Dienstag, 31. Dezember 2019
Seit zwei Tagen steht mein Stadteil unter Feuerwerkskörperbeschuss
Seit zwei Stunden ist eine der Katzen auf Tauchstation gegangen.

Seit heute Nachmittag trudeln die ersten Jahresabschlusswünsche ein
und die netten Kollegen, die das Ding in meiner Psyche sich eingeladen hat, um gebührend zu feiern.

Angst klopft an, sie würde gerne die Panik ablösen und das mit den Attacken zukünftig übernehmen.
Intrusion, Emotion und Intuition verhandeln mit Dissoziation, wer wann was übernimmt.

Die Supermarktverkäuferin, die immer mit mir flirtet und mit der ich mal in ihrer Pause Nummern getauscht habe (weil ich bei Frauen auf einmal die Ruhe selbst und generell der coolste Typ der Welt bin), fragt mich, was ich heute so mache. Mit Zwinkersmiley.
Ich schreibe ihr, dass ich wo eingeladen bin und ihr einen schönen Abend wünsche. Ohne Zwinkersmiley.
Kein Nerv gerade, keine Lust, nur halbherzig da zu sein, weil ich nebenher Gastgeberin für die infernale Party in meinem Kopf bin.

Ein paar Freunde, denen ich schon seit zwei oder drei Jahren eigene Namen zuteilen wollte, weil sie eigentlich relativ wichtig sind, haben beschlossen, den Abend mit mir verbringen zu wollen.
Wir haben ausgemacht, dass sie mich abholen, weil ich so dazu gezwungen werde, raus zu gehen weil wir als Gesamttruppe bei jemand anderem eingeladen sind und ich die genaue Adresse nicht kenne.

Bum, Chinaböller. Katze auf Tauchstation knurrt, Kater Mayhem hebt den Kopf, schaut, ob es mir gut geht, und legt ihn dann wieder ab.

Die Freunde gehören zu der Sorte, die wohl echte sind; zumindest finde ich Indizien dafür, wenn ich mal konzentriert auf die Sache schaue.
Wenn ich mich nicht konzentriere, finde ich Gründe dafür, warum sie nur aus Höflichkeit mit mir abhängen und mich nur aus Mitleid ertragen.

Bum-Bum-Bum-Bum, Böllerbatterie. Die Tauchstation- Katze japst, schießt unterm Sofa hervor und klettert auf meinen Schoß, wo sie anfängt, zu winseln. Ich bekomme einen Kloß im Hals und wir sind beide kurz vorm Weinen.
Dann kuschle ich sie ein bisschen, sie fängt an, zu schnurren und beruhigt sich, zumindest, bis der Mitbewohner wieder türenknallend durch die Wohnung wandert, weil er pissig ist, aber unfähig zu sagen, was genau jetzt wieder sein Problem ist.


Zisch-Bum-Schepper-Bumbumbumbum, ich verfluche meine Wohnlage, weil sie so zentral ist.
Wenn dieses Jahr wieder nebelverhangen der akustische dritte Weltkrieg ausbricht, geh' ich eben wieder heim und sitze das gröbste mit den Katzen aus. Ich wohn ja zentral.
Ich könnte danach zurück, diese meine Freunde haben anscheinend Interesse daran, dass ich den Abend mit ihnen verbringe und Verständnis für die Katzengeschichte. Sie haben sogar alle gemeinsam verkündet, dieses Jahr auf sämtliches Feuerwerk zu verzichten und nur ein paar Wunderkerzen anzuzünden, seit ich ihnen erklärt habe, wie scheiße das alles für die Tiere ist und vermutlich auch für den PTBS-Opi in meiner Straße.

Manchmal möchte ich ihnen erklären, wie das ist. Die Angst, das Ding, das, wie ich gelernt habe, Dissoziation heißt; das, das Intrusion heißt, die Zweifel und Verzweiflung, und alles andere, das macht, dass ich so übervoll von mir bin.
Aber es kommt nichts raus, kein Ton, keine Erklärung.
Die brauchen sie auch nicht, sagen sie. Es ist halt so, wie es ist.

Zischbumknall, irgendwas blinkend-flackernd-leuchtendes.
Manchmal habe ich es versucht; auf dem Festival, als ich fast weinen musste, weil ich mich hilflos und wie eine schreckliche Last gefühlt habe, weil meine Beine und Gelenke vor der Hitze kapituliert und beschlossen hatten, nicht mehr funktionieren zu wollen.
Der gefürchtete Satz "das ist schon ok", während einer von ihnen, Barbarossa, losgezogen ist, einen Kanister Wasser geholt und dann nasse Handtücher auf meine Beine gepackt hat.
Warum mein Kopf das macht, ist egal. Er muss das nicht machen, macht es aber, ok, dann ist das so. Hier, ich hab dir 'n Bier mitgebracht.

Oder nach einer Aufführung, als meine Bühnen-Performance sogar mich selbst überzeugt und in eine Panikattacke geschickt hat. Der Informatiker meinte, ok, das klingt ungesund. Du bist ja irgendwie so ein emotionaler Mensch.
Ja. Deshalb mache ich mir über jeden Scheiß Sorgen, und weil meine Intuiton fatal oft recht hat, ich kann an einer Hand abzählen, wie oft sie sich getäuscht hat und bräuchte nicht mal alle Finger, kann ich meine Sorgen und Ahnungen auch nicht einfach auf die leichte Schulter nehmen.
Hm. Hat sie sich bei mir getäuscht?
Nein. Ich hab damals gewusst, dass wir in der Kiste landen und auch, dass das eine einmalige Sache bleibt, weil du Wunschvorstellungen auf mich projeziert und gesoffen hattest.
Das stimmt wohl. Und du?
War in ner Scheißbeziehung und hatte Angst, was passiert, wenn ich Schluss mache. Hatte gesoffen, fand dich heiß, wollte nicht alleine schlafen.
Also hattest du danach keinen Liebeskummer oder so?
Nein. Ich würde mit dir genauso wahnsinnig werden wie du mit mir. Und ich bin schon wahnsinnig genug.
Das stimmt. Aber so bist du halt.

"So bist du halt".
Diese beiläufige Akzeptanz, einfach so. Ohne das warum zu kennen, ohne es wissen zu wollen.
Manchmal triggert mich das, und dann erkenne ich, dass das eine Chance ist.
Auch, wenn ich manchmal bin, wie ich nicht bin: Freundschaft kann das ab.
Manchmal entstehen, wie ich meine, Missverständnisse - wenn ich gerade grantig bin oder mein Zimmer eine Müllhalde und sie sehen : Grantige mayhem, müllhaldiges Zimmer, und ich erklären will, reizüberflutete mayhem und energiefressende Gesamtexistenz.
Aber vielleicht muss ich das gar nicht erklären. Ich will erklären, um Verständnis und Verzeihen zu bekommen.
Aber verstehen kann nicht jeder alles, und Verzeihen braucht nicht alles - weil es für sie kein Fehler ist, sondern einfach ein Teil meines Gesamt-Ichs, eine Eigenschaft, ein Attribut, das eben dazugehört, nicht sonderlich cool, aber auch kein Weltuntergang.

Bumbumbumbum-zischzischzischzisch-blink, kleine Feuerwerksbatterie unter meinem Fenster.
Kater Mayhem geht auf Tauchstation, wann die Katze sich wieder versteckt hat, habe ich gar nicht mitbekommen.

Weihnachten habe ich ganz gut überstanden, aber gerade kommt die Existenzkrise wieder.
Das Gefühl, zu lange zu brauchen, zu viel nicht hinzukriegen.
Ich hab' dieses Jahr so viel in die Wege des Auf-die-Reihe-Kriegens geleitet, mein Hirn umgekrempelt, mir eine Therapieform klar gemacht, die anschlägt, und eine Therapeutin, die das kann und mich mag. Meine Zahnkram-Sanierung in die Wege geleitet, Bröselzahn losgeworden und herausgefunden, dass die anderen sich erstaunlich gut halten.
Ein ganzes Festival lang nicht in den Autopilot gerutscht.
Kurse nicht geschmissen, als ich es nicht mehr geschafft habe, hinzugehen, sondern Mails geschrieben, dass ich weiter teilnehmen will - und das auch getan.
Die Finanzlage ausgelotet und herausgefunden, dass sie in spätestens einem Jahr verdammt hässlich wird, wenn ich es nicht irgendwie abfangen kann. Aber was ist schon in einem Jahr? Wer bin ich dann, wer weiß das schon.
Den Kram für einen vorgezogenen Master organisiert, die Bewerbung dafür geschrieben - und auch abgeschickt.
Ein Praktikum gemacht, so richtig, immer hin gegangen, fast immer pünktlich, und herausgefunden, was ich eigentlich "später mal" machen will, so beruflich.
Eine Archivarin geworden - Hirnkram kategorisiert, sortiert, ettiketiert, damit man damit mal ordentlich arbeiten kann. Und abgestaubt, was da schon länger rumsteht, aber vielleicht noch gebraucht werden kann.

Resilienz ist, wenn man trotzdem lacht weiter macht.
Mit dem gefühlten Stillstand (denn keine meiner großen und kleinen Leistungen zählt für Uni, Studienkredit, Arbeitgeber oder in einem Lebenslauf) und mit meiner Existenz; oder damit, mir eine aufzubauen.

Ich weiß noch nicht, wie ich das mache, aber ich weiß, wo ich hin will.
Ich kann es mir sogar vorstellen, wie sich das anfühlt, wie es aussieht. Wie ich im Sommer auf meinem Festival stehe, Bachelor abgeschlossen oder nur noch die Abschlussarbeit ausstehend, Master begonnen und vielleicht die ersten Prüfungen schon hinter mir, Bier in der Hand, vor den Bands, auf die ich teilweise seit zehn Jahren warte.
Mit Barbarossa und seiner Freundin, mit dem Informatiker und wer-auch-immer-dann-gerade-seine-Matratze-ist, mit den anderen Leuten, die vielleicht Freunde sind oder werden.
Wenn ich bis dahin nicht schneide, habe ich dann 115cm Haupthaar, das sieht dann selbst bei meinem Amazonen/Eisriesen-Format nach "lang" aus.
Wenn ich mir das Geld erarbeite, ist einer meiner Tattoo-Arme dann vollständig, denn das habe ich mir zum Bachelor versprochen.

Damit ich das schaffe, muss ich weiter machen.
Die Angstblockaden überwinden oder zumindest regelmäßig genug zur Seite schieben können, um auch für die Uni schreiben zu können, und zwar gut. Dem 1,x im Nebenfach steht nach wie vor 3,x im Hauptfach gegenüber, weil ich so viel verkorkst habe, nicht aus fachlicher Inkompetenz, sondern aus mentaler Unfähigkeit, und ich weigere mich, das so zu lassen.
Der Bachelor ist strategischer Zwischenschritt, der Master die selbstverpflichtete Kür, mit der ich vor allem mir beweise, dass ich es auch auf dem Papier kann und nicht nur zwischen den Zeilen, als anonyme Webseitenautorin, Produktbeschreibungsfrau oder semi-legale Textlieferantin.

Ich besiege das Ding in meinem Kopf.
Ich besiege meine Vergangenheit, den ungewöhnlichen Lebenslauf, das, was meine Mutter mir mitgegeben hat.
Wenn es sein muss, besiege ich auch mich selbst.
Weil es eben auch anders geht.
Von Intuition, Empathie, Mitgefühl, ich-kann-halbwegs-gut-mit-Sprache-hantieren-wenn-ich-nicht-gerade-total-blockiert-bin und "Ich hab schon mehr verdrängt, wieder hervorgezerrt und verarbeitet, als andere bis zur Midlife Crisis erlebt haben" kann ich mir nicht viel kaufen.
Von einem guten Abschluss schon.
Irgendwo in mir drin habe ich Talente, und manche davon kann man zum Beruf machen und letztlich auch zu Geld.
Einen Studienkredit kann man abbezahlen, selbst, wenn er so hoch ist wie die Schulden, die andere Leute für ein kleines Haus aufnehmen.
Einen durchschnittlichen Bachelor kann man mit einem besseren Master ausbügeln, den man stattdessen der Bewerbung beilegt.

Flüche kann man brechen, indem man aufhört, an sie zu glauben.
Familien kann man ersetzen, indem man sich seine eigene ist.
Statt den Geistern, an die man glaubt, einfach mal sich selbst suchen.
Und mit dem arbeiten, was man findet - egal, ob es einem gefällt oder nicht.

Mein Neujahrsvorsatz ist, weiter zu machen.
Womit und wohin auch immer.
Sichtbare Wege sind für Anfänger.
Und was am Schreibtisch eine faule Ausrede ist, wird im Hirnhinterzimmer zur glorreichen Erkenntnis:
Der Tumult mag sich niemals legen und das Ding niemals Ruhe geben. Aber:
das Genie beherrscht das Chaos.
Vielleicht schaffe ich es vom einen ins andere.
Wenn nicht, bin ich einfach beides.
Ich habe mich gerade erfolgreich aus meinem Kerker rausgeschrieben, hoch an den Rand, zwar wacklig stehend, aber immerhin. Wieder.
Immer wieder.

Und jetzt schleife ich das Häuflein Elend, dass ich nicht mehr bin, unter die Dusche, packe es in ein paar Klamotten, male ihm ein Gesicht und nehme es mit raus in die Welt, die echte, nicht die in meinem Kopf, denn da gehören wir eigentlich hin.