Donnerstag, 29. August 2013
Konzert. Open Air, endlich wieder.
Keine vertrauten Menschen um mich herum, aber immerhin Mr.Gaunt, manchmal, wenn er nicht gerade von irgendwem zu irgendwelchen anderen Leuten gezerrt wird, die unbedingt mit ihm reden wollen, oder ganz vorne vor der Bühne steht, da, wo ich mich nicht hintraue, weil man da headbangen muss und mein lädiertes rechtes Ohr endgültig Selbstmord begehen würde, und weil da der Raucher ist, und fast lauter gröhlt als die Band, die gerade spielt.
Lagerfeuerrauch, furchtbar beißend, und Nachtluft, Tagesrestwärme, und dann und wann mal eine vorbeiziehende Bierfahne auf dem Weg zum Getränkestand.
Staubiger Boden, trockenes Gras, schwitzende Menschen und ihre zerbröckelnde Zurückhaltung.
Endlich wieder.
Ich werde wieder mal viel zu vielen Menschen vorgestellt, deren Namen ich mir sowieso nicht merken kann, überbrücke furchtbar peinliche Gesprächspausen, die entstehen, wenn ich wieder mal alleine mit lauter Unbekannten stehen gelassen werde, mit der offensichtlichen Anmerkung, dass ich nicht gut mit fremden Leuten reden kann, und schaffe es anscheinend irgendwie, die Vaterinstinkte des Altgruftis zu wecken.
Der Altgrufti ist fünf Jahre älter als Mr.Gaunt, also rund fünfzehn älter als ich, hat seine zurückgehende Haarpracht kurz geschnitten und weißblond gebleicht und lässt in mir sämtliche Alarmglocken schrillen.
Ich schiebe es auf die allgemeine Hilfe-Menschen-Panik, denn bis jetzt scheint er ganz in Ordnung zu sein und davon abgesehen ist er die einzige Person, bei der ich rumstehen und auf Mr.Gaunt, der sich mal wieder mit einem "bleib mal hier beim Altgrufti stehen, ich komm gleich wieder" verabschiedet hat , warten kann.
Die Alternative, mit weiteren fremden Menschen ganz nach vorne zu gehen, habe ich dankend abgelehnt und stehe somit am anderen Ende des Konzertgeländes, eingewickelt in meine treue Bandjacke, dann und wann am Rand von Smalltalkgesprächen mit Leuten, die mir anscheinend früher an diesem Abend vorgestellt worden sind, und ansonsten unter der Obhut des Altgruftis.
Der gibt mir bis jetzt keinen nachvollziehbaren Grund fürs Alarmglockenschrillen, erzählt ein bisschen von sich, wundert sich nicht, wenn ich wortlos ins Leere starre, gibt mir ein Sojasteak aus und meint, er könne mich/uns auch mal mit auf die Gruftterasse nehmen, er würde da sowieso jedes Wochenende rumfliegen, und das seit 20 Jahren.
Während ich mir noch die Frage stelle, ob ich den letzten Fakt traurig oder beeindruckend finden soll, erzählt der Altgrufti, der auf mein Bändchen aufmerksam geworden ist, von diversen Festivals, die er dieses Jahr besucht hat, und bietet an, mich wahlweise auch da hin mitzunehmen, wenn ich mir die Karte nicht leisten kann. "Dass du dir von Mr.Gaunt keine bezahlen lassen willst, weiß ich, aber ich krieg die über die Arbeit sowieso gratis, also warum nicht? Wäre doch schade, wenn wir ohne dich hinmüssten."
Zu viel Großzügigkeit macht mich misstrauisch. Vor allem, wenn sie von Personen kommt, die mich erst seit einer Stunde kennen.
Ein Sojasteak, ok. Grenzwertig, aber geht.
Aber ein ganzes Festivalticket?
-"Das kannste ruhig annehmen, der Altgrufti hat mich auch schon mitgenommen." Der begeisterte Traktorfahrer, volltrunken und mit Bratwurstbrötchen ausgestattet, ist zu uns zurückgekehrt und stupst mich mit seinen fettverschmierten Fingern an die Schulter. "Kannste echt annehmen, der macht das manchmal."
"Ähm, ja, also, danke dann."
"Kein Thema." Der Altgrufti lächelt das wohl gruseligste väterliche Lächeln, das ich bis jetzt von nüchternen Menschen gesehen habe und wendet sich dann dem begeisterten Traktorfahrer zu, der es zwischenzeitlich geschafft hat, den kompletten Senf seines Bratwurstbrötchens auf seinem Shirt zu verteilen.

Irgendwann bin ich doch weiter vorne und lasse mir das Hirn rausschreien. Ohne mich verloren zu fühlen, ohne Fluchtreflex. Angekommen. Endlich wieder.
Nur ein kleiner Stich, dann, wenn ganz vorne, in der ersten Reihe, neben der fliegenden Haarmatte Mr.Gaunts auch die des Rauchers auftaucht, der, wie hätte es auch anders sein sollen, auch da ist.
Muss man mit klarkommen.
Trotzdem seltsames Gefühl. Aber geht schon.

Geht schon alles. Die ganzen fremden Menschen, die Anwesenheit des Rauchers, die grundlose Angst vor dem Altgrufti.
Geht alles, bis ich dann mit dem Raucher in einer Gesprächsgruppe stehe.
Und mich nicht traue, vom Boden auf- und in das angespannte Schweigen hinein zu schauen.
Es dann doch tue und dem Blick des Evilmetalbruders begegne, der schnell wegschaut.
Vom Raucher mit einem gedehnten, verächtlichen, von einer übertriebenen Winke-Winke-Geste begleiteten "Hi" begrüßt werde.
-"Hi." Durch den Überraschungsmoment sehr unsicher und beinahe bizarr-fröhlich.
Man schweigt größtenteils weiter und starrt den Boden an, bis der Postbote auftaucht und den Raucher zielsicher mit sich an den Tresen der improvisierten Bar schleudert.
"Der darf doch garnichts trinken oder?", fragt mich der Mischpultmann stirnrunzelnd.
-"Aaach, der muss uns doch nur heimfahren. Das geht schon."
"Ey, das hab ich bis hier her gehört!", ruft der Postbote uns viel zu laut zu, "Ich hol mir nur ne Cola, geht ja nicht anders, weil die Dame es sich nicht zugetraut hat, mit dem Schlachtschiff ihres Liebsten zu fahren. Aber der junge Herr hier, der ist noch viel zu nüchtern!"
Der Raucher stimmt ihm mit einem lautstarken Rülpsen zu und ist die nächste halbe Stunde, in der ich mich darauf beschränke, mich unsicher umzuschauen und mir vorzukommen wie ein in die Enge getriebenes Kaninchen, beschäftigt, bis Mr.Gaunt fragt, wann wir nach Hause fahren. "Bin müde, hatte Nachtschicht, bin nur mittelmäßig betrunken, und die machen gleich den Ausschank zu, sodass ich das nicht mal mehr ändern kann", schiebt er als Rechtfertigung nach.
"Können ja noch in die böse Kneipe", schlägt der Evilmetalbruder vor.
Sofort Stille.
"In die böse Kneipe?"
Imaginäre Strohballen fliegen vorbei.
-"Hat der grad die böse Kneipe erwähnt?"
Sämtliche betrunkenen Augen richten sich auf unsere Gruppe.
Dann, mit einem Mal: "Alteeeeer, ihr geht noch in die böse Kneipe!!"
Mindestens fünf willige Saufkumpanen scharen sich um den Evilmetalbruder, darunter auch der Raucher und der Grinsebuddha, der eigentlich mit uns fahren wollte, und verlangen einen sofortigen Aufbruch Richtung billiges, verwässertes Bier und betrunkene, leicht abschleppbare Minderjährige.
"Boah, böse Kneipe wär jetzt gar nicht mal so ne gute Idee, glaub ich." Der Postbote scheint glücklicherweise mindestens so müde zu sein wie Mr.Gaunt, somit reduziert sich die Zeit, die ich noch rumsitze und und mich schlecht fühle, auf die zehn Minuten, die es braucht, bis alle ihre Becher geleert haben und wir uns auf den Weg zurück zum Auto machen.

Irgendwann, nach einer endlosen Fahrt zurück in die Kleinstadt und einem Fußmarsch ins kleine Dorf, in dem die Eltern Mr.Gaunts, in deren Keller er sich aufgrund der WG-Auflösung einquartiert hat, bis in der Kleinstadt oder Umgebung wieder was frei wird, wohnen, liege ich auf einer Matratze, gegen die ein Holzbrett kuschlig-mollig-weich wirkt, und beobachte die Silhouette des Menschen, der jetzt zu mir gehört, dabei, wie er auf seinem Schreibtisch herumklettert und versucht, die Kellerfenster mit alten T-Shirts zu zu hängen, damit man wenigstens so tun kann, als wäre es noch "nachts" und nicht schon wieder "morgens", beziehungsweise "andere Leute fahren um die Uhrzeit schon wieder auf die Arbeit"-Zeit. Irgendwann gibt er entnervt auf, schlägt sich trotz der relativen Helligkeit auf dem Weg ans andere Ende des Zimmers mehrfach die Schienbeine an diversen Gegenständen und Möbelstücken an und lässt sich schließlich neben mir ins Bett fallen, um mir einen Kuss aufzudrücken und kurz darauf friedlich zu schlafen.

Und zu schnarchen.
Wieso erwische ich eigentlich immer die Schnarcher(innen)?
Nachdem weder Klacker-Geräusche (meine Mutter hat darauf geschworen!), noch Nasezuhalten oder der Versuch, ihn auf die Seite zu drehen (der Fremde hat mal gemeint, man schnarcht nur, wenn man auf dem Rücken liegt), helfen, beschließe ich, mich mit der Situation zu arrangieren, lege einen seiner Arme um mich und meinem Kopf auf seiner Brust ab und schaffe es dann auch irgendwann, einzuschlafen.
Mit leichtem Positivgefühl.

Alles wird gut, irgendwann.
Vielleicht.
Endlich/ wieder.