Dienstag, 28. April 2020
Der gordische Hirnknoten scheint gelöst, ich sichte Quellen und mache Hausaufgaben UND TRAUE DEM TEILFRIEDEN NICHT, während die Knotenüberreste verwirrt und versifft rumliegen und keiner weiß, ob sie sich wieder zusammenrotten oder doch auflösen werden.

Die Hausaufgaben sind zu viel, die Quellen zu wenig und es ist ein Kampf mit ungewissem Ausgang; die äußere Lage unverändert und immer noch alles zu viel und am Rand des Unmöglichen.
Aber: nur am Rand. Da sind noch eineinhalb Millimeter Abstand und das ist genug - wer braucht schon Lichtblicke?
Die menschliche Psyche stellt manchmal die tollsten Sachen an und das Gehirn ist eine Wunderkammer.

Ein Stapel Bücher auf meinem Schreibtisch, ich pflüge wie eine sehr langsame, aber sehr sture Schildkröte durch mit einer gnadenlosen Zielorientiertheit, die mich selbst erstaunt in ihrer Unerschütterlichkeit.
Eines taugt nichts, ein weiteres taugt nichts, und ein weiteres und fünf und zehn und zwanzig.
Planänderung folgt auf Planänderung, ich sortiere und sichte und führe Buch über Bücher.
Übersicht aller genannten Primärtexte in der Sekundärliteratur, Gesamtanzahl der Nennungen, Unterteilung :Allgemeines - mögliche Verbindung zum vorgegebenen Themenkomplex - ggf anderweitig nutzbar - Bullshit.
Weitere Kreuzchen für kurze Nennungen und längere Besprechungen und alles dazwischen, um hoffentlich irgendwann mal zu einer Themeneingrenzung und Fragestellung zu kommen; am besten schon gestern, oder vor einer Woche oder vor vier.

Klappt natürlich nicht, viele Ideen und keine durchführbar, der Kopfkrieg wächst und gedeiht und wir schreien uns gegenseitig an, dass wir verdammtnocheins die Fresse halten sollen und werfen uns gegenseitig vor, dass wir irrationale Scheiße von uns geben.
13 Jahre Mutter Mayhem haben mich auf sowas vorbereitet, deshalb kann ich den Kopfkrieg schreien und schimpfen und manipulieren und verletzen lassen, wie er eben gerade will und mache meine Sachen schlicht und ergreifend trotzdem.
Weiß immer noch nicht, wie ich die Bachelorarbeit und den Rest (die innere Kontrollinstanz möchte nachhaltig panisch darauf hinweisen, dass es den ganzen Rest auch noch gibt und ich den ganz schlimm vernachlässige, obwohl wir gemeinsam eine Prioritätenliste gemacht haben und die Themeneingrenzung momentan auf Platz 1 ist) schaffen soll.
Dafür aber, dass ich sie schaffen werde; ohne überzeugende Beweisgrundlage, dennoch unerschütterlich.
Wirklichkeit entsteht aus Unwahrscheinlichkeiten, die eintreten.





Die Therapeutin liegt im Krankenhaus.
Sie hielt sich an Abstandsmaßnahmen, andere halt nicht, und dann sind über Kontaktpersonen von Kontaktpersonen auf einmal Leute krank und leiden vor sich hin.
In unserer letzten Sitzung hat sie sich für ihre Verspätung entschuldigt, Atemprobleme sollte man abklären lassen, sicherheitshalber Arzttermin gehabt, es sei aber anscheinend alles ok und dementsprechend würde das wohl bald wieder vorbei gehen.
Sie ist relativ jung, keine Risikogruppe und hat eine Familie.
Außerdem siecht sie jetzt, vermutlich auf einer Intensivstation, vor sich hin und es scheint dramatisch genug, um gestern einen Anruf der Praxisleitung bei mir zu veranlassen, in dem ich gefragt werde, ob ich, "wenn es die Umstände erfordern", meine Therapie bei jemand anderem fortsetzen würde/könnte, mehrfach mit Nachdruck auf Krisentelefone hingewiesen und versichert wird, meine Grüße würden ausgerichtet, falls sie wieder ansprechbar wird.
Nicht wenn, sondern falls.
Das ist ein Unterschied.
Wenn es kein sprachliches Versehen war, ein gravierender.

Den restlichen Tag frisst der, durch vortägige Überproduktivität (Hirnsumpf: haha, als ob drei oder vier Stunden produktiv wären!) wohl begünstigte, Überlastungszustand, weil ich es ihm erlaube.
Keine Krisenanrufe, keine Panikattacken und kein Weinen; stattdessen einfach vor sich hin existieren, nebenher eine Hausaufgabe erledigen, mit anderem Eingrenzungsfokus nochmal Quellen suchen (natürlich wieder nicht erfolgreich).
Der Kopfkrieg sagt, das ist nicht genug, ich erkläre ihm, dass jede Diskussion eine Energieverschwendung ist und er deshalb jetzt einfach ignoriert wird.

Telefonat mit Dory, die Probleme anderer zu bearbeiten lenkt manchmal effizient von meinen eigenen ab und solche Pausen brauche ich.
Gemeinsames Fernfeierabendbier zwischen positiver Belanglosigkeit und Gesprächstherapie, nichts davon fühlt sich erzwungen oder nach Arbeit an; wundervoll.
Ich bin stolz auf sie, weil sie Dinge mit etwas Unterstützung sehr schnell erkennen und umsetzen kann, sie ist stolz auf mich, weil die Erkenntnisse über Jahre erkämpft sind aus Erfahrungen, Therapie und Trauma.
Ich teile meine Weltuntergangsroutine und Krisennahkampferfahrung, sie ihre Normalität, wir halten uns vom wahnsinnig werden ab und einander über Wasser.
Zwischendurch Zimmerpflanzengespräche und ein paar Witze über den nicht vorhandenen Musikgeschmack der jeweils anderen.
Es könnte schlimmer sein.