Donnerstag, 3. Juli 2014


Nachts halb eins auf der einzigen wirklichen Straße, die durch die Kleinstadt führt.
Nach einem Ausraster des Knastbruders, weil die 230 Euro, die er kornbedingt seiner Schwester schuldet, noch nicht auf deren Konto sind (Heute auf mein Konto einbezahlt und sofort auf ihres überwiesen), laufe ich zur einen Hälfte zur Postbank, zur anderen irre ich durch die Stadt und fühle mich heimatlos.
Nachdem erst der Salzkrug, dann ein Topf, der Hinweis "Ich schlag auch Behinderte. und Wenn die scheiß Kohle nicht auftaucht, schlag ich dich behindert", und schließlich die Erinnerung daran, dass er schon Leuten für weniger einen Finger abgeschnitten hat, in meine Richtung geflogen sind, wurde ich zur Tür rausgeschubst mit dem Befehl, das Geld sofort abzuheben, dann mit der gesamten Truppe (Knastbruder+Nachbarin, der Kater+Anhang) die 200km zu seiner Schwester zu fahren und mich zu entschuldigen für meinen Frevel, meine Unfähigkeit, meine Todsünde.

Ein Anruf beim Fremden.
Keiner da.
Einer bei Ms Golightly. Was auch immer los sei, sie könne gerade nicht, ihre Abikollegin hat Geburtstag.
Ich hätte gerne eine Familie, zu der ich zurückkann.
Habe ich aber nicht.
Ein Anruf beim Kumpel mit der weiblichen Seite. Seine Freundin hat eine Katzenhaarallergie und mag mich nicht, und überhaupt, so schlimm sei es doch bestimmt nicht.
Dann bin ich bei der Bank, stopfe mir die 230Euro wieder in meinen Geldbeutel, winke wie immer in die Kamera stehe kurz darauf wieder an der Straße und warte, dass die Fußgängerampel grün wird.
Inmitten des ganzen Wortgefechts hat der Kater angefangen, mitzuschreien. Dass ich das Geld wiederbeschaffen soll; dass ich sterbe, wenn es morgen nicht bei der Knastbruderschwester ist, und es ihm egal ist, ob sie mich dafür auf den Strich schicken müssen oder sonstwas.

Inzwischen habe ich fast alle Kontakte aus meiner Telefonliste abtelefoniert, die in und um die Kleinstadt wohnen.
Mir bleibt die Telefonnummer des Rauchers, die ich seit dem letzten Konzert wieder habe.
Erster Anruf. Mailbox.
Zweiter Anruf. Mailbox.
Ich hätte gerne eine Wahlfamilie, zu der ich kann.
Habe ich aber nicht. Nicht hier.
Eine sms, mit der Bitte, dem Flehen, an sein Telefon zu gehen.
Schreibe ihm, dass ich Angst habe. Wieder.
Dass ich nicht weiß, wo ich hin soll, dass er mich bitte zurückrufen soll, und ich nicht weiß, wen ich sonst noch anrufen soll. Dass ich nicht mehr weiß, was ich machen soll.
Dritter Anruf. Mailbox.

Auf der Fahrt bringt uns die Nachbarin fahrstilbedingt diverse Male fast um und ich denke mir, dass dann eigentlich alles einfacher wäre.

Die Knastbruderschwester sagt, es wäre schon ok gewesen, ist aber ruhig, als der Knastbruder anfängt, rumzuschreien, sie solle mich nicht verteidigen.
Der Kater liegt mit seinem Anhang besoffen auf dem Sofa und schläft.
Zu mir hat er gesagt, er kann sich keine Beziehung mehr geben.
Nachdem er und sie sich jetzt zwei Mal gesehen haben und ihr Einzug in der WG fest geplant ist, hat sich das wohl geändert.
Wie auch seine angebliche Näheallergie.
Stelle fest, dass er sich, ausgelöst vom Hass des Knastbruders auf mich, anscheinend sehr schnell von mir losgemacht hat, und dass das doch eigentlich gar nicht zu dem passt, was er gesagt hat.
Wie auch bei Mr.Gaunt, mit dem es heute ein Jahr gewesen wäre.

Das Baby der Knastbruderschwester spielt seelig mit meinem Glöckchenarmband, während die WG-Truppe besoffen auf dem Sofa eingeschlafen ist und seine Mutter die leeren Flaschen, die als Reiseproviant dabei waren, rausträgt.
"Sieh zu, dass dein Vater die Bürgschaft für die Wohnung übernimmt. Wär der Knastbruder nicht mein Bruder, würd ich auch nichts mit ihm zu tun haben wollen. Ich bin da nicht umsonst 200km weggezogen", hat sie gesagt.

Morgens halb vier, 200km weiter weg als vor drei Stunden.
Zur einen Hälfte sitze ich auf dem winzigen Balkon einer viel zu jungen, viel zu glücklichen Familie, damit ich deren Wohnzimmer nicht verräuchere, zur anderen hänge ich irgendwo in der Schwebe und fühle mich heimatlos.
Ein Blick aufs Handy, keine neuen Nachrichten.

Da sind auch keine neuen Nachrichten, als wir um zehn wieder heimfahren und ich überlege, erst den Knastbruder zu foltern und dann ihn, mein sterbendes Mayhemmobil und mich abzufackeln, bis mir einfällt, dass er es nicht verdient hat, im wunderbarsten Auto der Welt, in meinem Auto, sterben zu dürfen.
Pläne schmiede, wie ich ihn am effektivsten leiden lassen könnte, aber doch immer wieder zum Ergebnis komme, dass das rauskommt und ich dann Probleme kriege, von denen 15 Jahre Knast die Geringsten wären. Und etwas, das ich billigend in Kauf nehmen würde.

Bei "unserer" Autobahnabfahrt habe ich mir lange genug vorgebetet, dass Rache nicht die Lösung ist und ich eigentlich nicht auf seine untermenschliche Ebene runtersteigen will, um es mir fast zu glauben.
Zuhause wartet eine schreiende, hungrige Katze auf mich, die mir zur Begrüßung in die Wade beißt, danach aber immerhin die Freundlichkeit besitzt, sich neben mir zusammenzurollen und zu schlafen.
Ich hätte gerne ein Zuhause, das sich auch danach anfühlt.
Habe ich aber noch nicht.