Montag, 6. Januar 2020
Ein handgeschriebener Zettel am Eingang informiert darüber, dass die Stammkneipe heute aufgrund unvorhergesehener Umstände geschlossen bleibt.
"Hm, passiert das öfter?" Kaffe-Mann ist ähnlich überrascht wie ich.
-"Nee, eigentlich nicht, die haben immer offen, außer an Weihnachten. Der Wirt sagt, einmal im Jahr will er sich einfach auch mal gemütlich vor dem Kamin mit seiner Frau betrinken."

Auch Stammkneipe 2 informiert uns per Zettel (gedruckt) darüber, dass wir heute relativ sicher kein Bier bekommen:
"Bauarbeiten bis xx.yy.2020. Bitte besuchen Sie stattdessen Kneipe 3, die haben auch guten Whisky."
Der Kaffee-Mann ist erstaunt, dass ein Kneipenbesitzer einfach so auf seine direkte, das gleiche Format bedienende Konkurrenz verweist und fragt, ob ich Kneipe 3 kenne.
Ich erkläre ihm das beinahe familiäre Zusammenhaltsprinzip der etwas weniger frequentierten, etwas weniger PartyStudentenEskalations-geprägten Kneipen und stelle erneut fest, dass ich echt gerne hier wohne.
Dann brechen wir auf gen Kneipe 3.

Kneipe 3 informiert uns (per Tafelanschrieb) darüber, dass es heute Live-Musik gibt, und ein Blick durchs Fenster offenbart, dass das ziemlich viele Leute ziemlich cool finden.
Ein Blick ins Gesicht des Kaffee-Manns hingegen offenbart, dass er lieber eine Wurzelbehandlung ohne Betäubung durchführen lassen als dort hineingehen würde.
Die Aussicht, in einer bis unters Dach vollgestopften Kellerkneipe einem verstrahlten Möchtgernhippie bei der akustischen Vergewaltigung seiner Gitarre zuhören zu müssen, erfüllt mich mit ähnlicher Freude wie das handschuhlose Schrubben eines gammeligen Kühlschranks.
"Nee?"
"Nee."
Was ich sonst noch so kennen würde?
"Da will ziemlich wahrscheinlich keiner von uns hin."
Also starte ich meine erste ziellose Kneipentour.
Im zwölften Semester, ohne Wegbier, mit fünfzehn Euro in der Tasche und dem wahrscheinlich ältesten Endzwanziger, den ich kenne. Und er schlägt sich echt gut.
Kein "Aber wir können ja mal reinschauen", wenn ich nach einem Blick durchs Fenster abwinke, weil der reicht, um sich einen Überblick zu verschaffen.
Zu modern, zu hipsterseuchig, zu überflutet von den Tränen hunderter pseudointellektueller verkannter "Künstler", nur mit anschließender Ganzkörperdesinfektion betretbar, zu neon, bezieht die Getränke nur von einer Brauerei und die produziert kein Bier, sondern in Flaschen abgefüllte Verbrechen gegen die Menschenrechte - wir haben erstaunlich präzise und erstaunlich kongruente Vorstellungen davon, was eine Scheißkneipe zur Scheißkneipe macht. Wenn wir doch wo reinschauen und auf einen Shot eingeladen werden, weil manche Schwankwirte es schlicht zur Unmöglichkeit erklärt haben, dass jemand genauso nüchtern geht, wie er reingekommen ist, oder wenn jemand mit uns plaudern will, übernehme ich das.
Wenn ich mich nicht traue, voraus zu laufen, weil man dafür an Menschen vorbei muss, übernimmt der Kaffee-Mann.
In der letztlich ausgewählten Kneipe überlastet mich die fremde Umgebung und Reizüberflutung, ich bin entscheidungs- und handlungsgelähmt und kann gerade irgendwie gar nichts. Also sucht er uns einen Tisch, fragt, ob der ok ist, ich bekomme den Sitzplatz an der Wand, mit Blick in den Raum und zur Tür: "Du hattest mal geschrieben, ungewohnte Orte mit vielen fremden Menschen würden dich gelegentlich etwas nervös machen, deshalb dachte ich, es könnte vielleicht hilfreich sein, wenn dir niemand im Rücken sitzt und du von deinem Platz aus einen Überblick gewinnen kannst."

Wir reden über meinen Unikram und seine aktuellen Projekte, die unendliche Schnarchigkeit Fontanes, unser jeweiliges Silvester, die Redeanteile sind asymmetrisch aber ich finde es diesmal weniger schlimm, weil ich bei den meisten Themen einfach mehr zu erzählen habe.
Wenn ich das Gefühl habe, zu sehr in den Vortragsmodus zu rutschen, ertappe ich mich fast immer rechtzeitig genug, um kurz zu unterbrechen - atmen, einen Schluck trinken, Nase putzen, irgendwas, Hauptsache kurz "Stop".
Einmal übernimmt der Autopilot, ich bemerke es aber rechtzeitig genug, um "Abort Mission!" von der Hirnschaltkreiskommandobrücke zu rufen und als Akutmaßnahme zur Reizflutsenkung und Rückzugsortschaffung zur Toilette zu gehen.
Die Therapeutin sagt, wenn man ganz genau darauf achtet, kann man in meinem Gesicht subtile Hinweise sehen, wenn ich dissoziiere (ihre aktuelle These ist, dass das das ist, was ich "Autopilot" nenne; wenn mein Bewusstsein sich schlafen legt und ich stattdessen einfach auf irgendeine Art "funktioniere", die aber nicht immer ich bin), also schaue ich mein Gesicht an, was das so erzählt.
Die Verbindung Bild im Spiegel - Ich klappt irgendwie mal wieder nicht richtig, also tippe ich mir auf die Nasenspitze und das Bild im Spiegel macht das gleiche. Ok, das ist also mein Gesicht, das ist meine Nasenspitze, und so sieht es aus, wenn ich sie antippe.
Als Experiment beschließe ich, dem Autopilot, bzw. seinem Abschalten keine weitere Beachtung zu schenken und stattdessen zu überlegen, welchen weiteren Verlauf des Abends ich nett fände.
Der Kaffee-Mann hat schon vor einer guten halben Stunde gesagt, dass er müde wird und demnächst gehen möchte, ich fände es nett, wenn er mir noch ein bisschen was von sich erzählen würde. Ich wüsste gerne, ob ich es mit einem stillen Gewässer oder einer trüben Pfütze zu tun habe, gefühlt selektiert er mindestens so stark wie ich, welche Teile seiner potenziellen Verletzlichkeit er wem preis gibt.

Also mache ich einen Tausch.
Wir reden über Weihnachten, er fragt, ob ich denn nun doch daheim war und ich erkläre, dass "daheim" für mich die Unistadt ist.
Und dann, dass das zu einem nicht geringen Teil an der Vatersfreundin liegt.
Ich erzähle ihm von damals, als ich, aufs Abitur zusteuernd, zuhause ausgezogen bin, weil ich sie nicht mehr ertragen habe; dass die Verbindung zu meinem Vater inzwischen distanziert-friedlich ist, zweiteres aber lange nicht der Fall war; dass sich das manchmal komisch anfühlt und ein weitere Grund ist, der ausschlaggebende aber, dass ich diese Frau, und nein, es liegt nicht daran, dass mein Vater eine Freundin hat, die nicht meine Mutter ist, als einen wandelnden Angriff auf meine psychische Gesundheit empfinde.
"Das klingt für mich nachvollziehbar und ich finde nicht, dass man sich für die Entscheidung, keine Zeit mit solchen Menschen verbringen zu wollen, rechtfertigen muss."
Bam, und weg ist jeder Rest Autopilot.
Ich brauche ein paar Anläufe, um auszudrücken, dass ich gerade überrumpelt bin, weil das jemand einfach so hinnimmt , als absolute Selbstverständlichkeit. Er bestätigt nochmals, dass das für ihn einfach nur logisch ist, es braucht aber ein paar Wiederholungen, bis es richtig in meinem Hirn ankommt.
Ich traue mich, auch das zu sagen, und dass es mir schwer fällt, manche Dinge,gerade im Bezug auf meine Familie, zu erzählen, weil es einerseits nur ein Teil von mir ist, aber eben doch ein Teil von mir, und weil ich nicht möchte, dass mein Gegenüber sich unwohl fühlt; überlastet, dazu genötigt, Verständnis oder Mitleid oder überhaupt irgendwas zu sagen.
Er verzichtet auf den Hinweis, dass ich das bereits erwähnt habe, und versichert mir stattdessen einfach nochmal, dass es für ihn nicht unangehm ist. "Ich würde, soweit ich es jetzt beurteilen kann, sagen, dass du eine etwas unkonventionelle Familiensituation hast. Das ist aber nichts, wofür man sich rechtfertigen muss, finde ich. Den Lebenspartner meiner Mutter empfinde ich auch nicht deswegen als schwierig, weil er nach dem Tod meines Vaters den Platz an ihrer Seite eingenommen hat, sondern weil er einfach eine sehr laute und rechthaberische Person ist."
- " Das kann man so sagen, mit dem "unkonventionell", glaube ich. Es fällt mir oft schwer, da zu entscheiden, wem ich was, oder wie viel, erzähle, weil das, was für mich die obersten zehn Prozent sind, manchen schon zu viel ist. Deshalb habe ich bisher so einen großen Bogen um jegliche Erwähnung meiner Mutter gemacht - die ist 2007 gestorben, also vor bald 13 Jahren. Ich weiß, dass Eltern früher oder später sterben und das so ziemlich jedem passiert, der welche hat, aber das, was dann folgt, was es beim Gegenüber auslöst, das beschäftigt mich: Wie?/Warum so früh?/Das ist ja voll schlimm, du Arme, die Überlegung, was ich antworte, wie viel ich antworte, und den Rattenschwanz, den das dann wieder produziert, wenn ich erzähle, was passiert ist. "
Auf Risiko gesetzt und dem Kaffeemann einen Blick in mein Gehirn spendiert. Einen vorsichtigen. Der Terror der Vatersfreundin, meine tote Mutter, früher am Abend gezeigt, dass ich ein bisschen was über die ein oder andere psychische Erkrankung weiß, ein bisschen was über Therapie, ein bisschen was über manche Psychopharmaka.
Genug, um anzudeuten, ohne zu konkret zu werden.

Etwas später macht der Kaffee-Mann ebenfalls einen Mäuseschritt, es geht um's seltsam-Sein.Vermutet, es sei seltsam, dass er keine nennenswerten sozialen Kontakte hier habe, also, außer mich jetzt (Hey, er stuft mich als einen nennenswerten sozialen Kontakt ein). Nach dem Studium waren auf einmal alle weg, er ja auch, hierher, der Rest woanders hin, und irgendwie habe sich da nie was neues ergeben. Er sei aber auch nicht so gut im Kennenlernen von Menschen, andere würden das vermutlich beim Feiern gehen machen, über Vereine oder Hobbies, wie ich mit dem Theater, aber er käme sich auch seltsam dabei vor, wenn er das jetzt machen würde, nur, um Anschluss zu finden. Zwischendurch sei das auch in Ordnung gewesen, aktuell aber irgendwie wieder ein bisschen unangenehm.Hoffentlich hält er nicht nur deswegen Kontakt zu mir.

Später begleitet er mich noch ein Stück heimwärts, obwohl er eigentlich in die andere Richtung müsste.
Dann und wann schwankt Feiervolk vorbei, die meisten sind inzwischen aber entweder in der gewählten Location oder ihrem/irgendeinem Bett verräumt. Laufen so durch das gefühlt dauerhaft miese Wetter dieser, nein, meiner großen Stadt, die gerade einen ihrer menschenleeren Schweigemomente hat; das Kontrastprogramm, für die ich sie so liebe. Zwischendurch bleiben wir stehen, weil ich einen Waschbären gesehen habe, oder einen Vogel, oder irgendwas anderes, was plötzlich nach meiner Aufmerksamkeit verlangt und begutachtet werden muss, weil ich manchmal so ein bisschen Katze bin. Er beschwert sich nicht, nimmt es einfach hin und wartet, bis ich zufrieden bin und wir weiter gehen können. Ich weiß gar nicht mehr, worüber wir uns unterhalten haben, aber ich glaube, es war ok.
Überhaupt - so vieles war irgendwie auf einmal ok, kein Autopilot, keine Gedankenspiralen, einfach mit dem Kaffee-Mann durch meine Stadt laufen, es fühlt sich so in Ordnung und selbstverständlich an, ich könnte mich dran gewöhnen.

An meiner Haltestelle verabschieden wir uns, wieder Umarmung, wieder vorsichtig, aber weniger Sicherheitsabstand. Mäuseschritte. Ich strecke die Arme ein bisschen aus mache einen Schritt vor, er auch, und so kommt eben die Abschiedsumarmung zustande.
Er ruft mir ein "Bis bald" nach, zumindest für seine Verhältnisse ist es ein rufen, ich drehe mich nochmal um und sage auch "Bis bald", weiß aber nicht, ob er das noch gehört hat.