Mittwoch, 12. Oktober 2011
Heute durch ein riesiggroßes Universitätsgebäude und von Vortrag zu Vortrag geeilt, an beängstigend großen Menschenmassen vorbeigequetscht, um auch noch einen Flyer zu bekommen und jetzt general-erleuchtet heimgekehrt.


Heute morgen, nach vier Stunden Schlaf, sind wir losgefahren; wir, das waren die aktuelle Zukunftsabiturientenansammlung unserer Schule und ein paar Abiturienten; losgefahren sind wir zu einer der größeren Unis in der "Nähe", in der im Rahmen eines aktuellen Hochschultages alle möglichen und unmöglichen Unis, FHs und sonstige Brutstätten der Intelligenz in Form von ein paar Professoren und mehr oder weniger motivierten (ehemaligen) Studenten vertreten waren.
Außerdem Berufsberatung, zu der wir nicht hindurften, die Agentur für Arbeit, zu der wir nicht hindurften und ein paar Infostände für den Berufseinstieg ohne Studium nach dem Abitur, zu denen wir nicht hindurften.
Derart eingeschränkt fand man mich hochkonzentriert guckend durch die Gegend laufen, in der einen Hand den Infoflyer für Lebensmittelchemie, in der anderen den für Soziologie, und eher früher als später hatte ich zwar keine Gratiskulis abgestaubt wie andere aus meinem Jahrgang, dafür war aber mein Vorsatz, verrückte Wissenschaftlerin zu werden, stark ins Wanken geraten und wurde beinahe endgültig zu Boden geworfen, als ich in der Ausstellung der Hochschule für bildende Künste so viele Fotographien sah, bei denen ich mir dachte, hey, das kann ich mindestens genauso gut. Die Dame drückte mir auch automatisch einen Flyer in die Hand und ihre Visitenkarte, ich solle mich für ein persönliches Beratungsgespräch melden, jederzeit. Bei anderen tat sie das nicht. Anscheinend strahle ich etwas kreatives aus.
Das Wunschdenken war wieder da, und bei aller Liebe zur Chemie, eigentlich ist doch alles, was ich will, schreiben,schauspielern,bisschen fotographieren und Musik machen.
Kann ja sonst auch nix.

Trotzdem sammelte ich auch Flyer zu vernünftigeren Themen , früher oder später stets gefolgt vom ehemaligen Problem, das mehr als einmal gleichzeitig mit mir an einem Stand war und in die selbe Richtung griff, nur mit dem Unterschied, dass er nach Physik angelte, wenn ich jemandem den letzten Chemieflyer vor der Nase wegschnappte, und er mit ernstem Gesichtsausdruck minutenlang auf die zum Thema Kunst starrte, um dann traurig guckend ohne einen wegzugehen, während ich Slawistik und Musikwissenschaft einsammelte.
Überhaupt liefen wir uns viel zu oft über den Weg, wir saßen praktisch immer in den selben Infoveranstaltungen, wir besuchten die selben Stände und mir ist außer mir niemand begegnet, der derartig gegensätzliche Studieninteressen hat wie ich. Mit Ausnahme von ihm.
Würde ich toll finden, hätte ich nicht beschlossen,dass ich mit ihm abgeschlossen habe.
So war ich überrascht, ihn so oft in meiner Nähe zu sehen,verwundert, weil er mich so oft ansah, und ein bisschen melancholisch, weil es sein 18.Geburtstag war und ich mich noch an damals, an seinen 13., erinnere.

Trotz allem behielt ich meine äußere Fassung erstaunlich gut, war zwar alleine unterwegs, dafür aber auch frei in meiner Entscheidung bezüglich der nächsten zu besuchenden Stände/Vorträge, und alles hätte ereignislos-ruhig bis normal enden können, wäre ich nicht an diesem einen Infostand vorbeigelaufen.
Der für die Berufseinsteiger.
Nicht der von der Bundeswehr, aus deren Slogan "Studieren mit Gehalt" vom ehemaligen Problem ein abfälliges "Studieren mit Gewalt" gemacht wurde, nein.
Der andere.
Der, hinter dessen Tresen nicht nur ein normaler Anzugmensch stand, sondern auch der Fremde.
Er trug wieder ein schwarzes Hemd, diesmal allerdings auch Krawatte, und obwohl die Realität wohl anders aussah,ergänzte mein Gehirn die ausgeblichene Jeans vom letzten Mal dazu. Anzugjacke war auch dabei, very formal, nur mit dem Unterschied, dass er aussah, als wäre er viel lieber bei der Fotoausstellung gewesen als hier und hätte geschätzt fünf Nächte durchgemacht.
Als sich unsere Blicke trafen, wirkten die Wolfsaugen im Kontrast zu den Augenringen und verwuschelten Haaren erstaunlich wach und kurz überlegte ich, hinzugehen, aber was hätte ich denn sagen sollen, hey, der weibliche Kumpel macht sich Sorgen um dich, ich mir jetzt auch, und ich will dir helfen weil es sich anfühlt als wärst du genauso kaputt wie ich ?
Kam sowieso nicht dazu, so schnell, wie er mich angesehen hatte, sah er auch schon wieder weg, ein Mädchen Modell Indiekid mit Möchtegernduttknödel mitten auf dem Kopf wurde ihm von seinem Kollegen zugeschoben und er war somit beschäftigt.

Bestimmt würde er, wenn er endlich nachhause kann, während der Autofahrt laut auf uns Kinderchen fluchen, wie wir da rumliefen und entweder dumme Kommentare abgaben oder dumm waren, dachte ich mir und machte mich auf zum Vortrag über Betriebswirtschaft, wo mich eine Mitkollegiatin sichtete und in einem Gespräch festnagelte, sodass es kein Entrinnen gab und wir auch wieder zusammen den Saal verließen.

"Ey, bevor wir losmüssen, will ich noch zu wem Hi sagen,ok?" Ohne meine Antwort abzuwarten, wurde ich von der Mitschülerin an der Hand gepackt und losgezerrt, und so sagten wir Hallo zu den Leuten am Bundeswehrstand, zu den Leuten am Stand der lokalen Uni und ganz zuletzt, als wir schon seit 7 Minuten im Bus gen Heimat hätten sitzen sollen, steuerte sie den Stand des Fremden und seines Kollegen an, umarmte letzteren und ließ mich mehr oder weniger sinnlos rumstehen, während sie sich lautstark unterhielt.
Offenen Haaren und Seitenscheitel sei dank konnte ich relativ unauffällig nach dem Fremden schielen, der schweigend in die Leere blickend am Tresen lehnte und auf die Apokalypse zu warten schien, die, seinem Blick nach zu urteilen, eintraf, als die Mitschülerin auf ihn zuwirbelte und auch ihn in die Arme schloss. Dank Absätzen war sie ein gutes Stück größer als er und fast wäre er in ihrem Ausschnitt gelandet, hätte er sie nicht gerade noch abwehren können.
Es folgte Smalltalk, ich warf ein "hey, wir müssen LOS!" ein, sie redete weiter, schließlich warf der Fremde ein "Ey, deine Freundin sagt, ihr müsst los" ein und als auch sein Kollege mich wiederholte, löste sie sich endlich von ihrem Opfer und wir rannten 4 Stockwerte und 250m zum Bus, der gerade losfahren wollte und in dem pubertärer Idiot Nr.1 meinen Platz belegt hatte. Super.Grmpf.
Mir blieb also die Wahl zwischen dem freien Platz nebem dem Genie, dem pubertären Idiot Nr.2 oder..."Maaaaayheeeeeeeeem, du kannst zu mir!" Die Mitschülerin hatte einen Doppelplatz erkämpft, wie auch immer sie das geschafft hatte.
Seufzend ließ ich mich auf den Platz neben ihr fallen und hatte eigentlich vor, die Zeit mit möglichst lauter, möglichst abschreckender Musik zu verbringen, bis mir der Kumpel mit der weiblichen Seite einfiel, der sich Sorgen macht und nicht weiß, was mit dem Fremden los ist.
Gedankliches Seufzen, Helfersyndrom vs.me : eins zu null.
"Sag mal, Mitschülerin, woher kennst du eigentlich den Kerl vom Bank-Infostand? Also, den kleinen."
-"Den mit den Hammeraugen meinst du?"
"Ja."
-"Och, der. " Sie überlegte kurz. "Eigentlich ja über meinen älteren Cousin, also den,der verheiratet ist.Wieso?" Breites Grinsen ihrerseits.
Für eine effektive, weil ehrliche Informationsbeschaffung wäre es vermutlich nervig, aber einfach, ihr das zu geben, was sie erwartete.
"Naja. Du kennst doch B. aus meinem Chemiekurs, oder? Mit der bin ich vorhin bei ihm vorbeigelaufen, und die hats total erwischt...und du weißt ja, wie ich bin, dachte, ich könnt ihr eventuell helfen, zumindest mal mitm Namen." Anmerkung: besagte B. existiert nicht, aber das ist der Vorteil, wenn man sich in Kurse eingewählt hat, in die sowieso niemand freiwillig geht. Die Mitschülerin tat nämlich, wie erwartet, als wüsste sie, um wen es geht, und dank meines unendlichen Schauspieltalents fühlte sie sich jetzt wie die Mitwisserin eines großen Geheimnisses.
- "Achso, die B." Noch breiteres Grinsen. Vermutlich würde sie morgen alles rumposaunen und dann sehr verwirrt sein, wenn sie feststellte, dass B. nicht existiert. Hups.
"Ja, B. .. Naja, ich finde, sie hätts ja eigentlich auch verdient, wieder mal wen zu finden, wenn man bedenkt, wies bei ihrem Ex war.. Naja. Also, weißt du jetzt irgendwas hilfreiches oder nicht?"

Als wir das Schulhaus zur abschließenden Anwesenheitskontrolle betraten, wusste ich nicht nur Namen und Alter des Fremden, sondern auch die Namen sämtlicher Geschwister und konnte mir zumindest ein grobes Bild seiner Psyche machen,das nicht nur auf meiner Intuition basiert. Ja, er scheint kaputt zu sein...
Habe außerdem ungefragt ein Statusupdate über sämtliche Beziehungen in unserer Schule bekommen, weiß jetzt, welche Lehrer sich in den Mittagspausen eingehend mit welchen Schülerinnen...intensiv beschäftigen und kenne außerdem die aktuelle Nummer eins der internationalen Charts.


Ich glaube, ich brauche mehr als einen Absteigenbesuch mit sehr heftigem Headbanging, um diese Busfahrt wieder auszugleichen.