Samstag, 27. April 2013
"Ich glaube, du hast eine Persönlichkeitsstörung."
-"Ich glaube, ich muss mich hier mal einmischen."

Aus den Gesichtern des motivierten Musikpädagogen, dem die Egoschleuder mit gewohnter Ahnungslosigkeit und Selbstsicherheit die oben genannte Diagnose vor die Füße geflatscht hatte, und seines Bandkollegen, der Grinsebacke, verschwinden synchron die mühsam (und schlecht) aufrecht erhaltenen Positivfratzen, während die Egoschleuder sich, wie immer, als den Herrn der Lage und allen überlegen ansieht, was genau drei Sekunden anhält, bis ich nämlich sage, dass er mir auch schon wahllos alles (Un)mögliche diagnostiziert hat und man mit ein bisschen Phantasie beinahe jede Eigenheit in ein potenzielles Störungsanzeichen umdeuten könne, wenn man dabei so motiviert zur Sache geht wie er.
Dann rutscht wieder ein bisschen Aggression in sein Gesicht, aber er rudert dem motivierten Musikpädagogen gegenüber genau so zurück, wie er es bei mir auch getan hat: " Ich hab ja nicht direkt gesagt, dass du eine Persönlichkeitsstörung hast, Musikpädagoge, aber es gibt eben deutliche Anzeichen dafür."
Der Musikpädagoge fühlt sich, verständlicherweise, etwas vor den Kopf gestoßen, weil sein spontaner Wechsel von ruhigem Rumstehen zu absolutem Abgehen, der bei guter Musik innerhalb von Millisekunden erfolgen kann, als klares Anzeichen für eine Persönlichkeitsstörung herangezogen wird, und steigert sich somit in seiner Angepisstheit, während die Grinsebacke nur grinst. Mindestens zwei Minuten angespanntes Schweigen, dann versucht es die Egoschleuder nochmal mit ein paar ausgeklügelten Diagnosen und schließlich mit blöden Sprüchen, während die ehemalige Chemiekurskollegin auf meinem Handy mutmaßlich die hunderste Runde Slenderman spielt.

Und dann platzt dem Musikpädagogen der Kragen.
Eine Schimpf- und Schmerztirade jagt die nächste, er flucht auf die Gesamtsituation, auf die rücksichtlos-kindisch-idiotische Art der Egoschleuder, darauf, dass seine Bandkollegen die ganze Sache lange nicht so ernst nehmen wie er und ihn das aufregt, dass er sich deswegen einfach nicht mehr wohlfühlt mit ihnen, dass ihn allgemein niemand ernst nimmt, er wäre ja immer nur der nette Kumpel, der halt machmal bisschen angepisst ist, dass ihn das alles ganz massiv runterzieht und dass es ihm jetzt endgültig reicht.
Wohlgemerkt, alles in meine Richtung, weder die Egoschleuder, noch die Grinsebacke würdigt er auch nur eines einzigen Blickes.
Ich kann ihn gerade noch davon abhalten, durch den strömenden Regen fünf Kilometer von der Gruftterasse durch die Stadt bis zum Bahnhof zu laufen und dort auf den nächsten Zug (der frühestens in drei Stunden fahren würde) zu warten und entscheide mich, als ich ihn wieder fest in unserer kleinen Gesprächstherapiegruppe stehen habe, mal ganz doof zu fragen, ob sie bandintern überhaupt mal über solche Sachen reden.
"Nö", sagt die Grinsebacke.
"Nee", pflichtet ihm der Musikpädagoge bei. Und fügt nach einer Pause hinzu:" Könnten wir aber mal machen."
-"Wär wohl ganz sinnvoll", mutmaße ich.
"Aber der fängt dann immer so bescheuert zu grinsen an und es nimmt sowieso keiner ernst!", will sich der Musikpädagoge wieder aufregen, wird aber von der Grinsebacke abgefangen.
Die auch wieder nur in meine Richtung spricht.
"Ich kann da echt nichts dafür, ich finds ja selber total blöd. Aber wenn der Musikpädagoge was ernstes sagt, muss ich irgendwie immer automatisch grinsen, und dann wird er halt sauer. Guck, jetzt wieder."
Erneut halte ich den Musikpädagogen davon ab, mit einem "Das hat eh alles keinen Sinn" als Abschiedsworte zum Bahnhof zu laufen.
Betretenes Schweigen Nummer fünfzig, ich fühle mich ein wenig schlecht, weil ich mich einfach eingemischt habe, und entschuldige mich dafür, bekomme aber von beiden gesagt, das sei nicht so schlimm. Grinsebacke mutmaßt, das sei eventuell sogar notwendig gewesen, was die Egoschleuder veranlasst, mit einem verächtlichen Schnauben unseren Gesprächskreis zu verlassen und seine Kippe wo anders fertig zu rauchen.
"Ich fühl mich halt einfach nicht mehr wohl mit euch", fasst der Musikpädagoge seine vorherigen Äußerungen zusammen und richtet sich zur Abwechslung direkt an die Grinsebacke. "Ich nehme die ganze Sache und mein Leben ernst, ich betreue 10 Schüler. Und oft genug auch noch euch, weil ihr unfähig seid, euch mal zusammen zu reißen und so zu arbeiten, wie man das eben muss, wenn man das erreichen will, was wir erreichen wollen. Und wenn der Penner da drüben"-er zeigt in Richtung Egoschleuder- "unfähig ist, mal aus seiner frühpubertären Phase rauszukommen,heißt das nicht, dass du genauso sein musst, sobald er dabei ist. Das geht mir nämlich massiv auf den Wecker, und ich fand den Abend heute sonst echt toll, was aber daran gelegen hat, dass ich die meiste Zeit bei mayhem und ihrer Freundin war. Wenn ich nur mit euch hier gewesen wäre, wäre ich nach einer Stunde wieder gegangen und mit dem Zug gefahren. Und das finde ich traurig, schließlich kenne ich euch viel länger, und wir sind schon ewig befreundet."
Die Grinsebacke schluckt.
Schweigepause, bis der Musikpädagoge wieder einsetzt.
"Bringt jetzt aber auch nichts, wenn wir hier noch ewig im Regen rumstehen. Wir haben drüber geredet, wies weitergeht, werden wir sehen. Bevor wir uns ne Lungenentzündung holen, wäre es besser, wenn wir jetzt fahren würden."
"Ja, ist wohl vernünftig." Die Grinsebacke, mit todernstem Gesichtsausdruck, setzt sich mechanisch in sein Gefährt und manövriert es aus der winzigen Parklücke,damit wir auch einsteigen können.
Im Auto bekomme ich zwei Männerjacken und den Mantel der Chemiekurskollegin aufgedrängt, anscheinend sehe ich von allen am durchgeweichtesten aus, und werde von der Egoschleuder nach wie vor ignoriert.
Soll er doch.
Den halben Abend hat er damit verbracht, zu versuchen, mich abzufüllen, war dann sauer, als ich mich für Freigetränke bedankte, aber ihn darum bat, mich doch bitte vorher zu fragen, ob und was ich trinken wolle, und auch noch die Frechheit besaß, seine Annäherungsversuche abzuwehren, und schubste mich unnötig brutal weg und somit auf eine andere Besucherin, als ich später im Gedränge vor der Garderobe ungeplanten Arm-zu-Arm Kontakt mit ihm hatte.
Um sich dann per sms zu erkundigen, ob er bei mir schlafen dürfe.

Antrag dankend abgelehnt, noch mehr kalte Ignoranz geerntet, gedacht, who cares, und beim Aussteigen gleichbleibend freundlich von allen inklusive ihm verabschiedet.
Eine betrunkene sms vom Raucher bekommen, deren Inhalt sich leider nicht entschlüsseln ließ, wieder mal versucht, möglichst leise mit Kampfstiefeln die Endlostreppen bis in mein Luftschloss raufzukommen, zur Nervenberuhigung das Stück Kuchen, das die Chemiekurskollegin für mich mitgebracht hatte, gegessen, und nach der üblichen Abendroutine in meiner Decke, der ersten Decke des Rauchers und der zweiten Decke des Rauchers vergraben, um nach mehreren Stunden dann doch einzuschlafen.