Sonntag, 27. September 2020
Die große Stadt, die meine ist, zieht tagsüber unter meinem Fenster vorbei und schaut mir nachts, wenn ihre Menschen schlafen und sie Atempause hat, bei meinem Ringkampf mit Wahrscheinlichkeiten und menschlichen Belastungsgrenzen zu.

Definitionsteil: Gekürzt, bald abgabereif
Yoga: Ich hab Bizeps!
Hauptteil: monströse Baustelle auf einer zwölfspurigen Autobahn durchs Weltall während der galaktischen Rush Hour
Mediävistik-Hausarbeit: 1,0 samt persönlicher Mail der Dozentin, sie fand mich schon immer cool und wenn ich im Studium bisschen weiter wäre, würd' sie mich glatt als ihre neue Doktorandin adoptieren, wenn sich da mal was tut und sie dann noch nicht in Rente ist, soll ich einfach Bescheid sagen
Einleitung und Schluss: kommt noch
Dissoziationsnebel: wabert
Fertig: Bis heute Abend/Nacht
Wie soll das gehen: Weiß ich nicht, muss ich auch nicht, hab das so beschlossen und das reicht. Perspektive und Hoffnung sind für Anfänger, Profis navigieren auch ohne Kompass durchs Chaos.



Forever uphill atop the remains
Of missed chances, of hope and innocence
The withered bones of those who failed
But more so of those who didn't even try




Samstag, 19. September 2020
Legolas ist in der Gegend und möchte mich sehen.
Das passiert alle Jubeljahre mal; nachdem das Abi geschafft war und er zum Studium aufgebrochen ist, hat er so gut wie alle Brücken gesprengt, von ein paar wenigen Ausnahmen abgesehen. Mich zählt er dazu, weil ich die eine Person war, die Anteil genommen und seine zerbombte Psyche verstanden, ihm dabei aber nicht gesagt hat, dass er viel zu alt ist und doch Handwerker bleiben soll und einfach ein paar Bier mehr trinken, sondern, dass er das verdammte Abi machen, sich selbst ins Gesicht schauen und seinen Arsch zur Therapie schleifen und seinen Scheiß auf die Kette kriegen soll, weil Kopfkrieg ein Grund ist, aber keine Ausrede; ich zwar nicht nur sehe, wer er ist, sondern auch, wer er sein könnte, aber Potenzial alleine aber nichts bringt. Entweder man nutzt es, oder man lässt es (und ist konsequent genug, das zuzugeben und zu akzeptieren). Beides legitim, erstgenanntes wohl anstrengender.
Er ist überzeugt davon, dass ich ihm Leben und Verstand gerettet habe und attestiert mir das Talent, gleichzeitig zutiefst empathisch und gnadenlos zu sein, oder, in seiner pathetischen Art: "Manche Frauen sind gleichzeitig ein Heimathafen, ein Schlachtfeld und der Krieg, der darauf tobt. Du bist zusätzlich noch Kapitän und Feldherr." Manchmal möchte ich seine Sätze einrahmen und an die Wand hängen.

In effizienter Legolas-Manier werden sämtliche notwendige Treffen auf einen Tag gelegt und sich dabei schrittweise in Richtung meiner Stadt vorgearbeitet, weil dort ein großer Bahnhof ist und ein Kumpel, bei dem er übernachten kann. Der letzte Termin ist also ein Treffen mit mir in meiner Stammkneipe, was auch dem Umstand entgegen kommt, dass ich aktuell Betonknochen und Bleiblut habe und es somit ein immenser Kraftakt ist, überhaupt aus dem Bett zu kommen und sich dann noch in einen Menschen zu verwandeln.
Etwa eine Stunde vorher bekomme ich eine SMS (er hat kein Smartphone und keine Flatrate, außerdem sind auf der Strecke diverse Funklöcher,anrufen ist deshalb aus seiner Sicht oft unsinnig) : 'Unterwegs. Aber teilw.alte Band spontan dabei. Ok? Sonst Sorry.'
In Anbetracht der aktiven Szenejugend Legolas' ist das keine sehr aufschlussreiche Information, wenngleich natürlich gewisse Wahrscheinlichkeiten vorhanden sind, also versuche ich, ihn anzurufen, um sicherheitshalber nachzufragen.

Und dann sitze ich mit Legolas, Aquaman und Mr.Gaunt in meiner Stammkneipe.
Also, nicht tatsächlich "in", Innenräume sind ja gerade so ne Sache, aber der Stammkneipenwirt hat kurzerhand das halbe Inventar in seinen Privatgarten getragen (inklusive Instrumente), also sitzen wir eigentlich schon in der Stammkneipe, aber eben ohne in der Stammkneipe zu sitzen.
Die Kneipenkatze lässt sich vom Umzug nicht irritieren und sitzt auf ihrem Barhocker; dem einzigen, der, ohne Bar etwas deplatziert wirkend, rumsteht. "Die hat gemeckert und geschimpft, bis ich ihr den rausgetragen habe", erklärt der Stammkneipenwirt, "Katzen halt".
Legolas und ich, die Katzenmenschen, nicken verständnisvoll, Aquaman und Mr.Gaunt, die Hundemenschen, sind verwirrt,warum könne die Katze denn nicht wo anders sitzen, und warum trägt man ihr extra einen eigenen Barhocker raus?
"Weils ne Katze ist, darum." Hilfreiche Erklärungen kann ich.

Die Runde ist seltsam, aber nicht unangenehm; ich bin faszinierend souverän und stelle fest, dass es sowas wie Persönlichkeitswachstum gibt und ich das wohl gemacht habe.
Anfangs alles etwas seltsam, ist zwar schon einige Jahre her, aber ich bin eben trotzdem die Ex, mein Herz wurde fies gebrochen und dass er fremd gegangen ist und behauptet hat, wir hätten darüber geredet, habe ich ja erst später erfahren und ihn dann auch nie darauf angesprochen. War mir den Aufwand nicht wert, ist es auch heute nicht; habe mit dem Mann abgeschlossen, er ist in der Bedeutungslosigkeit versunken.

Mit der grundlagenlosen Selbstsicherheit, die sie schon früher mir gegenüber hatten, als ich 19 war und aufs Studium zusteuerte, wollen Aquaman und Mr.Gaunt wissen, was ich eigentlich so gemacht habe die letzten Jahre?
" Paar Umzüge und seltsame bis traumatische WGS, paar gute, paar seltsame und paar traumatische Beziehungen, erfolgreiche Psychotherapie, Theater, Rollen-Workshops und Regie, Yoga, paar Praktika und Nebenjobs, aktuell schreibe ich meine Abschlussarbeit, habe die ersten Master-Prüfungen hinter mir und wenn eine von denen, die noch muss, gut genug ist, wird sie zusammen mit einem Projekt des Dozenten publiziert und ich stehe somit namentlich in einer wissenschaftlichen Veröffentlichung. Und ihr so?" Außerdem habe ich mich selbst und alles andere überwunden, was sich mir in den Weg wirft, mehrfach, immer wieder, gnadenlos. Ich muss mich nicht beweisen, es reicht, wenn ich was aus der Realität erzähle.

Aquaman ist beeindruckt, er habe mich früher wohl unterschätzt. Er gratuliert mir zu sämtlichen Erfolgen und vor allem zur Therapie, sowas könne sehr viel helfen, er sehe das ja auch bei Legolas. Anfangs habe er das schräg gefunden, aber seine Meinung da geändert.Er selbst habe sich Saufen und Misanthropie abgewöhnt, mit seiner Freundin eine Paartherapie gemacht und sie dann geheiratet (Nachwuchs in Arbeit, erstmal müsse sein inneres Kind heilen) ein Blues-Projekt gestartet und baue gerade ein Haus. Außerdem lernt er Häkeln, das sei gut für die Beweglichkeit beim Gitarrenspiel und seine Freundin-jetzt-Frau habe dauernd so einen handgearbeiteten Totenkopf-Dreiecksschal angehimmelt, also hat er beschlossen, ihr sowas zu machen.
In jeder Farbe, die sie will. Und eine dazu passende Decke. Also wird gehäkelt. Auch vor Auftritten und manchmal danach. "Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss. Und wenn es die Herstellung pastellfarbener Häkelwaren ist."

Mr.Gaunt ist gerade auf Wohnungssuche, weil er die letzte Traumfrau (Umzug nach drei Tagen, kurz darauf Verlobung) auf einmal irgendwie doch nicht mehr so toll fand und Schluss gemacht hat. Halbwertszeit diesmal immerhin eineinhalb Jahre, ansonsten gleicher Verlauf wie bei mir und nach mir: von "du bist alles, was ich gesucht habe" zu Indifferenz und "hm, vielleicht doch lieber nur Bekannte oder Freunde sein".
Außerdem, und das reiht er explizit bei den wichtigen Informationen und Leistungen ein, spielt er nicht nur in drei Bands, sondern er trinkt auch gerne Alkohol und raucht gerne Zigaretten.
-"Sieht man", meine ich schlicht (und vergleiche im Geiste mit dem Halbgott, als der er mal gegolten hat und mir erschienen ist). Er fasst es als Kompliment auf, glaube ich; jedenfalls spricht er wieder vom Rock'n'Roll-Lifestyle, live fast, die young und dem ganzen Kram.
Aquaman lacht, Musik könne er ja immer noch, aber die 28 hat Mr.Gaunt jetzt doch schon eine ganze Weile überschritten. Der ist natürlich vorbereitet und sagt, er ist der nächste Lemmy.
Ich schaue mir den bierbäuchigen, verlebten Kerl neben mir an, mit seinem nach hinten wandernden Haaransatz und dem ungepflegten Bart. Seine Nase und Wangen sind permanent rot, mein schlanker, stolzer ZweiMeterWikinger mit der fast schon greifbaren Aura ist ein etwas weniger grauer und etwas weniger bunt angezogener Santa, den irgendjemand aus der Kanalisation gefischt hat, geworden.
Auch Götter haben eine Halbwertszeit und werden von der Realität zersetzt, egal, ob sie vor ihr wegrennen oder sie gar nicht erst sehen wollen. Erst recht dann.

Ich schaue konzentrierter hin, versuche in seinem Gesicht etwas zu finden, was da früher vielleicht mal war.
"Was schaust du denn, suchst du was?", fragt er mich, es klingt nach Nervosität und Unsicherheit und riecht nach Rum und Aschenbecher, "die Piercings hab ich rausgenommen, ging aufs Zahnfleisch."
Sogar die Augenfarbe wirkt anders, macht vielleicht der umliegende Gelbstich.
-"Ich hab geschaut, ob du anders bist."
Mr.Gaunt spielt entrüstet. "Neee, was soll sich denn an mir verändert haben? Vielleicht hast du dich ja verändert, ich bin jedenfalls immer noch genau der Gleiche."




Dienstag, 15. September 2020
"(...)
Erblickt denn zum letzten Mal den Tag. Ich habe nichts anderes getan als die Freiheit gewählt,
Ihr aber das Grab.
Wie Ihr gehe ich einen einsamen Pfad.
Er führt steil hinan.
Ihr seht in die Nacht, und ich sehe in die Sonne, ich wende meinen Blick nicht ab.
Wer vermöchte zu schauen, was ich erblicke, und wer vermöchte mir zu folgen?
Ich erfülle, was ich bin.
Ich versenke Himmel und Hölle in mir und verschließe sie in meiner Brust.
Wer leben will, muss das Ungeheure tun, Sterben allein ist kein Verbrechen.
Ich verwerfe den Segen, und ich greife nach dem Fluch.
(...)
So lebe ich.
Ich will nichts erkennen als mich selbst.
Ich will niemanden lieben als mich selbst.
Ich verlasse dieses Land.
Ich trenne mich von meinem Ursprung.
Wie eine steile Flamme schieße ich hinauf in das Grenzenlose. Ich verbrenne, was mich berührt, ich zerstöre, was sich mir entgegensetzt.
Ich frage nicht, wohin mein Fuß mich treibt, ich habe keine Frage mehr.
Ich habe mich der Welle übergeben, die mich trägt.
Gegrüßt sei die Küste, die mich erwartet, der Fels, an den ich geworfen werde, der Strand, der meine Heimat sein wird.
Ihr aber seid ein verwundetes Tier, das allein sterben muss.
So gehe jeder seinen Weg. Ihr in die Nacht und ich in einen unbekannten Tag.
"
(aus: Dürrenmatt, Friedrich: Der Blinde)




Samstag, 5. September 2020



Erfahre am Montag, ob ich zwei Wochen Verlängerung für die Abschlussarbeit kriege. Es sieht gut aus: die Therapeutin hat Himmel, Hölle und alles dazwischen beschworen und in Briefform gebracht, kurz waren wir überrascht, als wir festgestellt haben, dass es keine Übertreibung ist,nichtmal ein bisschen, sondern der tatsächlichen Realität entspricht.
Zwei von drei Instanzen sind überzeugt, die dritte wird sich am Montag melden, wurde aber prophylaktisch bereits telefonisch von der Therapeutin heimgesucht, dem Betreuer erscheint eine Verlängerung ebenfalls logisch, wäre doch irgendwie doof, wenn eine unverschuldete Krise mir die akademische Karriere versaut.
(ER SIEHT ANSCHEINEND DIE MÖGLICHKEIT EINER AKADEMISCHEN KARRIERE! Euphorie und schlagartig hochgeschraubte Selbstansprüche an die Abschlussarbeit nehmen sich an der Hand und tanzen über die verminte Spielwiese meines Verstands)

Nachdem alles in die Wege geleitet ist kommt die große Erschöpfung.
Nur wenig geschrieben, dann ein Tag Pause, dann gerade mal zwei Stunden am Rechner, Definitionsteil prägnanter fassen, sprachlich aufmöbeln, natürlich noch nicht fertig damit - kommt davon, wenn man sehenden Auges in Forschungsfelder einmarschiert, in denen sich über die Jahrzehnte selbst Koryphäen verlaufen haben und nie wieder aufgetaucht sind; nur, um sich dann auch noch eine Ecke auszusuchen, die sich weder Koryphäen noch Normalsterbliche bisher so genau angeschaut haben. Oder überhaupt.
Genau genug sein, aber den Rahmen nicht sprengen, Fässer aufmachen und auf den Grund tauchen, aber nicht zu sehr, die ewige Herausforderung. Eigentlich müsste ich schon alleine deswegen noch einen Doktor anhängen, um endlich mal gründlich alles ausbreiten zu können; die ganzen "ok, das ist skurri- Halt, ich glaube, ich hab da was festgestellt"-Momente mal gnadenlos raushauen. Wie der Typ, der eine meiner Quellen des Definitionsteils stellt. 600 Seiten Wälzer, in einer Randbemerkung erfährt man, dass es sich um die für die Veröffentlichung etwas gekürzte Doktorarbeit handelt, absolute Gnadenlosigkeit im Bewusstsein, gerade einen kompletten Diskurs auf den Kopf zu stellen, und zwar gründlich, stilistisch und gedanklich unüblich und selbstbewusst, weil mans einfach kann.
Hat geklappt, er schwurbelt nämlich nicht nur, sondern hat tatsächlich was auf dem Kasten. Ich stelle mir sein Gehirn vor als einen riesigen Abgrund, aus dem alles mögliche und unmögliche an Wissen aufsteigt, sich in Anfällen spontaner Genialität zusammen findet und dann von ihm aufs Papier geworfen wird.

Der Thekenzwerginmann ist davon überzeugt, dass es sich dabei um eine Vision meiner Zukunft handelt, sofern ich nicht doch Coaching, Human Ressources oder Weltherrschaft anpeile, da sieht er mich ja eigentlich.
Sogar Papa Mayhem glaubt mittlerweile an mich, wenn er auch etwas daran zweifelt, ob man mir wirklich die Weltherrschaft anvertrauen sollte. Aber so ein bisschen Großartigkeit?
" Du bist so einer von den Menschen, die so ein Unikat sind. Die können gar nicht in der Masse untergehen. Die gehen an sich selber unter, oder in die ganz, ganz andere Richtung, so weit, wie man sich das gar nicht vorstellt als Normalbürger."


Ob genial-wahnsinnige oder wahnsinnig geniale Beiträge zur Forschung, Weltherrschaft oder sonstige Späße, damit das klappt, muss es mit der Abschlussarbeit klappen.
Ich pendle also weiter schwungvoll zwischen Krise und der besten aller Welten. Ringe um jede Minute Arbeiten und übe, zu vertrauen.
Mir, meinem Hirn, und der Neigung des nicht vorhandenen Schicksals, zuverlässig zufällig Skurrilitäten und Großartigkeiten zu produzieren.
Quasi Business as usual, nur irgendwie lauter, brutaler und von etwas größerer Tragweite.
Augen auf und durch.