Dienstag, 7. Februar 2012
Thema: monolog
1.

Stehen uns so gemeinschaftlich die Beine in den Bauch, die Kollegstufe, die nicht mehr so heißt seit dem G8, zusammengehalten wie eine Schafherde von der Betreuungslehrkraft, die sich schwer und mächtig stetig im Kreis um uns herum bewegt, als würde sie Angst haben, dass sich einer von der Gruppe entfernt und auf dem Bahnsteig verloren geht, und warten.
Dann und wann fährt ein Zug vorbei, jedes Mal ist es nicht unserer, einmal steigt trotzdem jemand ein,weil er es nicht mitbekommen hat, kommt aber gerade noch rechtzeitig wieder raus, um weiter mit uns zu warten, und während wir da so in unserer Herde stehen, mit hochgezogenen Schultern, die Gesichter in dicken Schals vergraben und die Füße gefühlt durch die Schuhe hindurch festgefroren, warte ich eigentlich nur noch auf Schnee, doch ein Blick aufs Ei-Phone des Kommentators offenbart, dass es mit -21,5 Grad selbst für Schnee zu kalt ist.
I
In meinen Ohren The Noose in der von mir nicht online gefundenen Studioversion,eines der Lieder, auf die "atmosphärisch" passt, auf meinen Ohren die Plüschohrwärmer, die dafür sorgen,dass ich zwar mit Abstand am seltsamsten aussehe, aber es auch mit Abstand am Wärmsten habe. Zumindest am Kopf.
Leider kann ich es nicht wie die Freundin des Problems handhaben, die sich fröstelnd an ihren Freund kuschelt und ebenfalls auf den Zug wartet, der, bevor er in der Zivilisation ankommt, zunächst jede Häuseransammlung ansteuert, die sich irgendwie an die Gleise gedrängt hat, und somit auch ihr Heimatdorf.
Irgendwann sieht man ihn dann, den Zug, ein schnaufender, dampfender roter Schrotthaufen, der sich behäbig den Berg hinaufquält, gefühlt fast wieder rückwärts hinunterrollt, es aber dann doch schafft, vor uns zum Stehen zu kommen.
Beim Einsteigen die charakteristische Gestankswolke, eine Mischung aus Alkohol, ein wenig Urin und daraus entstandenem Ammoniak, jahrealtem, unter die Sitze geklebten Kinderkaugummi und im ungünstigsten Fall irgendein Wurstbrot, das zuvor verspeist wurde oder eben immernoch daliegt.
Ohne Blondinenfraktion von ungewohnter Stille umgeben, suche ich mir ein Abteil, in dem noch niemand sitzt, und will mich gerade darüber freuen, als die Tür aufgeht und die Problemfreundin ihn hinter sich ins Abteil zieht. "Ey, ich sollt vielleicht bei meinem Kurs bleiben", protestiert er lachend, während sie ihn kichernd zu einer Sitzbank schleift.
Ich beschließe, die Musik lauter zu stellen.
Durchsagen,wann welcher Bahnhof erreicht ist? Unnötig, starre aus dem Fenster auf die tausendfach gefahrene Strecke, den einzigen Weg in die Zivilisation, vorbeirauschende Felder, die auch in der Prärie liegen könnten, ockerbraungelbverdorrt, im Vorbeifahren wirkt es eigentlich ganz idyllisch hier,im Vorbeifahren sieht man nicht, wie es ist,sondern nur, wie es aussieht.
Sonst war er für mich immer perfekt, das Problem.
Aber jetzt, Pickel hat er mit einem Mal, das, worüber er sich lustig gemacht hat, früher, als ich in der sechsten Klasse war, das einzige Mädchen mit Hautunreinheiten, die sind auch nicht so schnell wieder weggegangen und waren dementsprechend öfters Grund zum Spott, aber alle, die sich drüber lustig gemacht haben, sind jetzt selbst geplagt davon, während ich vergleichsweise meine Ruhe habe,ha, Karma.
Außer im Fall des Übersportlers, täglich Fitnessstudio hat ihm den anvisierten Muskelaufbau nicht in der gewünschten Geschwindigkeit gebracht und die Bodybuilder dort sagen, das bringt was.
Aber das Problem,das ist kein Übersportler, wenn auch sehr skibegeistert.
Sie bestimmt auch, hat er ja gesagt, er will eine Wintersporttaugliche.
Hm, schön,dass er eine gefunden hat, die anscheinend passt.
Ich denke mir das so und meine es nicht einmal ironisch, fühle eigentlich garnichts außer leichtem Druckschmerz.
Ist das jetzt echt dein Ernst?, frage ich meinen Verstand.
Ich glaube schon, antwortet er.
Sehe mir wieder das Problem in der Scheibenspiegelung an, mit den Nichtmehrwuschelhaaren, die heute geglättet sind, nie hätte er das von sich aus getan, war wohl ihre Idee, mit seinen ihn neuerdings plagenden Hautunreinheiten, der eigentlich zu großen Nase und dem eigentlich zu schmalen Gesicht, seinen Gammelklamotten (Standard, seit er mit dem coolen Hiphopfan befreundet ist) und der Standardbräune, die er jahreszeitenunabhängig immer hat, im Winter vom Skifahren, im Sommer vom Schwimmen, und mir fallen die Dinge auf, die nicht perfekt sind.
Schaue ihn mir so an, diesen Menschen, der so viel Bedeutung hat, der doch immer so perfekt war." Er war doch immer so perfekt", murmelt die Erinnerung ungläubig und das Herz will ihr eigentlich zustimmen, aber da meldet sich ganz leise das Gefühl, und ergänzt fast nicht hörbar,"aber eben nicht für dich". Das Gefühl spricht erstaunlich gefasst, erstaunlich ruhig und erstaunlich sanft. Ich atme tief durch und nehme mir vor, das so anzunehmen, wie das Gefühl es sagt.
With your halo slippin' down...
Es tut nicht weh, wenn ich ihn sehe. Nicht so sehr, wie ich erwartet habe, nur, wenn ich sein Mädchen sehe, drehe ich um und laufe einen anderen Weg zum Biologiesaal, auch,wenn das Verspätung bedeutet.
Aber der große Zusammenbruch bleibt aus.
Und der Verstand sagt, eigentlich ist das Wahnsinn. Weißt du Mayhem, eigentlich ist das alles der totale Wahnsinn.
Entweder der normale Jugendwahnsinn, oder Wahnsinn von der filmreifen Sorte.


2.
"Und finanzielle Unterstützung durch Ihr Unternehmen?"
Habe mich als Einzige getraut, noch eine Frage zu stellen, als es hieß, gibt es noch Fragen.
Und so sitze ich, klassisches "Arbeiterkind", in einer der drei renommiertesten Kliniken Deutschlands, und frage den Vortragenden, der von hohem Niveau, aber auch sehr guten Arbeitsbedingungen und allem von Gratismassage bis -maniküre für die Mitarbeiter erzählte, ob man, wenn man sein Psychologiestudium abgeschlossen hat und in dieser Hyperklinik für Burnout-, depressions- und Suchtgeplagte Neureiche, Halbberühmtheiten oder Erben anfangen möchte, den Psychotherapeutenschein mitfinanziert bekommt.
"Die Psychotherapeutenausbildung kostet nämlich laut Ihrem Seminarheft 4.800Euro mindestens!", ruft der Kommenator rein, sichtlich begeistert, weil er auch etwas beizutragen wusste, "Hab mir nämlich Ihr Infomaterial schon durchgelesen!"
Der Vortragende zupft am Kragen seines Poloshirts.
"Wissen Sie, Frau, äh", er schaut auf mein Namensklebeschildchen, "Frau Mayhem, das monatliche Gehalt eines Psychologen beträgt bei uns 3000 bis 4000 Euro netto und wir unterstützen Sie finanziell,wenn Sie nicht auf dem Klinikgelände wohnen möchten, insofern sollte das kein größeres Problem darstellen".
Er sagt das so, mit dem vielen Geld, als wäre das völlig normal.
So viel Geld, denke ich, davon könnte ich der Katze einen größeren Kratzbaum kaufen, einfach so.
Oder mir auch dann frischen Ingwer für meinen Tee mitnehmen, wenn er nicht reduziert ist. Mir dann sogar ein Bücherregal kaufen, das groß genug ist, um auch die Bücher meiner Mutter darin unterzubringen, nicht so wie jetzt, wo nicht einmal meine eigenen alle einen Platz haben.
Selbst mit dem "niedrigen" Gehalt würde ich beinahe dreimal so viel verdienen wie mein Vater, einfach mal so.
Ich erkundige mich, wie viele Bewerber denn auf eine Stelle kämen, der Vortragende erklärt, sie hätten 70 Psychologen und entsprechend viele Ärzte, hätten auch gerne mehr eingestellt, allerdings habe er nach der Lektüre einiger Bewerbungen das Gefühl gehabt, selbst "ein paar Gesprächstherapien" zur Verarbeitung des Gelesenen zu brauchen.
Beschließe, entgegen jeder Wahrscheinlichkeit und against all odds (Unfähigkeit, sich aufzuraffen, sowohl meinerseits als auch seitens der Lehrkräfte, riesige Wissenslücken, die sich nicht mehr füllen lassen, unfähige Lehrer, utopische Anforderungen) nicht nur ein ausreichend gutes Abitur hinzulegen, sondern auch die greifbarste Uni in Grund und Boden zu studieren, um in dieser verdammten Klinik Arbeit zu bekommen, wenn möglich nicht nur als "Raumpflegefachkraft".
Nicht weit weg von der Absteige, im tödlichen Radius des Atomkraftwerks, vegetarisches Essen bevorzugt, alles fairtrade, Geburtstagsfeiern für die Mitarbeiter. Durchschnittsklient versnobt-arroganter Mittvierziger, dem "doch eigentlich nichts fehlt", laut eigener Aussage, der aber trotzdem da ist, seltsamerweise.

Sehe mich schon jetzt über meine Klienten ("Wir nennen sie nicht "Patienten", sondern "Klienten"") jammern.
Habe vor,denen, die keinen Weg mehr sehen, bei der Suche zu helfen, und für die Minderheit, die traumatisierten Kinder, da zu sein.
Da sein, das kann ich. Alles andere wird sich zeigen,wenn es so weit ist.


3.
Aber ich will den Büchern meiner Mutter einen gemütlichen Platz geben, und ich will ein Bild von ihr aufstellen.

Ich will ein Bild von ihr aufstellen und das von mir und meinem Vater, aus dem Urlaub, damals, mit 5 oder maximal 7, und wenn sie mal nicht mehr ist, auch die Asche meiner Katze dort hinstellen;
Von meiner Arbeit nach Hause kommen und das Gefühl haben,dass es das Richtige ist, was ich tue, auch,wenn es nicht leicht ist, so wie jetzt auch, wenn ich Bereitschaftsdienst habe, nur anders;
Und sollte es sich aus irgendeinem Grund doch ergeben,dass entgegen jeder Intention einmal Klein-Mayhem das Licht der Welt erblickt, will ich, dass er/sie/es sich keine Gedanken machen muss, wie zur Hölle die Berlinfahrt jetzt auch noch finanziert werden soll, oder ein Besuch im Kino.
Aber vor allem soll der/die/das Klein-Mayhem eine Familie haben, eine richtige.
Und weil das nicht geht, weil es niemals so sein wird, dass ich komplett mit mir selbst klarkomme (wie soll ich es dann bei anderen Nahestehenden schaffen?) oder das alles, was war, ruhen lassen kann, weil schon meine leicht verstörte Mutter schrieb, sie wolle niemals so sein wie ihre Mutter, und dann doch hundertfach schlimmer war, wird es kein Klein-Mayhem geben.
Katzen kommen mit mir klar, meistens; von allen anderen Lebensformen wäre es wohl auf Dauer zu viel verlangt.