der Grundstock.

Der Grundstock, der seine Realität bestimmt, und der dafür gesorgt hat, dass vom eigentlichen Papa Mayhem beinahe nichts mehr übrig ist.

Den sieht man im Foto auch nur schwach, den eigentlichen Papa Mayhem, der mir nicht einmal so unähnlich war, wie uns immer vorgeworfen wird.
Der eigentliche Papa Mayhem wurde nur gelegentlich sichtbar, und diese Momente waren selten und sind jetzt noch seltener.
Aber der eigentliche Papa Mayhem, der hat Probleme mit zwischenmenschlichen Angelegenheiten. Auch,wenn er Liebesdinge wohl minimal besser hinbekommt als ich.
Der eigentliche Papa Mayhem, der hat Angst, zu versagen, und er lässt die paar Freunde, die er hat, nicht los,wenn sie Probleme haben. Und wenn es ihn mit in den Schlamm zieht, er holt sie da wieder raus.
Der eigentliche Papa Mayhem, der hat manchmal spontan seltsame Einfälle, dann setzt er sich und eine Person, die er mag, in sein Auto und fährt einfach los.
Ich sitze schon lange nicht mehr daneben.
Denn der jetzige Papa Mayhem, der hat mich genauso aufgegeben wie ich ihn; als Notwendigkeit, die ich aber nicht wahrhaben will.
Vielleicht fällt es dem eigentlichen Papa Mayhem auch schwer, zu akzeptieren,dass wir so unterschiedlich geworden sind, dass Zusammenleben nicht mehr möglich ist; der jetzige Papa Mayhem nimmt das als Fakt hin und streut Salz in die Wunden, wenn er weiß,dass es mir gerade wehtut.

Der eigentliche Papa Mayhem wird genauso von Kindheitstraumata gefesselt, wie es bei meiner Mutter der Fall war. Meine versuchen ja auch, mich zu kriegen, und vielleicht haben sie das sogar geschafft.

Das alles sieht man auf dem Foto nicht, wenn man es sich ansieht.
Man weiß es auch nicht,wenn man uns kennt. Wir waren eine Schauspielerfamilie ohne Schauspieler.
Vielleicht weiß es die Vatersfreundin, er scheint mit ihr darüber zu reden.
Und Sie wissen es, wenn Sie diesen Blog lesen.
Aber Sie würden es nicht sehen,wenn Sie das Bild vor sich hätten.
Sie würden es anstarren, ungläubig, und sich fragen, wie der Mann in der Trachtenjacke, das Mädchen,das auf dem Foto aussieht wie ein Junge, und die Frau im Vorhangoberteil so lange Zeit eine so kaputte Familie sein konnten, ohne völlig zu kollabieren.
Ich würde Ihnen sagen, wir sind kollabiert. Alle.
Ich hatte keinen Halt mehr, sie auch nicht, und er dachte nur, er hätte welchen. Keiner von uns wusste weiter.
Keiner von uns wusste, wofür er morgens aufstand, und unter Garantie wollte jeder von uns zwischendurch mindestens einmal einfach aufhören, zu existieren.
Wir konnten nicht mehr. Keiner von uns.
Aber wir haben weitergemacht, wir drei. Egal, was war.
Jetzt machen wir weiter, wir zwei.Jeder für sich.
Er macht jetzt weiter, mit der Vatersfreundin an seiner Seite.
ich mache weiter, ich alleine.
Auf dem Foto sieht man nicht, was passieren sollte.
Wir hätten es ahnen können, ich habe es gespürt, aber was hätte ich machen sollen. Nichts geschah.
Die Welt ging unter und drehte sich einfach weiter.
Wir machten einfach weiter.
So, wie jetzt auch. Egal, was passiert, du musst weiteratmen.
Mein Vater würde sagen, du musst einfach machen.
Einfach weitermachen.
Wir machen weiter.
Jeder für sich.




Freitag, 2. März 2012
Als sie meine ehemalige Klassenkameradin beerdigt haben, war es Winter.
Es war furchtbar kalt, nach spätestens 20 Minuten spürte ich meine Füße in den Billigchucks nicht mehr, und es waren so viele Leute gekommen, dass die kleine Dorfkirche heillos überfüllt war und wir draußen , vor der Tür, in einer langen Schlange standen, die vom Eingangsportal aus fast quer über den ganzen Friedhof ging; vom Gottesdienst habe ich nichts mitbekommen, ich befand mich 80m vom Seiteneingang entfernt, aber ich war da, um ihr eine letzte Ehre zu erweisen, so, wie diese unglaublich vielen anderen Menschen auch.
Sie war nie beliebt.
In der Grundschule waren die anderen gemein zu ihr, weil sie seltsam aussah und Pickel hatte, und ich redete nicht mit ihr, weil sie ein schwieriger Mensch war, das,was man gerne als "zickig" abhakt, und ich kann selbst sehr stur sein, wenn ich es denn schaffe, mit anderen Menschen zu reden.
Dann, dann kam der Krebs, und sie war weg, über eineinhalb Jahre, ich glaube, länger, vom Ende der ersten Klasse bis Anfang der Vierten, und als sie wiederkam, da hatte sie eine Frau dabei, Pädagogin vermutlich, die uns erklärt hat, was Krebs ist, und ab da wussten wir, meine Klassenkameradin, die hatte Krebs gehabt.
Das war damals eine sehr abstrakte Sache, ich konnte mir nicht so recht etwas darunter vorstellen, auch nicht nach einem Zeichentrickfilm über ein Mädchen, das auf einmal Leukämie hat.
Meine Klassenkameradin, ich weiß nicht,welchen Krebs sie hatte, aber er kam zweimal zurück, das haben sie auf einer Elternversammlung gesagt, und weil meine Mutter, die damals noch lebte, sich zur Abwechslung dorthin begeben hatte, erfuhr ich es auch, als der Krebs wiederkam.
Danach länger nichts, ich ans Gymnasium, die Klassenkameradin an die Hauptschule, und nach 3 Jahren sah ich sie wieder, als ich meinen Dienst in der Bücherrei antreten wollte und sie auf einmal da war.
Ganz kurze Haare hatte sie, mit einem Kopftuch drauf, sah anders aus als früher und wie ein Krebskind. Ich glaube, da habe ich angefangen, zu begreifen,was das ist, Krebs.
Ich habe mich dann mit ihr unterhalten, weil ich in der Zwischenzeit gelernt hatte, ein wenig besser mit schwierigen Menschen klarzukommen und sie umgänglicher geworden ist, und wie es so meine Art ist, habe ich sie auf ein Konzert eingeladen, keins in der Absteige, sondern ein Schulkonzert.
Am Anfang fand sie das seltsam, den Unterstufenchor und deren Auftritt in Affenkostümen (Das Thema war "fremde Länder"), doch dann kam der Chor der "Großen" und sie war hellauf begeistert, sehe es heute noch vor mir, ihre leuchtenden Augen und wie sie sich gefreut hat. Ihre Freude, bei dem Konzert, das ist eine der intensivsten Erinnerungen aus dieser Zeit, die ich habe.
Auf der Heimfahrt, da habe ich ihr gesagt, dass wir das öfter machen können, zusammen irgendwo hingehen, oder uns einfach so mal treffen und Musikhören, und ihre Mutter fand das toll und sie auch, wir hatten dann noch ein paar Bücherreidienste zusammen und auch,wenn sie immernoch schwierig war und eigentlich nicht mit mir auf einer Wellenlänge haben wir uns verstanden, weil ich mich sehr zurückgehalten und manche Gesprächsthemen geschickt umschifft habe.
Dann war Funkstille eine Zeit lang, ich dachte, sie sei im Stress, sie hatte vorgehabt, an die Realschule zu wechseln,
und dann war da die Todesanzeige.
Mein Vater hat mir gesagt, dass sie gestorben ist, kein halbes Jahr nach dem Konzert, weil der Krebs zum dritten Mal wiederkam und ihr kleiner, ausgezehrter Körper nicht mehr die Kraft gehabt hatte, ihn zu bekämpfen.
Ich habe mich bis kurz davor gefragt, ob ich zur Beerdigung gehen soll, mein Vater hatte einen anderen Termin, auf den letzten Drücker fand ich eine Fahrgemeinschaft und so waren wir da, als sie beerdigt wurde, nicht auf unserem Dorffriedhof, sondern wo anders, wo die Kirche abseits lag, mitten im Wald, meine Fahrgemeinschaft war sehr außer Atem, als wir uns den Berg fertig hochgequält hatten und legte erstmal eine Pause ein.
Dann reihten wir uns in der Schlange vor ihrem Sarg ein, richtig anstehen musste man da, und ich fand das so unglaublich, dass da so viele Leute waren, all die, die die Mutter der Klassenkameradin angefeindet hatten und all die, die über die Klassenkameradin schlecht geredet hatten, waren da und klagten anderen ihren angeblichen Schmerz über den Todesfall, und auf einmal war jeder der beste Freund der Klassenkameradin gewesen, als sie noch lebte.
Ich stand vor ihrem verschlossenen Sarg und starrte ihn an, wie ich all die anderen Särge angestarrt hatte und versuchte vergeblich, mir begreiflich zu machen,dass sie da tot drinlag.
Und überhaupt,dass sie tot war...
Von der Zeremonie hielt ich nichts, die geheuchelte Trauer, der Pfarrer mit seiner übertriebenen und emotionslosen Rede,ja, ichgebe es zu, auch das lange Rumstehen in der Kälte bewogen mich, ihr die letzte Ehre zu erweisen und danach wieder zum Auto zu gehen, mich auf einem Baumstamm davor niederzulassen und auf die Fahrgemeinschaft zu warten.
Auch in dieser Wartezeit versuchte ich vergeblich, es zu realisieren. Bei meiner Mutter hatte ich es realisiert, die hatte ich gefunden; bei der Mutter meines Vaters, die hatte ich gesehen; aber bei der Klassenkameradin war es wie beim Vater meiner Mutter, ich stand vor diesem Holzkasten und darin sollte ein Mensch liegen und einfach nicht mehr sein, und mein Gehirn weigerte sich, diesen Fakt zu realisieren.

Sie ist einen Monat vor ihrem Geburtstag gestorben, das stand auf dem Sterbebildchen, das ich mitnahm und zu den vielen anderen in mein Gesangbuch steckte. Auf dem Bild lächelt sie, und sie sieht jünger aus. Die Fahrgemeinschaft meinte, sorgenfrei schaut sie da. Schaut sie aber nicht. Man sieht schon auf dem Foto, was der Krebs gemacht hat, und was er noch vorhatte, und ich glaube, da habe ich dann angefangen, richtig zu verstehen,was Krebs ist.

Maximal ein Jahr später ist ihr Bauernhof abgebrannt.
Die Eltern der Klassenkameradin hatten einen Bauernhof gehabt,schon länger, bevor sie zur Welt kam schon; sie war so lange ein Wunschkind, und als sie dann da war, durfte sie nicht lange bleiben, und dann ist der Hof abgebrannt, fast komplett, und ihre sowieso ärmere Familie hatte nichts mehr. Gar nichts.
Damals wurde Geld gesammelt, Dorfgemeinschaft kann doch manchmal "Gemeinschaft" sein, jeder spendete, die, die der Familie helfen wollten, gaben was, und und die, die ihr schlechtes Gewissen, das sie wegen ihrem vorherigen Verhalten der unbeliebten Famile gegenüber hatten, erleichtern wollten, gaben noch mehr.

Heute kam sie mir wieder in den Sinn, die Klassenkameradin, als ich aus dem Busfenster sah und an das bevorstehende Schulkonzert dachte;
und ich sah sie wieder vor mir, sie und ihr Klatschen und ihre leuchtenden Augen, als der Chor sang und es noch so aussah, als hätte sie es geschafft;
und wie wir alle auf dem Friedhof standen, ihre Mutter muss sprachlos gewesen sein, weil so viele Leute da waren.
Ich weiß gar nicht, was sie jetzt macht, ihre Mutter, und wie es ihr und dem Vater der Klassenkameradin geht, ohne Kind und ohne Lebensgrundlage. Inzwischen ist es auch zwei Jahre her, oder sogar schon drei, ich habe doch so ein schlechtes Zeitgefühl, und ich frage mich,wer der Beerdigungsbesucher in dieser Zeit mal das Grab besucht hat oder es immernoch tut.
Ich war nicht dort, der Nachbarort, in dem sie begraben liegt, ist zu Fuß sehr schlecht zu erreichen und 10km sind per Auto einfach viel angenehmer.
Ich habe ja sogar Ewigkeiten gebraucht, bis ich meine eigene Mutter auf dem Friedhof besucht habe, und selbst das tue ich nur äußerst selten.
Vielleicht bin ich ein schlechter Mensch deswegen, würde ich beten und richtig an Gott glauben, könnte ich die Klassenkameradin wenigstens in mein Gebet einschließen.
Eventuell laufe ich demnächst mal wieder zur Waldkapelle zwischen den Dörfern und zünde ihr eine Kerze an.
Man muss nicht gläubig sein, um an jemanden denken und ihm eine Kerze anzünden zu dürfen, und ich hoffe , dass mir die Klassenkameradin nicht böse ist,wenn ich trotz Nichtgläubigkeit an sie denke und für sie eine Kerze dort lasse.




Sonntag, 8. Januar 2012
Ich weiß nicht, wie lange es noch so ist.
Es wird schlimmer mit der Zeit, wissen Sie?
Nach meiner Mutter hatte ich ein genaues Bild vom menschlichen Verfall, er hatte gelbe Zähne und ein aufgeblähtes Gesicht und roch nach Alkohol und Dingen, die man nicht riechen will, vor allem nicht bei Menschen, die einem lieb sind.

Aber es gibt noch einen anderen menschlichen Verfall, die Art von Verfall, die debil grinsend den Nebel über einem Gehirn ausbreitet wie eine schwarze, schwere Decke, und die Person, deren Gehirn vom Verfall vernebelt wird, die grinst dann auch so,manchmal, und manchmal wirkt sie verwirrt und vernebelt.
Beide Arten des Verfalls haben gemeinsam, dass ich nichts gegen sie machen kann, auch wenn ich hingehen und den einen Verfall ins Gesicht schlagen will und ihm sagen will, lass meinen Großvater in Ruhe und verzieh dich. Wäre der Verfall eine Person, mit der man reden kann, würde er mich auslachen, aber vielleicht könnte ich ja mit ihm diskutieren und ihn davon überzeugen,dass ich Opa Mayhem zurückbekomme.
Leider lässt der Verfall nicht mit sich reden, und so geht es jeden Tag ein Stück weiter.
Und jeden Tag verspreche ich bei jeder der zehn Nachfragen, dass ich kontrollieren werde, ob die Haustür abgeschlossen ist; ob das Fenster im Schlafzimmer meines Vaters geschlossen und der Rolladen heruntergelassen ist; nochmal ob alle Türen zu sind; ob der Keller auch abgschlossen ist.
Höre mir an,was er erzählt, immer wieder das selbe,maximal mit wechselnden Tagesthemen; und versuche einfach, etwaigen Besuch bestmöglich von ihm fernzuhalten, weil ich nicht will, dass er sich belästigt fühlt oder schlimmer, Großvater Mayhem auslacht.
Wer meinen Großvater auslacht, bekommt es mit mir zu tun, hörst du.

Heute war er wieder da und ist länger als sonst geblieben, bevor er wieder abgezogen ist; es war nämlich die Nachbarin da,und so hat er ihr erzählt, was er immer erzählt, von früher, als er zur Arbeit gelaufen ist, von den Frankreichurlauben; von Stationen seiner Kriegsgefangenschaft. Sie sitzt so da und schaut ihn an, handelt nach dem "Nicken&Lächeln"-Schema und weil er so schlecht hört, kann sie zwischendurch zu mir sagen,dass sie das komisch findet, aber irgendwie lustig.
Ich finde es leider nicht lustig und irgendwas schnürt mir die Luft ab, und ich kann mir das nicht länger ansehen und drehe mich weg und sehe, dass die andere Person im iseekyou geschrieben hat und versuche, mich darauf zu konzentrieren, und wenn es nur um Aldi Süd und Aldi Nord geht, Hauptsache, mein Gehirn ist abgelenkt.
Muss trotzdem immer wieder rüberschauen zu ihm, wie er so dasteht und voll und ganz aufgeht in seiner Unterhaltung, weil die Nachbarin richtig handelt: Auf Fragen einfach nicht antworten, er unterbricht einen sowieso und will eigentlich gar nichts hören; lieber so tun,als würde man zu einer Antwort ansetzen und ihn dann weiterreden lassen.
Ich erkenn dich nicht wieder..
Es war doch anders. Es war doch mal anders, eigentlich die ganze Zeit.
Erst jetzt..so extrem, einfach so. Macht er sowas.
Und ich habe Angst vor dem Tag, an dem es zu viel wird; habe mich daran gewöhnt, mit dem Namen meiner Cousinen oder meiner Tante angesprochen zu werden und manchmal sogar mit dem meines Vaters; aber ich habe mich nicht daran gewöhnt,dass der Verfall die Nebeldecke über das Gehirn meines Großvaters geworfen hat und sie da nicht wieder wegräumen will.
Daran will ich mich auch nicht gewöhnen, weil ich es nicht akzeptieren will und vielleicht auch nicht akzeptieren kann.
Wie er vor sich hin verkindlicht und verwirrt wird und vereinsamt, der Nachbarin und dem Postboten vorbrabbelt, was ihm einfällt und mir und jedem,dem er begegnet; es unmöglich macht,pünktlich das Haus zu verlassen, weil er einen in Unterhaltungen festnagelt; auf seine Fragen keine Antwort hören möchte, aber irgendwie auch eine voraussetzt und ich weiß einfach nicht, wie ich mich noch verhalten soll.
Und als er wieder weg ist, da fängt die Nachbarin laut an, zu lachen, sie findet es ja so lustig, den verwirrten kleinen alten Mann.
Ich sehe sie an und mir ist eher nach Heulen zu Mute, und ich überlege, ob ich ihr das sage, aber dann erinnere mich an die Male, als ich versucht habe, ihr Emotionales zu erklären; da lasse ich es lieber.
Sage ihr nur,dass es nicht lustig ist. Ganz und gar nicht.
Schlucke, fahre mir kurz über die Augen und vertreibe die Katze vom Altpapier.
Sie sagt, sie versteht mich nicht. Wäre doch lustig. Vielleicht nervig,wenn man es jeden Tag hört, aber sonst sei es doch lustig.
Es ist nicht lustig, wiederhole ich mich.

Es ist nicht lustig und wird auch nie lustig sein; die Momente, in denen es lustig wirkt, in denen Lachen wir nur,um nicht zu Weinen.
Mein Vater, der seinen Vater verloren hat und mit einem Mal auf zwei Kinder achten muss, von denen sein eigentliches immer öfter das erwachsenere ist;
Die Vatersfreundin, die sich einfach nur genervt fühlt und betont, was für eine große Last man ihr mit mir und Großvater Mayhem aufgeladen hat.
Und ich.
Ich finde es nicht lustig.
Und solange der Verfall die Nebeldecke nicht komplett ausbreiten konnte, werde ich weiter jeden Tag versprechen,zehnmal die Türen zu kontrollieren; erzählen, wo ich hingehe, mit wem,was ich dort mache und wann ich wiederkomme, unterbrochen von Einwürfen mit Informationen zu seiner Tagesgestaltung; werde nicht mehr zusammenzucken,wenn hinter mir die Tür sofort abgeschlossen wird,sobald ich das Haus verlassen habe; werde geduldig zuhören, wenn er aufsagt, was er mir gerade erzählen will.
Und wenn es weitergeht, mit dem Verfall, dann werde ich mich wohl auch daran gewöhnen,öfter mit dem falschen Namen angesprochen zu werden;
Und in jedem Fall werde ich jedem, der ihn auslacht, einen mindestens verbalen Faustschlag verpassen.
Egal, ob er nervt, aggressiv macht, Zeit stiehlt, Nerven raubt und Herzen strapaziert;
Verwandschaft,meine Verwandschaft wird nicht ohne meine Genehmigung ausgelacht oder beleidigt.
Und niemand bekommt die Genehmigung, meinen Großvater auszulachen oder zu beleidigen. Egal,was passiert.

Warum meine Augen so rot sind, will die Nachbarin wissen, als ich mich wieder zu ihr drehe.
Wimper. Da war eine Wimper in meinem Auge, die ich rausgewischt habe, sage ich ihr und denke, das wird sie mir niemals glauben,eigentlich müsste sie es schließlich hören... Hört sie aber nicht, und nach ein paar weiteren Atemzügen habe ich meine Fassung wieder.
Türkis. Deine Augen sind türkis, sagt die Nachbarin und schaut mich genauer an. Dein Opa hat auch türkise Augen, sagt sie. Nur dass meine jetzt grüner aussähen, weil der Rest wegen der Wimper so verheult-gerötet sei.
Aber sonst wären sie denen meines Großvaters gleich, nur unruhiger gemustert.
Ich stehe auf und verlasse den Raum.