Mittwoch, 12. Oktober 2011
Heute durch ein riesiggroßes Universitätsgebäude und von Vortrag zu Vortrag geeilt, an beängstigend großen Menschenmassen vorbeigequetscht, um auch noch einen Flyer zu bekommen und jetzt general-erleuchtet heimgekehrt.


Heute morgen, nach vier Stunden Schlaf, sind wir losgefahren; wir, das waren die aktuelle Zukunftsabiturientenansammlung unserer Schule und ein paar Abiturienten; losgefahren sind wir zu einer der größeren Unis in der "Nähe", in der im Rahmen eines aktuellen Hochschultages alle möglichen und unmöglichen Unis, FHs und sonstige Brutstätten der Intelligenz in Form von ein paar Professoren und mehr oder weniger motivierten (ehemaligen) Studenten vertreten waren.
Außerdem Berufsberatung, zu der wir nicht hindurften, die Agentur für Arbeit, zu der wir nicht hindurften und ein paar Infostände für den Berufseinstieg ohne Studium nach dem Abitur, zu denen wir nicht hindurften.
Derart eingeschränkt fand man mich hochkonzentriert guckend durch die Gegend laufen, in der einen Hand den Infoflyer für Lebensmittelchemie, in der anderen den für Soziologie, und eher früher als später hatte ich zwar keine Gratiskulis abgestaubt wie andere aus meinem Jahrgang, dafür war aber mein Vorsatz, verrückte Wissenschaftlerin zu werden, stark ins Wanken geraten und wurde beinahe endgültig zu Boden geworfen, als ich in der Ausstellung der Hochschule für bildende Künste so viele Fotographien sah, bei denen ich mir dachte, hey, das kann ich mindestens genauso gut. Die Dame drückte mir auch automatisch einen Flyer in die Hand und ihre Visitenkarte, ich solle mich für ein persönliches Beratungsgespräch melden, jederzeit. Bei anderen tat sie das nicht. Anscheinend strahle ich etwas kreatives aus.
Das Wunschdenken war wieder da, und bei aller Liebe zur Chemie, eigentlich ist doch alles, was ich will, schreiben,schauspielern,bisschen fotographieren und Musik machen.
Kann ja sonst auch nix.

Trotzdem sammelte ich auch Flyer zu vernünftigeren Themen , früher oder später stets gefolgt vom ehemaligen Problem, das mehr als einmal gleichzeitig mit mir an einem Stand war und in die selbe Richtung griff, nur mit dem Unterschied, dass er nach Physik angelte, wenn ich jemandem den letzten Chemieflyer vor der Nase wegschnappte, und er mit ernstem Gesichtsausdruck minutenlang auf die zum Thema Kunst starrte, um dann traurig guckend ohne einen wegzugehen, während ich Slawistik und Musikwissenschaft einsammelte.
Überhaupt liefen wir uns viel zu oft über den Weg, wir saßen praktisch immer in den selben Infoveranstaltungen, wir besuchten die selben Stände und mir ist außer mir niemand begegnet, der derartig gegensätzliche Studieninteressen hat wie ich. Mit Ausnahme von ihm.
Würde ich toll finden, hätte ich nicht beschlossen,dass ich mit ihm abgeschlossen habe.
So war ich überrascht, ihn so oft in meiner Nähe zu sehen,verwundert, weil er mich so oft ansah, und ein bisschen melancholisch, weil es sein 18.Geburtstag war und ich mich noch an damals, an seinen 13., erinnere.

Trotz allem behielt ich meine äußere Fassung erstaunlich gut, war zwar alleine unterwegs, dafür aber auch frei in meiner Entscheidung bezüglich der nächsten zu besuchenden Stände/Vorträge, und alles hätte ereignislos-ruhig bis normal enden können, wäre ich nicht an diesem einen Infostand vorbeigelaufen.
Der für die Berufseinsteiger.
Nicht der von der Bundeswehr, aus deren Slogan "Studieren mit Gehalt" vom ehemaligen Problem ein abfälliges "Studieren mit Gewalt" gemacht wurde, nein.
Der andere.
Der, hinter dessen Tresen nicht nur ein normaler Anzugmensch stand, sondern auch der Fremde.
Er trug wieder ein schwarzes Hemd, diesmal allerdings auch Krawatte, und obwohl die Realität wohl anders aussah,ergänzte mein Gehirn die ausgeblichene Jeans vom letzten Mal dazu. Anzugjacke war auch dabei, very formal, nur mit dem Unterschied, dass er aussah, als wäre er viel lieber bei der Fotoausstellung gewesen als hier und hätte geschätzt fünf Nächte durchgemacht.
Als sich unsere Blicke trafen, wirkten die Wolfsaugen im Kontrast zu den Augenringen und verwuschelten Haaren erstaunlich wach und kurz überlegte ich, hinzugehen, aber was hätte ich denn sagen sollen, hey, der weibliche Kumpel macht sich Sorgen um dich, ich mir jetzt auch, und ich will dir helfen weil es sich anfühlt als wärst du genauso kaputt wie ich ?
Kam sowieso nicht dazu, so schnell, wie er mich angesehen hatte, sah er auch schon wieder weg, ein Mädchen Modell Indiekid mit Möchtegernduttknödel mitten auf dem Kopf wurde ihm von seinem Kollegen zugeschoben und er war somit beschäftigt.

Bestimmt würde er, wenn er endlich nachhause kann, während der Autofahrt laut auf uns Kinderchen fluchen, wie wir da rumliefen und entweder dumme Kommentare abgaben oder dumm waren, dachte ich mir und machte mich auf zum Vortrag über Betriebswirtschaft, wo mich eine Mitkollegiatin sichtete und in einem Gespräch festnagelte, sodass es kein Entrinnen gab und wir auch wieder zusammen den Saal verließen.

"Ey, bevor wir losmüssen, will ich noch zu wem Hi sagen,ok?" Ohne meine Antwort abzuwarten, wurde ich von der Mitschülerin an der Hand gepackt und losgezerrt, und so sagten wir Hallo zu den Leuten am Bundeswehrstand, zu den Leuten am Stand der lokalen Uni und ganz zuletzt, als wir schon seit 7 Minuten im Bus gen Heimat hätten sitzen sollen, steuerte sie den Stand des Fremden und seines Kollegen an, umarmte letzteren und ließ mich mehr oder weniger sinnlos rumstehen, während sie sich lautstark unterhielt.
Offenen Haaren und Seitenscheitel sei dank konnte ich relativ unauffällig nach dem Fremden schielen, der schweigend in die Leere blickend am Tresen lehnte und auf die Apokalypse zu warten schien, die, seinem Blick nach zu urteilen, eintraf, als die Mitschülerin auf ihn zuwirbelte und auch ihn in die Arme schloss. Dank Absätzen war sie ein gutes Stück größer als er und fast wäre er in ihrem Ausschnitt gelandet, hätte er sie nicht gerade noch abwehren können.
Es folgte Smalltalk, ich warf ein "hey, wir müssen LOS!" ein, sie redete weiter, schließlich warf der Fremde ein "Ey, deine Freundin sagt, ihr müsst los" ein und als auch sein Kollege mich wiederholte, löste sie sich endlich von ihrem Opfer und wir rannten 4 Stockwerte und 250m zum Bus, der gerade losfahren wollte und in dem pubertärer Idiot Nr.1 meinen Platz belegt hatte. Super.Grmpf.
Mir blieb also die Wahl zwischen dem freien Platz nebem dem Genie, dem pubertären Idiot Nr.2 oder..."Maaaaayheeeeeeeeem, du kannst zu mir!" Die Mitschülerin hatte einen Doppelplatz erkämpft, wie auch immer sie das geschafft hatte.
Seufzend ließ ich mich auf den Platz neben ihr fallen und hatte eigentlich vor, die Zeit mit möglichst lauter, möglichst abschreckender Musik zu verbringen, bis mir der Kumpel mit der weiblichen Seite einfiel, der sich Sorgen macht und nicht weiß, was mit dem Fremden los ist.
Gedankliches Seufzen, Helfersyndrom vs.me : eins zu null.
"Sag mal, Mitschülerin, woher kennst du eigentlich den Kerl vom Bank-Infostand? Also, den kleinen."
-"Den mit den Hammeraugen meinst du?"
"Ja."
-"Och, der. " Sie überlegte kurz. "Eigentlich ja über meinen älteren Cousin, also den,der verheiratet ist.Wieso?" Breites Grinsen ihrerseits.
Für eine effektive, weil ehrliche Informationsbeschaffung wäre es vermutlich nervig, aber einfach, ihr das zu geben, was sie erwartete.
"Naja. Du kennst doch B. aus meinem Chemiekurs, oder? Mit der bin ich vorhin bei ihm vorbeigelaufen, und die hats total erwischt...und du weißt ja, wie ich bin, dachte, ich könnt ihr eventuell helfen, zumindest mal mitm Namen." Anmerkung: besagte B. existiert nicht, aber das ist der Vorteil, wenn man sich in Kurse eingewählt hat, in die sowieso niemand freiwillig geht. Die Mitschülerin tat nämlich, wie erwartet, als wüsste sie, um wen es geht, und dank meines unendlichen Schauspieltalents fühlte sie sich jetzt wie die Mitwisserin eines großen Geheimnisses.
- "Achso, die B." Noch breiteres Grinsen. Vermutlich würde sie morgen alles rumposaunen und dann sehr verwirrt sein, wenn sie feststellte, dass B. nicht existiert. Hups.
"Ja, B. .. Naja, ich finde, sie hätts ja eigentlich auch verdient, wieder mal wen zu finden, wenn man bedenkt, wies bei ihrem Ex war.. Naja. Also, weißt du jetzt irgendwas hilfreiches oder nicht?"

Als wir das Schulhaus zur abschließenden Anwesenheitskontrolle betraten, wusste ich nicht nur Namen und Alter des Fremden, sondern auch die Namen sämtlicher Geschwister und konnte mir zumindest ein grobes Bild seiner Psyche machen,das nicht nur auf meiner Intuition basiert. Ja, er scheint kaputt zu sein...
Habe außerdem ungefragt ein Statusupdate über sämtliche Beziehungen in unserer Schule bekommen, weiß jetzt, welche Lehrer sich in den Mittagspausen eingehend mit welchen Schülerinnen...intensiv beschäftigen und kenne außerdem die aktuelle Nummer eins der internationalen Charts.


Ich glaube, ich brauche mehr als einen Absteigenbesuch mit sehr heftigem Headbanging, um diese Busfahrt wieder auszugleichen.




Sonntag, 9. Oktober 2011
"Also dann, Ciao." Ich umarme den Studenten kurz, es ist keine richtige Umarmung, aus verschiedenen Gründen. Eher eine auf Distanz.
"Tschüss, bis..keine Ahnung, bis ich wieder in der Gegend bin". Der Student umarmt mich zurück und lächelt und wartet mit dem wegfahren, bis ich im Haus verschwunden bin, um sicher zu gehen,dass mir nichts passiert.
Er ist gerade eben einfach mal so 40km gefahren, 20 hin und 20 zurück, um mich von einer Musikveranstaltung mit darauffolgendem Pub-Besuch heimzubringen.
Weil der Intelektuelle meinte, es wird bei der Musikveranstaltung nach 24 uhr nicht mehr kontrolliert, er habe das gerade mitbekommen, und der Ausweismann Nr.2, während die alte Sache Ausweismann Nr.1 erfolgreich ablenkte, zu mir sagte, ich könne entweder meinen Ausweis zeigen oder gleich wieder rausgehen. Das Ü18-Bändchen hatte man mir ja aus Versehen gegeben, trotz Ausweiszeigen und abgeben, und an diesem einen Abend hätte ich das gerne ausgenutzt. Konnte ich aber nicht, hatten ja den Perso behalten,also raus, zum Pub und später wollten sie wieder hin, der Student war der einzige,der als Fahrer in Frage kam und so blieb mir keine Wahl. Apruptes Ende eines sonst sehr langen Abends, den ich trotz Nüchternheit nur wie durch Nebel wahrnahm.

Los ging es mit Kriemhild und ihrer 30minütigen Verspätung, deren genaue Ursache sich nicht erörtern lies, ich bemerkte lediglich, dass die Stimmung zwischen ihr und ihrem Freund sehr angespannt war. Seltsame Autofahrt,ein paar Zusatzrunden durch die Stadt, weil wir auf der Suche nach der Feindin waren,die wir mitnehmen sollten, schließlich erreichten wir unser Ziel dann doch, stürmten förmlich den Raum.... und standen in einem fast leeren Saal, auf dessen Bühne ein einzelner Mann stand und mit vollem Einsatz Gitarre spielte.
"Hm. Ich brauche Alkohol", beschloss die Feindin und orderte sich ihr Standardgetränk, während es für mich eine Flasche Wasser blieb.
Es folgten ein paar Runden durch den Raum, schließlich die Eroberung von Sitzplatz und einstündiges Warten auf die alte Sache, die mit Schwester und dem Studenten, aber Gott sei dank ohne Freundin auftauchte. Mich freundlich ansah zur Begrüßung, aber irgendwas stimmte da nicht. Mehr Distanz als sonst, und zu meiner grenzenlosen Überraschung stellte ich fest, dass ich diese Distanz erwiderte.
Somit wieder Gesprächsgruppenbildung, wechselnde Gegenüber der alten Sache, Sehbekannte und unsere Sitzecke wurde immer voller,sodass es mir unangenehmerweise die ganze Zeit auffiel, wie der Student neben mir nervös mit dem Bein wippte.
Ich beschränkte mich darauf, laut, selbstbewusst und outgoing zu sein, nicht aus Überzeugung, sondern aus Protest gegen meine eigene depressive, seelenschmerzangehaftete Verletztheit und weil mir das manchmal einfach so passiert, diverse Wortwechsel und freundschaftliche (?) -gefechte mit der Feindin und der Student stellt, als wir von der Bar wiederkommen,lachend fest, dass es ja so ruhig war ohne uns.
Ich setze mich wieder auf meinen Eingequetschtplatz neben ihm und Kriemhild, so ladylike, wie das bei einer Bierzeltgarnitur und Minirock eben geht und konzentrierte mich darauf, die Mitdörfler am Nebentisch mit Blicken zu töten.
Leider gingen sie weder in Flammen auf, noch explodierten sie;im Gegenteil, sie saßen da ganz einfach rum und existierten so vor sich hin.
Immernoch Beinwippen des Studenten, jetzt reden wir immerhin auch mal, er schwankt zwischen dem Versuch, mir in die Augen zu schauen und nervösem Wegsehen, und als ich mit ihr rede meint Kriemhild, er würde mich praktisch dauernd ansehen und ich fürchte, dass es stimmt; hatte er doch vorher schon vermehrt Kontakt gesucht, seit wir uns mal wieder kurz über den Weg gelaufen waren.
Aber immer langsam, alles wird gut, vielleicht ist er einfach generalschüchtern und immer so, denke ich und bitte Kriemhilds Freund,mir aus der Bar doch bitte etwas mitzubringen.Sofort stimmt der halbe Tische ein, und letztlich begleite ich den Kriemhildfreund, weil er nicht alle Gläser alleine tragen kann und es doch so langsam voll geworden ist im Saal.
Die Bar ist ein abgetrennter Raum, laut und warm und stickig,ständig fällt einem jemand betrunkenes vor die Füße oder rempelt einen an, so wühle ich mir meinen Weg durch die Leute, immer dem Kriemhildfreund nach, um nicht verloren zu gehen.
Endlich sehe ich den Tresen in Reichweite, schubse die letzten im Weg Stehenden zur Seite und mich zum Kriemhildfreund.

Als wir zu unserem Platz zurückkehren, sitzt niemand geringeres am Tisch als der Fremde, diesmal in dunkelgrünem Hemd und schwarzem Jackett aus irgendeinem cordähnlichen Stoff, die Schuhe wieder auf Hochglanz poliert und als Kontrast die ausgeblichene Jeans. Er wirkt entspannter als letztes Mal, ausgeglichener, und als ich vorbeilaufe, ernte ich einen Sekundenblick, aber einen ganz normalen, wie man eben guckt, wenn jemand neu dazukommt. Dafür starrt mich der Student mindestens fünf Sekunden lang an, während ich so tue, als würde ich gebannt die Band, die die Bühne betreten hat, beobachten. Ich versuche, ein paar Fetzen aus dem Gespräch der alten Sache mit dem Fremden aufzuschnappen, bekomme aber nicht viel mit.
Der Fremde scheint ein wenig älter als die alte Sache zu sein, vielleicht auch gleich alt, und sie kennen sich aus Musikertagen und über ein paar Ecken über die Freundin der alten Sache. Als der Student mich in eine Diskussion über diverse chemische Prozesse verwickelt,bin ich gezwungen,kurz wegzuhören, nachdem ich mich frei- und ihn in Grund und Boden diskutiert habe, ist das letzte, was ich vom Fremden höre, bevor er aufsteht und weggeht:"Nein alte Sache. Damit musste ich abschließen und habe das auch getan. Also fange ich nicht jetzt wieder an..." Und wieder was verletztes da. Dann verschwand er Richtung Bar.


Jung und abgefuckt,
abgefuckt im Takt,
taktvoll taktlos das,
takt hier takt der Bass

Ich gehe tanzen irgendwann, stehe immerhin nicht alleine vor der Bühne, und als danach eine Metalband auftaucht bleibe ich gleich stehen, habe dafür aber bald die Schwester der alten Sache neben mir.
In einer Haarschleuderpause schreit sie mir irgendwas ins Ohr, ich verstehe trotzdem nichts.
"Was??",schreie ich zurück. Sie zieht mich zu sich rüber und in einer Lautstärke, die mein Ohr jetzt noch pfeifen lässt,eröffnet sie mir "Ich glaub der Student will was von dir!"
-"Nein,glaub ich nicht!"
"Doch, der starrt dich den ganzen Abend an und hat vorhin dauernd erzählt, wie toll er es findet, dass du heut auch da bist!"
Ach Scheiße, zerstör mir doch nicht meine mühsam aufgebaute Illusion.
Sie fährt fort:"Er is ja auch n ganz lieber."
Ich unterbreche das Gespräch durch impulsives Headbangen. "N ganz lieber" ist in diesem Fall gutes Material für eine Freundschaft, so Leid er mir tut für alles andere aber nicht.
Ich dachte mir, vielleicht lag es ja an meinem Rock. Der war ja ziemlich kurz, eventuell waren diese Anzeichen bei ihm bis morgen abgeklungen und die Welt wieder in Ordnung.

Tja. Als wir zum Pub liefen, hielt er sich beständig neben mir, saß mir dann gegenüber, redete zwar nicht viel, beobachtete aber umso mehr, gerne auch mich.
Die alte Sache unterhielt unsere überschaubarer gewordene Runde, die nur noch aus dem Studenten, der Feindin, seiner Schwester, ihm und mir bestand, bis der Bruder seiner Freundin auftauchte, dann wurde dieser interessanter.
Gelegentlich noch ein bisschen Halbsmalltalk mit mir, und ich verkraftete es erstaunlich gut.
Er sah mich direkt an und ich traute mich, seinem Blick standzuhalten, hielt es sogar eine Viertelsekunde aus, ohne Angst zu haben, er würde es sehen, die Gefühle.
Der Bruder mustert mich mehrfach, er ist einer er ganz trven frostbitten Evil-Metal-Menschen, traut sich aber trotzdem erst nicht, mit mir zu reden, wirft schließlich einen Blick auf meine Tätowierung, hat somit ein Gesprächsthema gefunden und später liefern wir uns eine kleine Schubs-Schlacht, in der er bei aller "Evilness" nicht verbergen kann, dass er doch eigentlich definitiv noch nicht erwachsen und ultrafinster ist.
Erwachsen? Was erwarte ich, er ist ja nur ein bisschen älter als ich...
Schien ihn auch sehr zu irritieren,dass ich anders bin anscheinend,aber da war eindeutig noch was, überhaupt schien ich an diesem Tag bei einigen Leuten irgendwas zwischen Irritiertsein und Faszination auszulösen. Vielleicht lag es daran, dass ich meinen Haaren die Tönung entzogen und sie somit wieder in Richtung naturrot gebracht hatte.
Oder der Lidstrich saß besser.

Der Evilmetalbruder war noch ein wenig evil, die alte Sache redete, der Student guckte, und irgendwann war es 2 Uhr und der Intellektuelle, ein ehemaliger Klassenkamerad der alten Sache, betrat den Pub und wollte uns wieder mit "rüber" nehmen, es würden auch keine Ausweise mehr kontrolliert werden.
Also, bezahlen, rüber, rein- so halb.
An der Tür wurde ich ja aufgehalten, vom Türstehermenschen.
Bevor mir allerdings das passierte, hörte ich noch etwas von drinnen und konnte einen kurzen Blick rein werfen.Kein Frittenbude mehr. War ja auch open stage seit 22 Uhr, jeder, der will,kann auf die Bühne und spielen.Konzentration, dann hörte ich immer mehr.
Erst nur Gitarre, aber gut gespielt. Die Melodie kam mir bekannt vor, aber der Rhythmus..
Dann auf einmal Text, gesungen von einer sehr melancholischen, leisen und etwas rauen Stimme.
"We'll do it all
Everything
On our own..
"
Ich stellte mich auf Zehnenspitzen und schubste den Evil Metal Bruder ein Stück zur Seite, immerhin, eine halbe Bühne sah ich, leider die falsche Hälfte.
"We don't need
Anything
Or anyone.
"

Dann stolperte ich, drängte so den Metalbruder an die Wand und mich ein Stück nach vorne, und mir ging nicht nur ein Licht auf, um welches Lied es sich handelte, sondern ich sah auch, wer da war.
"If I lay here
If I just lay here
Would you lie with me and just forget the world?
"
Auf der Bühne saß der Fremde, klein und einsam auf einem Stuhl, mit geschlossenen Augen und einer Gitarre, und spielte Chasing Cars von Snow Patrol in einer ganz eigenen Version, die er gerade in seinem Kopf zu schaffen schien, überhaupt schien er gerade ganz in seinem Kopf zu sein.
Vor der Bühne war keine einzige Person zu sehen, ein einzelner Scheinwerfer leuchtete die Stelle, auf der der Fremde saß, an, und man sah sein müdes Gesicht und die verwuschelten Haare und die abgewetzte Jeans und hörte ihn singen und spielen.
Gänsehautfeeling.
Und schlagartig stand er auf, mitten im Lied, öffnete die Augen,stellte die Gitarre ruckartig weg,und stürmte beinahe von der Bühne, mit glasigem Blick, raus aus meinem Blickfeld und war so plötzlich weg, wie ich ihn gehört hatte.
"Ausweise bitte, oder willste gleich wieder raus?"
Der Türstehermensch guckt mich an, nichtmal unfreundlich, und ich habe ein schlechtes Gewissen und leider passt mein Geburtsdatum nicht zu meinen Ausgehplänen,also sage ich zum Studenten, er muss mich heimfahren, mache auf dem Absatz kehrt und laufe wieder durch die halbe Stadt, bei klirrender Kälte, weil er sein gottverdammtes Auto nicht in der Nähe geparkt hat, sondern ewig weit weg.











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Zitate aus: Jung, abgefuckt,kaputt und glücklich von Frittenbude
Chasing Cars von Snow Patrol.




Freitag, 7. Oktober 2011
Thema: gefunden.
Perhaps love is like the ocean,
full of conflict,
full of pain.
Like a fire when it's cold outside,
thunder when it rains.
If I should live forever and all my dreams come true,
my memories of love will be of you.

(aus perhaps love von John Denver)

Irgendwie tut loslassen doch mehr weh als gedacht.




Dienstag, 4. Oktober 2011
Samstabend bis Sonntagmorgen.
Nach mehrstündigem Weltuntergang stürmte ich mehr oder weniger aus dem Haus und direkt in die Arme des Kumpels mit der weiblichen Seite, der mich zum gemütlichen FIlmegucken eingeladen hatte.
Meine Motivation hielt sich eigentlich stark in Grenzen, aber er hatte sich darüber beklagt, mich schon so lange nicht mehr gesehen zu haben, also tat ich ihm den Gefallen, zum Dank strahlte er mich die ganze Autofahrt lang an und ich durfte fast eine Packung grünen Tee von ihm mitnehmen, die aufgrund meiner Vergesslichkeit später leider bei ihm zurückbleiben sollte.
Während wir die Endlostreppen zu seiner Wohnung erklommen, redete er, wie zuvor bei der Hinfahrt auch, nonstop, erzählte von der Arbeit, von seiner Freundin, wie dankbar er mir war, dass er sie gefunden hat und mit ihr zusammen ist, von seinem Patenkind, von seinen Neffen, vom Grillen mit der alten Sache, wie dankbar er mir ist, dass er dank mir diese Gruppe kennt, vom weggehen...
Als wir oben ankamen,war ausnahmsweise mal nicht ich diejenige, die außer Atem war.

Unsere Filmauswahl wurde sehr stark eingeschränkt durch die Tatsache, dass der Kumpel mit der weiblichen Seite sich auf die DVDs beschränken wollte, die sich in seinem Regal befanden und auch hier gegen einige Abneigungen hegte, vorzugsweise gegen die, die ich mir gerne angesehen hätte. Irgendwann einigten wir uns auf Männer, die auf Ziegen starren, der zwar eher semi-gut, aber immerhin ein Kompromiss war, und nachdem der Kumpel sein dringendes Bedürfnis, um 22Uhr zu kochen, ausgelebt und jeder von uns einen Teller fleischlose Tortellini mit Tomaten-Mozarella-Basilikumsoße auf dem Schoß, ein Getränk vor sich und er zusätzlich noch sein Handy und den Laptop mit dem Killerspiel seiner Wahl im Standby neben sich hatte, konnte der Film endlich starten. Eigentlich.

Unterbrechung Nr.1 stellte ein Anruf der Kumpelfreundin dar, der aber relativ schnell geklärt und beendet wurde. Ich konzentrierte mich in der Zeit voll und ganz auf den Film.
Unterbrechung Nr.2 stellte ein Anruf einer guten Freundin von ihm dar, die bei mir akute Aggressionen auslöst, weil sie laut und hirnlos und "ich bin ja sooooo verrückt, ist das nicht endcool?" ist. Ich konzentrierte mich in der Zeit darauf, meine Tortellini mit der Gabel zu Matsch zu verarbeiten, Sie sollten das auch mal versuchen, wirkt fast so gut wie ein Antistressball.

Als auch dieses Hindernis überwunden war, konnten wir immerhin die letzten 15 Minuten des Films ungehindert sehen, danach widmeten wir uns dem Ballerspiel seiner Wahl, bzw. er spielte und ich gab (meiner Meinung nach halb-hirnlose, seiner Meinung nach extrem witzige) Kommentare ab, bis es an der Tür klingelte.
Brummeln des Kumpels, Blick auf die Uhr. Naja, war ja erst halb 2. Vielleicht passte sich die Post ja jetzt an die Verspätungen der Deutschen Bahn an, überlegten wir. Während er sich, gutgläubig wie immer, ohne die Sprechanlage zu betätigen zur unabgeschlossenen Tür bewegte und diese öffnete, suchte mein durch Leben in der Landidylle geschultes Auge den Raum nach potentiellen Waffen ab, die zur Verteidigung seines Lebens dienen konnten.
Außer dem Kreuz an der Wand, der Bibel im Regal und Tim Mälzers Kochbuch fand ich leider nichts, was auch nur ansatzweise ein entsprechendes Format hatte. Im Bad lagerte der Kumpel für sämtliche weibliche Freundinnen Deo, Schminke und Damenhygieneartikel,meine Chancen, einen Betrunkenen/potentiellen Axtmörder mit einem Tampon in die Flucht zu schlagen, schätzte ich allerdings nicht so gut ein, und so blieb ich sitzen, trank noch einen Schluck, stellte die Teller zusammen und wollte das Level des Computerspiels für den Kumpel zu Ende spielen,als er wieder den Raum betrat, nicht blutüberströmt, aber in ein Gespräch mit irgendeinem Bekannten vertieft.

Letzterer schien mich nicht weiter zu beachten, wurde aber vom Kumpel auf den Platz neben mich geschubst, bevor er sich ans andere Ende quetschte. Aufgrund der Winzigkeit des Sofas saß ich quasi Oberschenkel an Oberschenkel mit dem Fremden, der weiter mit dem Kumpel redete. Die beiden schienen gute Freunde zu sein, standen aber relativ stark im Kontrast zueinander. Während der blondgesträhnte Kumpel mit der weiblichen Seite alias der Sonnenschein in Person Poloshirt, magentafarbenen Schal und standard-zu-große Jeans trug, laut redete und noch lauter lachte, haftete dem Fremden ein bisschen was von "Künstlerseele" an,nicht genau nachvollziehbar, wieso.
Als er so neben mir saß und fast im Sofa zu verschwinden schien, mit zerzaustem, mausbraunem Haar und einem schwarzen, penibel glattgebügelten Hemd und glänzend polierten schwarzen Schuhen,die in leichtem Kontrast zur ausgeblichenen Jeans standen, stellte ich fest, dass ihn angenehmerweise nicht die "Überdosis Axe-Deo"-Gestankswolke, die ich an männlichen Pubertisten und solchen, die es gerne wären, zwischen 12 und 19Jahren standardmäßig und auch 30Meter gegen den Wind wahrehmen muss, umgab. Ganz großer Pluspunkt, dank dem mir auffiel, dass ich in letzter Zeit eindeutig zu oft in der Schule und zu selten unterwegs war. Ich sollte wieder öfter weggehen, bevor meine Nase komplett abstumpft.
Seine ganze Art war das komplette Gegenteil zum Kumpel, der Fremde redete leise und mit ruhiger Stimme, man konzentrierte sich automatisch,wenn er sprach, damit man überhaupt etwas davon hörte.

Irgendwann endete die Diskussion über den anstehenden Beatabend, der der erste war, bei dem "kein Einlass unter 18 Jahren" galt, und der Fremde wühlte sich aus dem Sofa hervor. Mir fiel auf, wie klein er war,bestimmt nahezu einen Kopf kleiner als ich, wenn wir uns gegenübergestanden hätten. Er strich sein Hemd glatt, hob zum Abschied die Hand in Richtung Kumpel und schickte sich an, zu gehen.
Im Türrahmen drehte er sich nochmal um, ich dachte, er habe etwas vergessen und wollte zum leeren Platz neben mir schauen, vielleicht lag ja sein Geldbeutel da.. dann sah er mich an.
Mir direkt in die Augen. Seine waren hell,graublau, wasserfarben, nein, Wolfsaugen.
Es lag etwas in ihnen, das mich verunsicherte.
Etwas verletztes.
Und auf einmal war er weg, im Umdrehen noch ein leises "Ciao", Tür zu.

Ich zermarterte mir das Hirn, ob ich ihn irgendwoher kannte, beschloss dann aber, lieber den Kumpel zu interviewen, wer das gewesen sei und ob bei ihm alles soweit ok wäre.
"Och der ist eher der ruhigere Typ und schnell mal verunsichert", erklärte der Kumpel. " Wüsste jetzt nicht, ob er zur Zeit mehr um die Ohren hat als sonst, aber hast schon recht, bisschen traurig wirkt er ja..(Ich habe nicht traurig gesagt, sondern melancholisch-verletzt, das ist ein Unterschied!)..aber naja. Ich bin ja nicht sein Psychater und da auch froh drüber. Der Kerl ist ein einziges Rätsel, den kann man nicht verstehen."
Hm. Half mir auch nicht weiter und erklärte nicht seinen Blick.
Ich beschloss, das Thema ruhen zu lassen, der Kumpel fügte aber noch hinzu "Er geht übrigens auch öfters mal in die Absteige, vielleicht kennst du ihn ja von da?".
Oha. Stichwort Absteige.
Weiteres Grübeln brachte mich zum Ergebnis, ihn dort, wenn überhaupt, nur unbewusst gesehen zu haben, und als der Kumpel hinzufügte, dass man den Fremden entweder in der Bar oder im Backstagebereich fand, kam ich zu dem Ergebnis, dass er wohl wirklich zu den gescheiterten Künstlerseelen gehören musste, denn nur die und solche, die glauben, sie seine welche, fand man dort.Letztere, weil sie zu den Künstlerseelen wollen, erstere, weil sie flüchten wollen und ihnen als einzige Möglichkeit nur noch Wodka pur bleibt.

Der Kumpel bestätigte meinen Verdacht,bevor ich etwas sagen konnte, und schien ernsthaft emotional involviert.
"Ja ok..manchmal mach ich mir schon Sorgen um ihn, er sagt ja nicht, wenn was nicht passt, und ich weiß nicht, ob er halt einfach soooo ruhig ist oder ein Problem hat,mit dem er nicht alleine klarkommt, aber wenn er dann alleine auf seinem Hocker sitzt und so traurig aussieht mit seinem leeren Glas vor sich.... du weißt schon".
Erinnerungsflash. Ich schlucke.
"Ja, ich weiß."
Schweigen, in mir meldet sich langsam und ganz leise das Helfersyndrom oder irgendeine neue Abart davon,die sich spontan ausgebildet hat, und nachdem der Fremde mit den Wolfsaugen den Kumpel wirklich zu beschäftigen schien, stellte ich die Standardfragen:"Vielleicht hat er ja Probleme mit seiner Freundin? Oder auf der Arbeit?"
"Glaub nicht, dass er aktuell ne Freundin hat..",überlegte der Kumpel mit der weiblichen Seite, "wie es mit der Arbeit aussieht, weiß ich nicht. Er arbeitet ja als Finanzbeamter, was genau, keine Ahnung. War ganz überrascht, als er das vorn paar Jahren erzählt hat, das er da seine Ausbildung abgeschlossen hat, ich kannte ihn noch von damals aus der Schule, als er noch in seiner Band gespielt hat, er war im Jahrgang über mir."
Ha, Knackpunkt eventuell gefunden.
Ein weiterer Anruf der Kumpelfreundin beendete das Thema aprupt und danach schien es der Kumpel schon wieder vergessen zu haben.
Bis ich nach Hause und er zur Frühschicht in der Klinik musste, spielten wir noch ein paar Level durch und ich war immerhin zeitweise abgelenkt, aber ein bisschen Gedanken um den Fremden machte ich mir schon. Helfersyndrom eben.


Als wir uns verabschiedeten, sagte ich dem Kumpel, er solle ein bisschen auf den Fremden aufpassen. "Ich kenne ihn zwar nicht, aber ich kenne solche Leute, oder zumindest seinen Zustand. Vielleicht braucht er auch einfach einen guten Freund mit starker Schulter zur Zeit, warum auch immer."
Der Kumpel überlegte, holte tief Luft und meinte schließlich: "Der sieht im Moment glaube ich eher seinen Alkohol als Freund, aber behalt das bitte für dich, ich wollts dir vorhin nicht sagen.
Wenn ihm überhaupt jemand helfen kann, dann nur so jemand wie du."
-"Jemand wie ich?" Ehrliche Überraschung meinerseits.
"Ja. "
-"Wieso das?"
"Weil du oft genauso traurig wirkst, aber die stärkste Person bist,die mir bis jetzt begegnet ist (dabei kennt er nichtmal die Hälfte meiner Geschichte..), und die menschlichste noch dazu. Und weil du ohne viele Worte verstehst, und auch dann noch helfen willst, wenn alle anderen schon sagen, lass gut sein."

Und genau das ist mein Problem.