Montag, 5. März 2012
...fragte schon Bushido seinerzeit in alles verloren, und nach der heutigen Fahrt kann ich antworten: Jo, Homie!

Alles begann, als ich, leicht verwirrt, weil an der üblichen Haltestelle kein Bus in meine Richtung fuhr und der letzte Zug im wahrsten Sinne des Wortes bereits abgefahren war, von einem netten Mitkollegiaten den Hinweis bekam, der Bus mit der richtigen Aufschrift sei gerade an ihm vorbeigefahren, Richtung? "Vorwärts halt". Vielen Dank.
Das Schicksal hatte ein Einsehen, ich schaffte es noch,den Bus zu erreichen, allerdings nicht auf Anhieb, in den Bereich hinterm Personenzurückhalteschlaggerät (der integrierte Baseballschläger, der hinterm Fahrersitz festgeschraubt ist und Eintrittsbereich und Personentransportraum voneinander trennt) zu gelangen, doch nach ein paar amoklaufverdächtig-aggressiven Schreien des auf mich nicht nur leicht cholerisch wirkenden Busfahrers in Richtung der restlichen Insassen meisterte ich selbst dieses Hindernis, wollte mich zufrieden verkabeln, stellte anhand der Lautstärke aber nach nicht einmal einer Minute fest, dass der Akku meines treuen mp3-Players, dessen Display beinahe nichts mehr anzeigt, seitdem da mal jemand drauflag, wohl bald leer sein würde, was auch genau 20 Sekunden später der Fall war.
Und dann ging es bergab.
Sehr verstört (Wie sollte ich schließlich eine Fahrt ohne Musik überstehen) nahm ich die Geräusche der Welt um mich herum auf, das Stimmengewirr, dann und wann ein paar zankende Fünftklässer, das Handy des Mädchens neben mir, ihr Telefonat- und dann das Ghetto.
Ich hörte das Ghetto zunächst, weil es über vier Menschen hinweg schrie:"Aldaaah, Jenny, mit wem telstn du?" und sich als direkte Reaktion auf die Antwort "Mitm Mirko" an eben jenen vier Menschen vorbeiquetschte, nicht ohne sich dabei lautstark zu beschweren,was ihnen denn einfiele, mitten auf dem Gang zu stehen, mit Jenny ans Telefon hängte und auf deren "Ja Mirko, das Ghetto hört mit, die will ja eh was von dir" sofort in den Coolnessmodus umschaltete .
"Ey du Wichsa, ich will frei voll garnich was von dir, man!"
Erstes Augenverdrehen bei den Zartbesaiteten und denen, die nicht regelmäßig Bus fahren.
"Ja, die schreit immer so". Jenny scheint sich etwas für das Ghetto zu schämen, seltsam.
Der ominöse Mirko sagt etwas, was ich aufgrund der Tatsache,dass er den anderen Teil des Telefonats neben mir darstellt,nicht verstehen kann, doch an der Reaktion des Ghettos kann ich ablesen, dass es wohl nichts gutes war: "Boah ey du Muschi! Ich geb dir. Pass auf ey, ich, ich,ich..gib mir deine Handynummer, ich schick dir 200 Spam-sms, pass bloß auf, du wichsa! das geht per, äh, sms-Provider, dann kriegste im,äh, 0,5-Sekundentakt sms. Na, wie is das, du Spast??"
Der cholerische Busfahrer scheint sich zu wünschen, das Personenzurückhalteschlaggerät in Basebalschlägerform auch als solchen benutzen zu können, Jenny wirkt etwas überlastet,weil Mirko bei ihr angerufen, aber das Ghetto das Gespräch übernommen hat.
"Mirko, gib mir ma space, ja?", bittet sie den anderen Menschen, wiederholt sich dann, "Gib mir ma kurz space, alter", und wendet sich dann ans Ghetto, das mit seinen ultracoolen Fluchtiraden die Zweiergruppe, die wohl den dazugehörigen Fanclub darstellte, zum peergroup-Kichern gebracht hatte, und ihr das Handy aus der Hand reißt, bevor sie etwas sagen kann.
"Ey altha, was labbersd (man denke es sich bitte so ausgesprochen, wie es dasteht) du eig für nen Scheiß ey, du blöder Spast. Ich fick deine Mudder, ey!"
Darauf habe ich gewartet.
Irgendwann geht das Handy an Jenny zurück, und das Ghetto fährt fort, der Peergroup-Kicherfront seine Coolness zu demonstrieren, natürlich so laut,dass es auch Mirko, der ja eigentlich nur mit der rechtmäßigen Besitzerin des Handys hatte telefonieren wollen, mitbekam:
"Ey ok, Cindy. Ich hatte was mitm Justin. Jaaaaaaaaah, passiert halt, da is aber danach nixmehr gelaufen".
Als ich noch in dem Alter war, bedeutete "da ist was gelaufen" noch, dass man händchenhaltend zum Dorfladen ging, sich dort Eis und eine Flasche Cola holte, er bezahlte und man den restlichen Tag händchenhaltend damit verbrachte, sein Eis zu essen, Cola zu trinken und die Füße in den Bach zu hängen.
Normal reden konnten wir meistens auch. Vielleicht besteht da ja ein Zusammenhang...
"Boah Ghetto, du bist voll erwachsen", meint Cindys Sitznachbarin und schaut das Ghetto bewundernd an.
"Ja, ich bin halt meiner Zeit voraus. Voll intellent und reif, weißte?" Autsch, ich hätte nicht gedacht, dass "intellent" außerhalb semi-guter Witze noch existiert..
"Ja, voll ey". Einzig Jenny zeigt etwas Ironie und nur mittelstarken Ghettoslang während des ganzen Telefonats, das ihr zusehends durchs nonstop redende, oder eher schreiende, Ghetto erschwert wird. Ich will ihr sagen, der Mirko da, der scheint dich echt gern zu haben, wenn er immernoch verzweifelt versucht, mit dir zu reden und dich anscheinend immer wieder zum lachen bringt, lasse es aber, weil das Ghetto mich dann wohl töten würde, durch einen ultracoolen Blick, oder die Nieten an seinen Schuhen.
Tatsächlich trägt das Ghetto, bei dem es sich um ein geschätzt 12- bis maximal 14jähriges Mädchen handelte, turnschuhartiges, schwarzes Schuhwerk,das mit Spitznieten verziert war. Zusammen mit der am tiefsten durchhängenden Jeans-Haremshose, die meine gequälten Augen je erblickt haben, der zu engen und zu kurzen Lederjacke und einer Komposition aus sehr schlecht braun gefärbten Haaren und noch schlechter aufgetragenem Make Up schrie das ja förmlich nach Coolness.
Wäre sie nicht so ghettocool gewesen, hätte ich ihr vielleicht den Tipp gegeben, keine zu dunkle und orangelastige Kriegsbemalung als Grundierung aufzutragen und die Augenumrandung mit Kajal oder Eyeliner oder Lidschatten zu vollziehen, anstatt alle drei in jeweils 2cm-Breite aufzutragen und eine gute Prise Glitzer drüberzustreuen. Oder ihr angeboten, ihr die Haare zu färben, das kann ja am Anfang der Färbekarriere, wenn man sich sein Haarfärbmittel (Tönung wäre zu vernünftig und unerwachsen ) gekauft hat, obwohl Mutti nein gesagt hat, eine ziemlich aufregende Sache sein, und wenn man weder Talent, noch Erfahrung hat, danach einen Neuanstrich des Badezimmers nötig machen.
So konzentrierte ich mich darauf, meinen angespannten Geduldsfaden wieder zu lockern, während sie weiter ghettoisierte.
"Ja, ich hab schon nen krassen Style", erklärte sie gerade passenderweise Cindy, während sie dabei in Richtung des Handys schrie, "Der Pinguin da, an meiner Kette, den hab ich beim Drogeriemarkt beim Schmuck gekau-, äh, geklaut,jaaaa!".
"Alter, du klaust?" Die bewundernden Augen der Cindy-Nebensitzerin werden noch größer.
"Ja man, ich hab schon voll viel geklaut, ey; so Schmuck und Schminke und Kleidung undso! Das würdst du dich nicht trauen, ne?"
"Nee, würd ich nicht.." Arme Cindynebensitzerin. Aber pass auf, das wird noch.Wenn du dann beim Schmuck und der Schminke bist, macht das Ghetto bei den Kippen aus Papas Auto weiter.
"Tja." Triumph in der Stimme des Ghettos.

Als ich der alten Dame, die sich in der allerersten Sitzbank vorm Ghetto versteckt und partout geweigert hatte, jemand neben sich sitzen zu lassen, und ihrer Einkaufstasche aus dem Bus helfe, schreit sie mir ins Ohr:
"Ich bin zwar schwerhörig..."-Oh ja-das merke ich-, "..aber das da drinnen, das war ja nicht mehr normal! Da sieht man wieder, wie die Jugend ist, die haben alle keine Manieren mehr und denken nur an sich! Alles egoistische, respektlose, unfreundliche Nichtsnutze! Ich bin froh,dass ich meine Brille nicht aufhatte, die sehen ja meistens noch schlimmer aus, als sie sind!"
Ich verzichte darauf, ihr zu erklären,dass ich ein Teil der unfreundlichen, respektlosen, egoistischen Jugend ohne Manieren bin,manövriere sie in das Buswartehäuschen, erkläre ihr,dass sie nicht in den nächsten, sondern den übernächsten Bus einsteigen muss und mache mich dann auf den Heimweg.
Hintergrundmusik:Das heroische "die einsame Heldin"-Thema erklingt.
Es ist ein weiter Weg, und niemand begleitet mich, nicht einmal meine Musik, denn der Akku meines treuen Gefährten, des mp3-Players, ist leer, und so gehe ich diesen Weg alleine; alleine mit meinem gedankenschweren Verstand gehe einer ungewissen Zukunft entgegen.
Es lebt. Das Ghetto lebt. Ich habe es gesehen.
Mein Gott, ich habe das Ghetto gesehen.




edit:" Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer...."
Entschuldigung, aber das musste jetzt sein.




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Für die, die es nicht wussten: das zweite Zitat stammt aus dieser Weg von Xavier Naidoo.
Und hat sich in meinen Kopf gedrängt, weil ich eine halbe Fußball-WM lang damit beschallt wurde, egal, wohin mich mein Weg führte.




Samstag, 3. März 2012
..that are sinking to the ground...

Ich bin heute aufgestanden.
Nachdem mein Vater wieder in Feldwebelmanier und in tiefster, dunkelster Nacht gegen die Zimmertür getrommelt hatte , sodass ich schon fürchtete, gleich würde seine Faust durchbrechen, und sein "Aufstehen!" auf mich abgefeuert hatte, bin ich ins Bad gegangen, habe mich wieder hingelegt, als er und die Vatersfreundin weg waren, und bin 3h später richtig aufgestanden.
Es klingt für normale Menschen wohl unbegreiflich, aber für mich war das eine Leistung, das aufstehen ohne einen Zwang von außen. Und dann, dann habe ich sogar das Bad geputzt und die Spülmaschine angemacht und mich um meine Wäsche gekümmert. Richtig motiviert, für meine Verhältnisse, an den meisten Tagen bin ich froh,wenn ich es schaffe, aufzustehen, weil da das graue Etwas meinen kompletten Verstand und mein Herz gleich mit einnimmt. Das tat es heute auch, aber ich bin aufgestanden und habe was gemacht.
Die Vatersfreundin hat in einer der endlosen Streitrunden, die wir zu dritt führen, wenn sie da ist, mal gesagt, dass das gut ist,kleine Schritte, und ok ist. In kleinen Schritten was machen.
Für mich waren die kleinen Schritte heute ziemlich groß, besonders,wenn man sie mit den Tagen davor vergleicht, könnte ich das so einfach, stolz auf mich sein, dann wäre ich es heute ein bisschen gewesen.
Dieses Gefühl hielt genau so lange an, bis sie wieder heimkamen, mein Vater und seine Freundin.
Schwiegen mich eine Viertelstunde an, bis sie ein "Was hast du heute eigentlich gemacht?" auf mich abfeuerte und es daraufhin wieder los ging. Die ganze Diskussion, die übliche Abendgestaltung. Das Übliche: Sie sagt, es kann so nicht weitergehen, mein Vater sagt nichts, bis ich etwas sage. Wenn ich dann spreche, unterbricht er mich, sagt, dass das keinen Sinn hat alles, dass reden nichts, aber auch garnichts bringt und ich gefälligst meine Klappe halten und einfach machen soll.
Heute, da hat er gesagt, ich würde ihn und seine Freundin erpressen. Erpressen würde ich sie, weil ich nichts machen würde.
Ich habe ihn angeschaut und gefragt, wieso erpressen. Gesagt, erpressen ist, wenn ich was böses mache, um etwas zu bekommen, was ich will.
Er hat gesagt, ich soll meine Klappe halten, ich würde sie erpressen.
Wieder hab ich versucht, es zu erklären,dass ich sie nicht erpressen will, und dann hat er gelacht.
Das Lachen ist immer das Schlimmste; allen Hass und alle Aggression, die er empfinden muss, wenn er mich sieht, steckt er in dieses Lachen, nichtmal die USA würden es als Foltermethode nutzen,das Lachen, so schlimm ist das.
Er hat wieder gelacht, das böse lachen, und dann ist er rausgegangen, hat vorher noch gesagt, ich hätte mich dumm studiert, und dann war er draußen. Dabei studiere ich doch noch garnicht.
Siehst du, habe ich zur Vatersfreundin gesagt, leicht stockend, weil ich wieder mal sehr nah am Heulen war, Siehst du, und deswegen habe ich dir gesagt, dass es nichts bringt.
Ich habe ihr gesagt, dass diese Gesprächsrunden, in der erst alle Beteiligten auf mir herumhacken und sie dann versucht, uns zum Lösungsfinden zu motivieren und alle Vorschläge ablehnt, um danach auf heile Welt zu machen, dass die nichts bringen; und dass die Lösung ist, dass ich meine Zeit noch absitze, mit 18 ausziehe, hoffentlich eine Arbeit finde und das Jahr bis zum Abitur und eben dieses in einer netten Plattenbauwohnung alleine mit der Katze absitze.
Sie hat gesagt, das ist Wegrennen.
Kann sein, meinte ich. Kann sein,dass das Wegrennen ist, aber alles andere geht nicht, Coexistenz schon lange nicht mehr und jeden Tag geht es weiter kaputt und ich gleich mit.
Sie hat wieder angefangen, genau so wie er hat sie angefangen, ich müsse doch einfach nur was machen.
Da habe ich gemerkt,dass auch sie es nicht verstanden hat, und versucht, mich geistig auszuklinken.
Einfach über der Sache schweben, auch, als mein Großvater begeistert angefangen hat, aufzuzählen,was er heute alles im Haushalt gemacht hat, habe ich mich weiter darauf konzentriert, über der Sache zu schweben und das klappte ganz gut, aber als mein Vater wiederkam und sagte, es hat keinen Sinn, das alles, weil ich sie erpressen würde, nichts mache und immer im Kreis rede, als er mich nicht hat ausreden lassen, als ich meinte, ich wiederhole mich nur deshalb, weil du mich nie zu Ende sprechen lässt, geschweige denn, darüber nachdenkst,was ich sage, als er wieder alles an Hass, was er in sich finden konnte, losgeschleudert hat auf mich, da hat er mich erwischt.
Und ich konnte mich hinter meinem Haar verstecken und die Augen schließen, aber nicht mehr über der Sache schweben.
Die Vatersfreundin versuchte wieder, Gespräche zu erzwingen, sagte, sie gehe jetzt rauchen und wenn sie wiederkommt, will sie ein Ergebnis hören und derartiges.
Mein Vater saß auf seinem Stuhl und begann, die Zeitung zu lesen.
Einfach so, saß einfach da, dieser kaputtgearbeitete, gealterte Mann, der mein Vater sein soll, und hat seine Zeitung gelesen.
Ich habe zwei Minuten lang versucht, etwas zu sagen, aber schon beim Versuch schossen mir die verdammten Tränen in die Augen, deshalb habe ich es jedes Mal wieder gelassen und nochmal neu angefangen, bis ich es dann sagen konnte.
Dass ich glaube,dass er auch nicht klarkommt mit allem,was war, aber er immernoch verdrängt; und dass er genauso wenig über Gefühle und Probleme reden kann wie ich, aber das wichtig ist; und es schwierig für mich ist, ich habe mich ja nicht einmal getraut, ihn zu fragen, wie es ihm geht, als der Todestag seiner Mutter war,geschweige denn, ihn zu umarmen oder sowas.
Er hat nur umgeblättert und weiter Zeitung gelesen.

Und ich saß so da, in der üblichen Diskussionsrunde, ich hatte meinem Großvater ein leises "nicht jetzt, bitte" entgegen gesetzt, als er, mitten im Gespräch, wieder anfing mit seinem Gerede, aber das "nicht jetzt, bitte", das für mich eine so riesengroße Leistung darstellte, das hat er einfach überhört und die Vatersfreundin gefragt, wann sie ihr Auto gekauft hat, und ob es ein Gebrauchtwagen ist oder ein neuer.
So ging es mal wieder den halben Abend, mein Vater schweigend oder verletzend, sie in ihrem verzweifelten "Ja aber so geht das doch nicht!", nicht richtig auf meiner Seite, aber auch nicht neutral, sondern logischerweise eher hinter ihm stehend, und ich arbeitete mich von wenig sagen hin zu "nichts mehr sagen" und versuchte, auf der Stelle zu verschwinden. Leider löst man sich nicht einfach so in Luft auf, also habe ich dann irgendwann doch geweint,auf meine zurückhaltende Art und Weise, ihm ist das egal, er sagt, ich solle mir das Geflenne sparen, sie sagt, wir drehen uns im Kreis, mein Großvater sagt, er hat heute auch gestaubsaugt.
Dabei bin ich heute aufgestanden.
Kleine Schritte machen, hat sie gesagt. Hat sie gesagt, und ich dachte, sie meint das ernst, und ich dachte, ich hätte heute ausnahmsweise etwas auf die Reihe bekommen, auch,wenn es für mich viel mehr war als für sie und für ihn, aber wir haben doch letztes Mal gesagt, dass das in Ordnung ist.
Und ich habe gedacht, dass es in Ordnung ist, wie ich bin, und dass es mir eventuell nicht ganz gut geht, wegen dem grauen Etwas, dass sie es akzeptieren und eine Sekunde lang sogar, dass sie es verstehen, ansatzweise.
Ich sollte aufhören, in Menschen menschliches sehen zu wollen.
Dieses menschliche, was ich gerne sehen würde, vielleicht gibt es das ja gar nicht.
Vielleicht sind ja alle so, wenn man lange genug mit ihnen zu tun hat. Bis jetzt war es jedes Mal so. Menschen verlieren ihr menschliches, wenn man lange genug mit ihnen zu tun hat.
Vielleicht liegt es ja an mir.
Mein Vater sagt, es liegt an mir, ich habe sie so werden lassen. Hat er gesagt, als wir mal zu zweit gestritten haben.
Wie immer wurde die heutige Diskussion mit einem "und jetzt machen wir alle alles anders", das mir bestätigte, dass ich es wieder nicht geschafft hatte, oder sie es nicht verstehen wollten oder konnten, beendet, und als ich den Müll rausbrachte und sie rauchte, habe ich versucht, der Vatersfreundin das graue Etwas zu erklären.
Habe gesagt, Vatersfreundin, ich fand das verletzend heute, das "Was hast du den ganzen Tag gemacht?". Dass es schon eine Leistung war, aufzustehen,weil ich nicht weiß,wofür das alles.
Weiter durfte ich nicht reden, ein "Spinnst du?!?" hat sie ausgerufen, ein richtig lautes, richtig böses, und mir gesagt, ich hätte doch einen Schlag, wenn ich nicht weiß, wofür ich morgens aufstehe und wofür ich vor mich hin lebe.
Gäbe so viel wichtiges im Leben. Ich würde doch spinnen.
Danke fürs Michnichtausredenlassen, hab ich gesagt,als sie fertig war. Ganz leise, weil ich mich wieder vom Weinen abhalten musste, wie immer. Ich habe es schon mal geschrieben, ich bin nicht nahe am Wasser gebaut, sondern mitten im Fluss.
Ja, dann rede halt. Wieder dieser aggressive Ton.
Ich solle doch einfach reden.
Sagt sie, die kurz zuvor gesagt hat, ich soll aufhören, zu reden. Einfach machen.
Als ich das erwähne, gibt sie wieder einen genervt-pseudoverzweifelten Seufzlaut von sich.
Ich versuche es trotzdem, und kann nicht ausmachen,ob sie es versteht oder nicht.
Aber als ich die Wohnung wieder betrete, als letzte, weil ich vorher überlegt hatte, einfach wegzugehen, zu laufen, wohin meine Füße mich führen, sitzen sie wieder da, im Wohnzimmer, auf dem Sofa, jeder sein Glas Wein vor sich, am Telefon lachen sie, dann, als der Anrufer aufgelegt hat, auch wieder das übliche Totschweigen, wie immer nach einer Diskussionsrunde, und Großvater Mayhem sitzt auf einem Extrastuhl und fängt an, Belang- und Zusammenhangsloses zu reden. Wie immer.
Scheint vergessen zu haben, wie mein Vater, sein Sohn, ihn angeschrien hat, und als sie mich sieht, fragt die Vatersfreundin in neutral-freundlich, ob ich die Fernsehzeitung gesehen hätte und einen Tee wolle.


As I'm falling into the deep.





Freitag, 2. März 2012
Als sie meine ehemalige Klassenkameradin beerdigt haben, war es Winter.
Es war furchtbar kalt, nach spätestens 20 Minuten spürte ich meine Füße in den Billigchucks nicht mehr, und es waren so viele Leute gekommen, dass die kleine Dorfkirche heillos überfüllt war und wir draußen , vor der Tür, in einer langen Schlange standen, die vom Eingangsportal aus fast quer über den ganzen Friedhof ging; vom Gottesdienst habe ich nichts mitbekommen, ich befand mich 80m vom Seiteneingang entfernt, aber ich war da, um ihr eine letzte Ehre zu erweisen, so, wie diese unglaublich vielen anderen Menschen auch.
Sie war nie beliebt.
In der Grundschule waren die anderen gemein zu ihr, weil sie seltsam aussah und Pickel hatte, und ich redete nicht mit ihr, weil sie ein schwieriger Mensch war, das,was man gerne als "zickig" abhakt, und ich kann selbst sehr stur sein, wenn ich es denn schaffe, mit anderen Menschen zu reden.
Dann, dann kam der Krebs, und sie war weg, über eineinhalb Jahre, ich glaube, länger, vom Ende der ersten Klasse bis Anfang der Vierten, und als sie wiederkam, da hatte sie eine Frau dabei, Pädagogin vermutlich, die uns erklärt hat, was Krebs ist, und ab da wussten wir, meine Klassenkameradin, die hatte Krebs gehabt.
Das war damals eine sehr abstrakte Sache, ich konnte mir nicht so recht etwas darunter vorstellen, auch nicht nach einem Zeichentrickfilm über ein Mädchen, das auf einmal Leukämie hat.
Meine Klassenkameradin, ich weiß nicht,welchen Krebs sie hatte, aber er kam zweimal zurück, das haben sie auf einer Elternversammlung gesagt, und weil meine Mutter, die damals noch lebte, sich zur Abwechslung dorthin begeben hatte, erfuhr ich es auch, als der Krebs wiederkam.
Danach länger nichts, ich ans Gymnasium, die Klassenkameradin an die Hauptschule, und nach 3 Jahren sah ich sie wieder, als ich meinen Dienst in der Bücherrei antreten wollte und sie auf einmal da war.
Ganz kurze Haare hatte sie, mit einem Kopftuch drauf, sah anders aus als früher und wie ein Krebskind. Ich glaube, da habe ich angefangen, zu begreifen,was das ist, Krebs.
Ich habe mich dann mit ihr unterhalten, weil ich in der Zwischenzeit gelernt hatte, ein wenig besser mit schwierigen Menschen klarzukommen und sie umgänglicher geworden ist, und wie es so meine Art ist, habe ich sie auf ein Konzert eingeladen, keins in der Absteige, sondern ein Schulkonzert.
Am Anfang fand sie das seltsam, den Unterstufenchor und deren Auftritt in Affenkostümen (Das Thema war "fremde Länder"), doch dann kam der Chor der "Großen" und sie war hellauf begeistert, sehe es heute noch vor mir, ihre leuchtenden Augen und wie sie sich gefreut hat. Ihre Freude, bei dem Konzert, das ist eine der intensivsten Erinnerungen aus dieser Zeit, die ich habe.
Auf der Heimfahrt, da habe ich ihr gesagt, dass wir das öfter machen können, zusammen irgendwo hingehen, oder uns einfach so mal treffen und Musikhören, und ihre Mutter fand das toll und sie auch, wir hatten dann noch ein paar Bücherreidienste zusammen und auch,wenn sie immernoch schwierig war und eigentlich nicht mit mir auf einer Wellenlänge haben wir uns verstanden, weil ich mich sehr zurückgehalten und manche Gesprächsthemen geschickt umschifft habe.
Dann war Funkstille eine Zeit lang, ich dachte, sie sei im Stress, sie hatte vorgehabt, an die Realschule zu wechseln,
und dann war da die Todesanzeige.
Mein Vater hat mir gesagt, dass sie gestorben ist, kein halbes Jahr nach dem Konzert, weil der Krebs zum dritten Mal wiederkam und ihr kleiner, ausgezehrter Körper nicht mehr die Kraft gehabt hatte, ihn zu bekämpfen.
Ich habe mich bis kurz davor gefragt, ob ich zur Beerdigung gehen soll, mein Vater hatte einen anderen Termin, auf den letzten Drücker fand ich eine Fahrgemeinschaft und so waren wir da, als sie beerdigt wurde, nicht auf unserem Dorffriedhof, sondern wo anders, wo die Kirche abseits lag, mitten im Wald, meine Fahrgemeinschaft war sehr außer Atem, als wir uns den Berg fertig hochgequält hatten und legte erstmal eine Pause ein.
Dann reihten wir uns in der Schlange vor ihrem Sarg ein, richtig anstehen musste man da, und ich fand das so unglaublich, dass da so viele Leute waren, all die, die die Mutter der Klassenkameradin angefeindet hatten und all die, die über die Klassenkameradin schlecht geredet hatten, waren da und klagten anderen ihren angeblichen Schmerz über den Todesfall, und auf einmal war jeder der beste Freund der Klassenkameradin gewesen, als sie noch lebte.
Ich stand vor ihrem verschlossenen Sarg und starrte ihn an, wie ich all die anderen Särge angestarrt hatte und versuchte vergeblich, mir begreiflich zu machen,dass sie da tot drinlag.
Und überhaupt,dass sie tot war...
Von der Zeremonie hielt ich nichts, die geheuchelte Trauer, der Pfarrer mit seiner übertriebenen und emotionslosen Rede,ja, ichgebe es zu, auch das lange Rumstehen in der Kälte bewogen mich, ihr die letzte Ehre zu erweisen und danach wieder zum Auto zu gehen, mich auf einem Baumstamm davor niederzulassen und auf die Fahrgemeinschaft zu warten.
Auch in dieser Wartezeit versuchte ich vergeblich, es zu realisieren. Bei meiner Mutter hatte ich es realisiert, die hatte ich gefunden; bei der Mutter meines Vaters, die hatte ich gesehen; aber bei der Klassenkameradin war es wie beim Vater meiner Mutter, ich stand vor diesem Holzkasten und darin sollte ein Mensch liegen und einfach nicht mehr sein, und mein Gehirn weigerte sich, diesen Fakt zu realisieren.

Sie ist einen Monat vor ihrem Geburtstag gestorben, das stand auf dem Sterbebildchen, das ich mitnahm und zu den vielen anderen in mein Gesangbuch steckte. Auf dem Bild lächelt sie, und sie sieht jünger aus. Die Fahrgemeinschaft meinte, sorgenfrei schaut sie da. Schaut sie aber nicht. Man sieht schon auf dem Foto, was der Krebs gemacht hat, und was er noch vorhatte, und ich glaube, da habe ich dann angefangen, richtig zu verstehen,was Krebs ist.

Maximal ein Jahr später ist ihr Bauernhof abgebrannt.
Die Eltern der Klassenkameradin hatten einen Bauernhof gehabt,schon länger, bevor sie zur Welt kam schon; sie war so lange ein Wunschkind, und als sie dann da war, durfte sie nicht lange bleiben, und dann ist der Hof abgebrannt, fast komplett, und ihre sowieso ärmere Familie hatte nichts mehr. Gar nichts.
Damals wurde Geld gesammelt, Dorfgemeinschaft kann doch manchmal "Gemeinschaft" sein, jeder spendete, die, die der Familie helfen wollten, gaben was, und und die, die ihr schlechtes Gewissen, das sie wegen ihrem vorherigen Verhalten der unbeliebten Famile gegenüber hatten, erleichtern wollten, gaben noch mehr.

Heute kam sie mir wieder in den Sinn, die Klassenkameradin, als ich aus dem Busfenster sah und an das bevorstehende Schulkonzert dachte;
und ich sah sie wieder vor mir, sie und ihr Klatschen und ihre leuchtenden Augen, als der Chor sang und es noch so aussah, als hätte sie es geschafft;
und wie wir alle auf dem Friedhof standen, ihre Mutter muss sprachlos gewesen sein, weil so viele Leute da waren.
Ich weiß gar nicht, was sie jetzt macht, ihre Mutter, und wie es ihr und dem Vater der Klassenkameradin geht, ohne Kind und ohne Lebensgrundlage. Inzwischen ist es auch zwei Jahre her, oder sogar schon drei, ich habe doch so ein schlechtes Zeitgefühl, und ich frage mich,wer der Beerdigungsbesucher in dieser Zeit mal das Grab besucht hat oder es immernoch tut.
Ich war nicht dort, der Nachbarort, in dem sie begraben liegt, ist zu Fuß sehr schlecht zu erreichen und 10km sind per Auto einfach viel angenehmer.
Ich habe ja sogar Ewigkeiten gebraucht, bis ich meine eigene Mutter auf dem Friedhof besucht habe, und selbst das tue ich nur äußerst selten.
Vielleicht bin ich ein schlechter Mensch deswegen, würde ich beten und richtig an Gott glauben, könnte ich die Klassenkameradin wenigstens in mein Gebet einschließen.
Eventuell laufe ich demnächst mal wieder zur Waldkapelle zwischen den Dörfern und zünde ihr eine Kerze an.
Man muss nicht gläubig sein, um an jemanden denken und ihm eine Kerze anzünden zu dürfen, und ich hoffe , dass mir die Klassenkameradin nicht böse ist,wenn ich trotz Nichtgläubigkeit an sie denke und für sie eine Kerze dort lasse.




Montag, 27. Februar 2012
Thema: monolog



Ein leises Schmatzgeräusch, und das Sofa hat mich in sich aufgenommen.
Bin im Oberstufenzimmer, in dem Sofa, das irgendwann sein Skelett verloren hat,nur noch aus Polstermaterial besteht und anscheinend lediglich von seiner Überzugsmaterialhaut zusammengehalten wird. Ein bisschen Form bekommt das ganze durch die zwei Holzstücke, die wohl mal die Armlehnen formen sollten, zumindest so weit, dass man seinen Kopf leicht erhöht lagern kann, wenn man zusammengekauert schlafen will.
Sitze also vergleichsweise bequem, eigentlich in halbliegender Position, wenn auch eher unkonventionell gebettet, höre Sigur Rós und frage mich,was heute eigentlich mit mir los ist.
So kenne ich mich nicht, ausgeglichen und stabil und all das, so ausgeglichen und stabil,dass der sprichwörtliche Fels in der Brandung einpacken kann gegen mich.
Seltsam.
Testweise ein Blick zum Problem, aber da tut sich nichts.
Kein Seelenschmerz, kein Weltuntergang. Die Sonne scheint draußen weiter und in mir drin herrscht immernoch die Ruhe, an die ich sonst nicht einmal zu denken wagte.
Mein Herz überrascht mich immer wieder.
Und ich sitze da so seelenruhig im Sofa, während der Mensch da drüben ebenso in einem anderen liegt und darauf wartet, dass seine Freundin auch Unterrichtsende hat, weil er sie danach, wie immer, heimfährt und anscheinend dort bleibt, weiß das, sehe ihn, höre seine Stimme, als er mit einem anderen Abiturienten spricht, sehe, als er in meine Richtung schaut, Blicke treffen sich kurz, ich sehe weg, wie immer, aber fühle exakt nichts.
Da ist nichts, habe aufgehört, zu fühlen, weil ich es beschlossen habe, einfach so.
Es ist vorbei.
Und ich sitze da so seelenruhig im Sofa, während es einfach so vorbei ist, und habe mich heute nicht verunsichern lassen, nicht durch Blicke, nicht durch Lästereien, nicht durch den Umstand,dass ich der Deutschlehrkraft mitteilen musste, die Lektüre in den Ferien nicht nur nicht gelesen, sondern auch verloren zu haben; etwas, was mich normalerweise bis auf die Knochen verunsichert hätte, mit Menschen reden fällt mir schwer
-aber nicht heute.
Sitze da so seelenruhig im Sofa und habe es geschafft, in der Deutschstunde mit der Lehrkraft zu reden und das Genie während der Gruppenarbeit zu fragen, ob es mit mir und der Zweckgemeinschaft Gruppe sein möchte; einfach so, als wäre das etwas ganz Normales, mit Menschen zu reden. Das Genie hat sich gefreut, wir waren Gruppe und früher als alle anderen fertig, weil er Ahnung hat und ich auch, wir beide sogar mehr als die Deutschlehrkraft, das ist ja das Fatale, und eigentlich hätte ich mich nach dieser Feststellung wieder über die Lehrkraft aufgeregt, aber so sah ich ihn an, den Lehrer, wie er in seiner übertrieben schnellen Art gestikulierend, so nervig formulierend und mit dem furchtbar aggressiv machenden Sprechrhythmus irgendeinen weiteren themafremden Schwachsinn erzählte, und fühlte exakt nichts.
Egal war es mir, was der da machte. Sollte er doch,wenn er dann das Gefühl hatte, das sei Unterricht, was er veranstaltete.

Sitze so seelenruhig im Sofa und denke an die Deutschstunde zurück, und nichtmal im Nachhinein werde ich aggressiv, so, wie es nichts ausmachte, als die Blondine Nr.2 wieder mit dem ewiggleichen Thema anfing, das mich eigentlich nerven sollte, und dann dazu überging, aus dem Beziehungsbettkasten zu plaudern, wieder, und es mir egal war, als Blondine Nr.1 einstimmte.

Nicht einmal im Nachhinein machte es mir etwas aus, weder die Deutschlehrkraft mit dem Unterricht, der keiner ist, noch die Blondinen mit ihrer Ignoranz und ihren ach-so-interessanten Geschichten, noch das Problem;
saß so seelenruhig auf meinem Bett, meinen Tee neben mir und die schlafende Katze auf meinen Beinen, und es machte mir nichts aus, das alles.

Ist relativ angenehm, zur Abwechslung mal nicht das Gefühl zu haben, kaputt zu gehen oder Negativleere zu empfinden, sondern sich in einem Zustand zu befinden, der sehr nahe an Ausgeglichenheit grenzt, an Ruhe.

Vielleicht ist es eine Folge aus der nahezu hypnotischen Wirkung, die das mich schon den ganzen Tag begleitende Ný batterí auf mich hat,
oder ich bin inzwischen so angeknackst,dass ich zur Optimistin mutiere,
oder die Sache mit dem Problem hat meinem Unterbewusstsein einen Schubs in die richtige Richtung gegeben,
vielleicht bin ich aber auch gerade dabei,das zu tun, was immer nur in seiner Verneinung existent war:
Ich krieg mich auf die Reihe.
Eventuell ist das ja wirklich so,dass ich es jetzt auf die Reihe bekomme, mich und vielleicht sogar das Leben, einfach so, aus mir heraus.

Die Vorstellung, ich könnte mich und sogar mein Leben dauerhaft auf die Reihe kriegen ist seltsam, aber genauso seltsam war es, heute einfach so mit Menschen zu reden, weil ich es einfach gemacht habe; ich bin normalerweise sogar dann verunsichert,wenn ich mit der Feindin oder dem Kumpel rede, und die Begrüßungs- und Abschiedsumarmungssequenz bereitet mir im Normalfall ebenfalls Unbehagen und überhaupt sind soziale Interaktionen jeder Art etwas sehr schwieriges, aber vielleicht schaffe ich ja sogar das.
We will see.