Donnerstag, 2. August 2012
" Der Fremde hat geschrieben, von seinen Gefühlen für die Ghettoschwester is immernoch ein Rest da.
Wieso lässt dus nicht einfach und versuchsts mit dem Raucher? Der geht extra wegen dir auf Bitchparty, findet dich total toll und würd doch auch gut passen. Außerdem isser ne geile Sau.
"



Bei mir gibt es kein einfach; nicht, wenn es um sowas geht.
Der Kumpel sagt, Unkraut vergeht nicht, und ich hätte sogar Phönixpotenzial: Weiter bis zur kompletten Zerstörung, zerfallen in Einzelteile, wiederauferstehen aus der Asche.
Vielleicht ja wirklich; bis jetzt war es doch jedes Mal so..
Eigentlich will ich nicht, dass es so kommt. Nicht schon wieder.
Aber was kann man sich schon aussuchen.

Ich begrüße Sie offiziell im beginnenden Drama "mayhem und der Fremde", begleitet von einem Ensemble alter Ängste, namentlich "Ich will nicht wieder nur Ersatz sein", "Es wird nichts", " Es tut weh" (wobei das eher Gewissheit ist, denn das tut es schließlich jetzt schon zu Genüge) und "Hilfe, Gefühle"; in den Nebenrollen Unsicherheit, paradoxe Verlustangst, seltsame Eigenheiten und andere sympathische Gestalten aus den Untiefen meiner Seele.
Dass es aber auch jedes Mal ein Drama werden muss.. Ausgang ungewiss, Tendenz nicht gerade in Richtung Happy End, vermutlich.
Egal, ich kämpfe.
Spannen Sie schonmal die Regenschirme auf und wappnen Sie sich gegen die Fluten meines herannahenden Gejammers, denn die Zeichen stehen auf Sturm.





Montag, 30. Juli 2012
Das Auto des Rauchers ist das Erste seit langem, in dem ich hinten sitze, ohne mich ausgeschlossen zu fühlen; im Gegenteil, ich bin gesprächsintegriert, und der jetzt schon angetrunkene Musiker und er sind angenehm einfach, wenn es darum geht, die Unterhaltung irgendwie am Laufen zu halten, sodass ich mit Stolz von mir sagen kann, eine weitere Prüfung in Sachen "Kommunikation mit flüchtig Bekannten" gemeistert zu haben.

Mit dem Fremden wechsle ich den ganzen Abend lang nur wenige Worte. Er sitzt am anderen Ende der Bierzeltgarnitur, an die wir eine weitere Bank quer herangerückt haben, damit alle Leute draufpassen, umgeben von den Freundinnen der Ghettoschwester, von denen ihn zwei Stück anschmachten und dabei auffälliger sind, als ich es zu Anfangszeiten des Problems war.
Er ist betrunken, der Fremde; leicht glasiger Blick, aber er freut sich, uns zu sehen, und zwischendurch startet er Versuche einer Unterhaltung, die aber schnell wieder abbrechen, und so rede ich die meiste Zeit mit dem Raucher. Er findet es lustig, wenn ich die Unterhaltungen anderer Menschengruppen, die mit großen Gesten, ausdrucksstarken Gesichtern und viel Alkohol im Blut geführt werden, spontan neu synchronisiere, oder mir einen inneren Monolog ausdenke, der gerade im Kopf einer Person ablaufen könnte, und meine Stimme dazu passend verstelle, so weit das mit meiner Erkältung eben geht. Wir kriegen die Zeit so ganz gut rum, und damit, andere Leute, die Plüschpandas mit sich herumtragen, zu beobachten und zu überlegen, wie man so ein Kuscheltier am Besten stehlen könnte, zwischendurch gehen immer mehr Leute und es kommen neue dazu, da ist zum Beispiel auf einmal das Mädchen mit den schlechten Extensions; sie sieht aus wie eine solariumbraune, schwarzhaarige und überschminkte Version von Barbie, mit mascaraverklebten Kunstwimpern, durchs toupieren zerfetztem Haar, dicker Make Up-Schicht im Gesicht und Kippe in der Hand, und sie scheint ihre Hose vergessen zu haben, denn zur braunen Strumpfhose trägt sie lediglich ein türkises Top, nein, nicht länger geschnitten, und schätzungsweise 12cm Absatz.
An ihrer Seite befindet sich ihr Freund, Typ verzweifelter Jurastudent, auf den sie zwischendurch mit gespitzten Lippen und hochverstellter Stimme einredet.
Der Raucher und ich, wir schauen uns so an und wissen, dass wir das gleiche denken.
Sitzen auf unserer Extrabank und er redet; er erzählt mir anscheinend gerne von allem möglichen, und weil die Welt sowieso untergeht und eigentlich alles egal ist, lasse ich ihn erzählen, zwischendurch drifte ich geistig ab und höre nur auf den Klang seiner Stimme, dann bin ich wieder da und er sieht mich so seltsam an.
Zu viel Wärme in diesem Blick, ich komme mit sowas nicht klar...
Und am anderen Ende des Tisches der Fremde, und in seinen Wolfsaugen wieder dieser Ausdruck, irgendwo zwischen verloren und vertieft in Verzweiflung.
Ich möchte ihm helfen. Aber ich weiß nicht, wie...

"Tach, ich darf doch, oder?"
Ohne meine Antwort abzuwarten, lässt sich ein Bekannter des Barbiefreundes neben mir auf der Extrabank nieder, die der Raucher gerade in Richtung seines Autos verlassen hatte, um sich seinen Pullover zu holen.
Er ist schätzungsweise 32, Modell "schmieriger Typ", mit einer ebenso schmierigen Frisur, randloser Brille, angeschmuddelter Bomberjacke und einem Tablet-PC-Dings unterm Arm, das er sofort aufklappt.
"Ich bin sehr beschäftigt mit der Arbeit", erklärt er mir ungefragt und fängt an, auf dem Gerät herumzutippen.
"Hm." Geh weg, ich will nicht neben dir sitzen.
Der schmierige Typ fängt dann einfach an, zu reden, aber nicht auf neutrale bis angenehme Art und Weise, wie es der Raucher getan hat, sondern schmierig und abstoßend, biergeladen, schwanzgesteuert und viel zu nah, und alle Alarmglocken in meinem Kopf schrillen in vollster Lautstärke, ich rutsche weg.
Er rutscht nach. Und grinst. Schmieriges Grinsen.
Arschloch.
Unterhalte mich mit der Ghettoschwester, hoffe, dass er irgendwann abhaut und warte, dass der Raucher endlich wiederkommt, aber der ist auf dem Rückweg am Nachbartisch in einer Unterhaltung versumpft, gerade redet er von seiner Arbeit, noch ein Landschaftsgärtner, und darüber,dass die ihn kostenlos ins Fitnesstudio schicken. Schwing doch bitte dich und deine Muskeln mal hier rüber, ich habe gerade vermutlich rational nicht begründbare Angst vor dem Schmiertyp und hätte gerne einen physischen, menschlichen Platzhalter zwischen uns.
Der Raucher lässt auf sich warten, also stehe ich, sobald das Feuerwerk losgeht, einfach auf und gehe weg vom Tisch, hinter der Schwester des Fremden her in Richtung einer Mauer, auf die ich klettern will, damit ich mehr sehe.
Es scheitert an der Tatsache, dass besagte Mauer mir fast bis zu den Schultern reicht und meine Sportlichkeit sich stark in Grenzen hält. Also stehenbleiben auf der Parkbank davor, Feuerwerk beobachten mit weit in den Nacken gelegten Kopf, zehn Minuten lang, bis es vorbei ist.
Danach Abschied vom Fremden, sie wollen gehen. Er umarmt mich von sich aus und unsere Köpfe stoßen dabei aus Versehen zusammen. Dann erinnert er sich daran,dass er versprochen hat, mir einen Plüschpanda zu besorgen, anscheinend das Festmaskottchen, entschuldigt sich dafür,dass er es nicht geschafft hat und zieht schließlich mit der Ghettoschwester und ihren Freundinnen ab.
Ja, es tut weh.

"Alteeeeeeeeer, deine Ex!" Der Musiker, der sich einen weiteren Cocktail geholt hatte, plumpst neben dem Raucher auf die Extrabank, lacht erstickt und tätschelt ihm die Schulter.
-"Was ist mit der?"
"Alter, die, die.." Er ringt vor lauter Lachen nach Luft, "Die hat mich vorm Klo angelabert, ob sie mal mit dir reden kann, rein freundschaftlich. Mich hat se gefragt, wegen reden mit dir, mich!" Lachkrampf seinerseits.
Der Raucher zieht nur die Augenbrauen hoch und gibt dem Musiker den Rat, nur noch Bier, Cola und Wasser zu trinken, und den Hinweis, ihm eine Schachtel mitzubringen, mit auf den Weg, als er loszieht, um sich neue Zigaretten zu kaufen.
"Meine Ex is so ein bisschen der Terror in Person. Also hat rumtelefoniert, wo ich bin, is mir nachgelaufen und nachgefahren, wenn ich für die Arbeit unterwegs war, und is mir voll aufgelauert, als Schluss war."
-"Krasse Sache." Wenn ich das mal nicht schön auf den Punkt gebracht habe.
Die Raucherex taucht dann auch tatsächlich auf, beugt sich zu ihm herunter, und beginnt, verzweifelt und verkrampft auf ihn einzureden. Nur Freundschaft, mehr nicht; sie wäre ja so gerne mit ihm befreundet, einfach so, und ach, es sei ja so dumm gewesen, ihr Verhalten nach der Trennung, aber jetzt, nachdem sie ein ganz neuer Mensch sei, könnten sie ja..
Sie redet immer schneller und immer verzweifelter, drei Minuten lang. Der Raucher beschränkt sich darauf, ihre Umarmungsversuche und ihr Herumgefuchtel abzuwehren und immer wieder zu betonen, dass er sich die Sache durch den Kopf gehen lassen müsse.
Sie scheint es dann auch zu begreifen, verabschiedet sich und fragt noch, ob sie ihn umarmen dürfe.
"Nein." Klare Ansage seinerseits, hysterisches Lachen ihrerseits, und ihre Rede beginnt von vorne.
"Dein Freund ist gerade beschäftigt?" Der Schmiertyp hatte wohl, ganz, wie das schmierige Typen tun, seine vermeintliche Chance gewittert, einen weiteren Annäherungsversuch zu starten.
"Ich komme trotzdem ganz gut alleine klar, danke."
Überlege, ihm sein Tablet gegen den Kopf zu schlagen.
-"Ach, alleine ist doch langweilig. Und ich sitz hier ja auch rum und die anderen sind schon weg.."
"Dann such die mal lieber." Ich fühle mich belästigt. Massiv. Vor allem durch das, was er nicht sagt.
-"Willst du mich loswerden oder wie?" Schmieriges Lachen, er hat Zahnlücken. Das personifizierte Klischee.
"Ja." Wieder Lachen, er versucht,näher zu rutschen, ich stehe wortlos auf und vermutlich ist das Flucht.

Vermutlich ist es nicht so schlau, den Raucher alias meine Fahrgelegenheit einfach zurückzulassen, aber die Kombination "fremd", "Annäherungsversuch","gruselig", "Schmiertyp" hat meiner noch in den Kinderschuhen steckenden stoischen Ruhe einen ziemlichen Schlag ins Gesicht versetzt. Also laufe ich weg, erstmal ziellos, bis zu einem Kneipenparkplatz.
Dort holen sie mich auch ein, die Negativgefühle; Angst vor dem Schmiertypen, Verlustangst in Sachen Fremder, überhaupt die Unsicherheit wegen dem Fremden.
Die Art der Depressivität, die einen nach einem lauten Abend und vorzugsweise nach Mitternacht dann einholt,wenn man alleine ist.
Und eigentlich sollte doch alles ganz anders sein.
Einfacher vielleicht, ausnahmsweise mal einfach und so, wie es sein soll.
Stattdessen ist er weg, betrunken oder beides, und ich bin auf der Flucht vor einem Pedobären, der nur darauf gelauert hat,dass die Raucherex sich auf die einzige noch anwesende und nüchterne Person außer mir stürzt.
Ich sollte mich am Montag für die Schule krank melden. Böse Erkältung und böser Herzschmerz, das verträgt sich nicht mit "Sport- und Spaßtag für die ganze Schule".
Überhaupt bin ich sozial schwer kompatibel, zumindest, wenn es dauerhaft und echt sein soll.
Dem Raucher scheint das bis jetzt nichts auszumachen.
Aber bis jetzt ist er auch überzeugt davon, dass ich super bin, und tatsächlich hat er es geschafft, meine durchgefrorene Wenigkeit auf dem Parkplatz zu finden.
"Was war denn los, wieso bist du auf einmal weggelaufen? Angst vor meiner Ex?" Eigentlich war der letzte Teil des Satzes humorvoll gemeint, aber der Gesichtsausdruck des Rauchers schwingt schnell in ernsthaft bis besorgt um.
"Jetzt mal echt. Irgendwas passiert?"
Ich habe sowieso schon Probleme mit Kontakt zu fremden Leuten, mich vom Schmiertyp belästigt gefühlt, bin außerdem frustriert, weil ich in deinen besten Kumpel verliebt bin und das irgendwie phasenweise nicht so rosig aussieht, außerdem habe ich Angst davor,dass du mich toll findest, die Freundin meines Vaters ist furchtbar und ich friere hier gerade fest.
-"Mir war der Schmiertyp unheimlich. "
"Boah, da haste aber auch Recht, pass bloß auf bei dem. Der ist eigentlich verheiratet, aber versucht dauernd, sich an irgendwelche total jungen Mädchen ranzumachen und hängt auch immer bei der Barbie und so rum, keine Ahnung, was das soll.. aber getan hat er dir nichts, oder?"
-"Nee, bin ja dann weg; gruselig ist der trotzdem. Aber vielleicht reagiere ich auch über..:"
"Ach Quatsch." Er startet einen vorsichtigen Versuch, mich zu umarmen, entscheidet sich aber doch auf halbem Weg für die leichter erträgliche Variante, lediglich einen Schritt näher zu kommen und mir eine Hand auf die Schulter zu legen.
"Aber mayhem, wenn der wieder ankommt, dann sag mir das auf jeden Fall, dann red ich mal Klartext mit dem."
-"Danke."
"Kein Ding."
Stehen so auf dem Kneipenparkplatz und schweigen uns an.
Kein angenehmes Schweigen wie manchmal mit dem Fremden, oder mit Faust, sondern dieses peinlich-seltsam-unangenehme Schweigen, wegen dem ich eine passende deutsche Entsprechung fürs englische awkward suche.
Es erinnert mich an das peinliche Schweigen im Auto des Studenten, nachdem er mich mal heimgefahren hatte und anscheinend darauf wartete, dass teeniefilmmäßig was passiert, nur mit dem Unterschied, dass ein bierüberschwemmter Kneipenparkplatz, auf dem Maßkrugscherben und Kotze im Straßenlaternenlicht schimmern nicht ganz so klischee"romantisch" ist.
"Raucher, wo hast du eigentlich den Musiker gelassen?"
Mal die allgemeine Stille durchbrechen, und der Musiker hat sonst auch niemanden, der ihn heimfährt.
-"Puh, gute Frage.." Der Raucher kratzt sich am Kopf.
Der Musiker hat Talent dafür, verloren zu gehen, dann verwirrt und verlassen anzurufen und dabei äußerst präzise Angaben wie "Ich bin hier, vor mir sind Häuser.Kommt her und holt mich!" bezüglich seines Standortes zu machen.
Allerdings kann sich sein Bierkonsum fast mit dem des Fremden messen, und nachdem die meisten Stände schon geschlossen haben wissen wir wenigstens, wo wir nach ihm suchen müssen.
Finden ihn dann auch, vertieft in eine Diskussion mit einem fünfzigjährigen Amerikaner, der nur immer auf den gegelten Iro des Musikers zeigt und dabei dauernd "Just like yours, my hair used to be just like yours!" wiederholt.
"Ich glaube, das dauert noch." Der Raucher zündet sich noch eine Zigarette an.
-"Alteeeeeeeeeeeeer, der hat mir n Bier ausgegeben, weil ich geile Haare hab!" Für den Musiker ist wieder alles lustig, und er schreit mir so laut in mein Ohr, dass ich Angst habe, dass das Pfeifen wieder einsetzt.
Tut es aber nicht, zum Glück. Entscheide mich trotzdem dafür, ein paar Schritte ums Eck zum Raucher zu gehen und mich neben ihm ins Fenster eines Hotels zu setzen.
"Mayhem, ich glaub, ich muss öfter nüchtern bleiben. Das ist total krass, wie komisch Besoffene sind, du hattest echt Recht."
-" Muss schon faszinierend sein, zur Abwechslung den ganzen Abend bewusst zu erleben." Da ist genug Humor in meiner Stimme, um es nicht als Angriff zu sehen. Hoffe ich.
"Ja, irgendwie echt. Total krass."

Ein Bierkrug fliegt in unsere Richtung, ihm folgt ein "Scheiß Grufties!" aus irgendeiner Ecke.
Der Raucher grinst mich an, ich ihn ansatzweise auch. Schubsen uns mit einem "scheiß Grufti ey" gespielt ernsthaft gegenseitig aus dem Fenster, um anschließend darüber zu philosophieren, warum schwarze Kleidung, Stiefel und Nietengürtel uns trotz des Arch Enemy-Pullovers des Rauchers und meiner treuen Bandjacke automatisch in die Gruftiecke schieben. Der Raucher tippt auf meine Piercings, wobei zu bedenken sei, dass die in der Menge eigentlich eher in Punkkreisen vertreten seien.
Auch der Musiker kann uns keine Antwort geben, der findet nur wieder alles lustig, schwankt, stützt sich auf uns ab und fällt fast um, und als wir ihn zum Auto tragen, will er mir irgendwann die Hand geben, unterbricht seinen Lachanfall und schaut mich auf einmal todernst an, um mir dann sein Beileid dafür auszudrücken, dass ich keinen Plüschpanda mehr bekommen habe.
"Soo Leid tust du mir, sooo Leid.... das ist echt schlimm, ey." Er schüttelt nur immer weiter den Kopf, bis wir das Auto erreicht haben und ihn auf der Rücksitzbank querlegen.
"Soo Leid, sooooooo Leid...."
-"Alter, halt die Klappe, ich muss mich aufs Fahren konzentrieren!"
"Soooooooo Leid..." Der Musiker fängt tatsächlich an, zu weinen.
-"Ist der immer so?", will ich vom Raucher wissen, und weiß nicht, ob ich das Verhalten des Musikers lustig oder traurig finden soll.
"Ja, eigentlich schon." Er dreht Kataklysm lauter, um das Gejammere des Musikers zu übertönen, schafft es tatsächlich, sein Auto auf einer gefühlt pappschachtelgroßen Fläche zu wenden, nimmt bei der Ausfahrt aus dem "Nur für Besucher der Wellness-Anlage!"-Parkplatz aus Versehen fast ein Stück Hecke mit, verfährt sich dreimal, weil er so gutgläubig ist und auf die "Ich kenn ne Abkürzung, jetzt müssen wir nach links"-Zurufe des Musikers hört und muss schließlich eine Vollbremsung hinlegen, weil er über das manische Lachen von der Rücksitzbank und seine Musik hinweg mein kratzig-erkältetes "Halt, da wohne ich!" nicht gehört hat.




Sonntag, 29. Juli 2012


Vorbeirasende Menschenmengen, nach denen Berlins kommen mir unsere fast lächerlich vor; und alle sind sie da.
Die alte Sache, kein Wort der Begrüßung, seine Schwester, dito, der Student, der mich traurig anschaut, wenn er denkt, ich sähe es nicht, und neben mir auf einer Seite der Kumpel und Hasischatzi und auf der anderen Kriemhild und Freund.
Wir warten.
Wegen mir warten wir; weil der Fremde schrieb, gegen 21 Uhr wäre er da, und ich die anderen darum gebeten habe, die 5 Minuten noch hier zu bleiben.
Aus 5 Minuten wird eine halbe Stunde, irgendwann laufen wir weiter und ich fange an, nervös das Handy zu beobachten.
Noch ein "irgendwann" später taucht er auf, eineinhalb Stunden zu spät, im Schlepptau den Raucher und den Musiker, eine dreiviertels leere Flasche Wein und auf der Suche nach der Ghettoschwester.
Begrüßungsumarmung, nur die des Rauchers löst eine Abstoßreaktion aus, und ich frage mich, wie viel sie schon getrunken haben.

Es wird mehr im Laufe des Abends.
Wir gehen so zu zweit nebeinander übers Fest und die Schmetterlingsflugsaurier flattern so wild-durchgeknallt vor sich hin in meinem Bauch, dass ich mir nicht sicher bin, ob mir wegen meiner Erkältung schwindlig ist oder wegen ihnen.
Ich habe mich mit literweise Tee, gefühlt kiloweise Halsbonbons und einmal Erkältungsmedizin (angeboten bekommen von Hasischatzi) auf halbwegs normales Niveau gedopt, sieht man davon ab,dass meine Stimme wieder mal nach 30 Jahren Kettenrauchen klingt, aber egal, alles ist gut, wir laufen nebeneinander und reden, die Welt ist schön.
Wir reden über Pseudogangster, Selbstfindung und Stone Sour, über Katzen und Nichtrauchersein und Räucherstäbchen, und manchmal auch einfach nur totalen Schwachsinn, aber wir reden den selben Stuss, deshalb ist es lustig, und solange er da ist, holt er sich nur Wasser und das übrige Viertel Wein bleibt in der Flasche.
Dann ruft die Ghettoschwester an, und weg ist er. Will nur schnell sie und ihre Freundinnen von einem anderen Stand herholen, bis gleich. Und weg ist er.
Und bleibt weg.
Eine halbe Stunde.
Die Verunsicherung reibt sich die Hände.
Eine Stunde.
Ich bin nicht mehr nur leicht verunsichert und frage mich, wie das meine Nerven eigentlich aushalten.
Zwei Stunden.
Der Kumpel bietet mir wahlweise einen Schluck von seinem Bier oder Cuba Libre an; entscheide mich für mein Wasser und dafür, mich auf eine Unterhaltung mit dem Raucher einzulassen.

Der sitzt mir gegenüber und wird vom völlig betrunkenen Musiker zugelallt, während er gleichzeitig versucht,mit mir zu reden, ich habe es geschafft, eine Unterhaltung zu starten, und dann klettert er auf einmal über den Tisch auf den freien Platz neben mir, auf dem eigentlich der Fremde saß.
Der nicht mehr da ist.
Und der Raucher erzählt mir Familiengeschichten, über ein paar Ecken ist er anscheinend mit der Freundin der alten Sache verwandt, und irgendwann sucht er sein Handy raus und zeigt mir ganz stolz ein Foto von seinen zwei Katzen, wie das manche Mütter tun, die Babyfotos mit sich herumschleppen.
Die eine Katze ist weiß mit ein paar grauschwarz getigerten Flecken, die andere komplett schwarz, und sie sehen da beide sehr glücklich aus, wie sie sich auf einem dunkelrot bezogenenen Bett so breit wie nur irgendwie möglich ausstrecken und mit großen Kulleraugen in die Handykamera staunen.
Sie scheinen ihm sehr am Herzen zu liegen, die Katzen; seine Schwester hat sie bei ihrem Umzug mitgenommen und er sagt, wäre er nicht ultra-trver Black Metal-Fan und hätte somit ja eindeutig keine Gefühle, würde er sich jetzt deswegen an meiner Schulter ausflennen; aber vielleicht läge das auch einfach daran, dass er schon einiges intus habe.
Kann sein, vermute ich. Und mit Seitenblick zum Kumpel und dem Musiker, die zu schlechter Partymusik schunkeln und jubeln und gröhlen äußere ich den Verdacht, dass er da wohl nicht der Einzige ist.
Aber die Katzen. Er vermisst seine Katzen. Und er habe sich extra eine katzenfreundliche Wohnung gesucht damals, mit genug Platz und einem Balkon, den er mit Katzengitter abgesichert habe, und zum Rauchen sei er immer raus, damit die Katzen das nicht abbekämen.
"Das wär ja unter aller Sau, wenn ich meinen Katzen meine Qualmerei zumuten würde! Quasi Passivraucherkatzen. Nee, das geht mal garnicht." Er zieht entrüstet an seiner Zigarette.

Drei Stunden.
Die übliche Truppe geht, Kriemhild und Freund auch.
Hasischatzi und der Kumpel bieten mir an, bei ihnen zu übernachten, der Raucher bietet mir an, ebenfalls bei der Tante des Fremden zu schlafen, bei der sie sich einquartiert haben.
Der Kumpel bittet mich, kurz mitzukommen, Bierkrüge abgeben, und erklärt mir auf dem Weg halb lallend, dass ich auf keinen Fall mit zum Fremden dürfe, weil der bestimmt total besoffen sei, aber vor allem, weil der Raucher ganz eindeutig an mir interessiert sei und das falsch wäre, denn ich solle gefälligst mit dem Fremden zusammenkommen und glücklich werden, wir hätten vorhin so süß zusammen ausgesehen.
Der Fremde kommt sowieso nicht wieder, zischt die böse Stimme Unsicherheit, und ich denke mir so, der Raucher ist ja eigentlich ganz nett. Mag Katzen und Metal, ist zwar durch arbeitsbedingte Dauersonnenbestrahlung blond, aber das kann ich verschmerzen, und er hat Tätowierungen und ein Piercing.
Entscheide mich dafür, es zu lassen. Ich bereue nicht gerne Vermeidbares, und auch, wenn er mich problemlos tragen kann, wie wir später feststellen, ist da immernoch die Tatsache, dass ich mich, (mehr oder weniger frustbedingte) Anziehung hin oder her, von ihm nicht umarmen lassen kann.
Anerkennendes Schulterklopfen vom Kumpel, als ich ihm das mitteile, und ich schaffe es tatsächlich, ein bisschen Abstand zwischen den Raucher und mich zu bekommen, ohne ihn vor den Kopf zu stoßen, was auch deshalb ganz gut klappt, weil er keiner von der Sorte ist, die sich permanent und aggressiv an einen ranschmeißt.

Vier Stunden.
Die Stände schließen und ein paar Polizisten wollen uns halbherzig aufräumen, geben es aber sehr schnell wieder auf, als in einer anderen Ecke ein lautstarker Pärchenstreit ausbricht, der ins Handgreifliche übergeht.
Wir kommentieren von unserem Platz aus ein bisschen den Streit, als wäre es ein Boxkampf, dann ruft der Raucher auf meine Bitte hin den Fremden an, auch, weil er ihn fragen möchte, ob ich mich eventuell ebenfalls bei der Tante einquartieren kann, nachdem wir nicht müde sind, aber der Kumpel und Hasischatzi schon, und nach einen kurzen Telefonat gehen wir wieder zu der einsam auf einer Grasfläche stehenden Bank zurück, an der der Kumpel und ich den Fremden und die anderen abgeholt hatten.
Da steht er und wartet, mit dem glasigsten Blick seit ein paar Wochenenden, und kann zwar noch reden, ist aber ansonsten völlig weg. Irgendwo habe er die Ghettoschwester verloren, sie dann ewig gesucht, hätte dann nicht mehr zu uns zurückkehren können, und überhaupt, die Ghettoschwester..
Einfach weiteratmen.
Ich kann sogar kurz die Augen schließen, der Rest ist sowieso zu betrunken, um darüber nachzudenken, also stehe ich bestimmt zwanzig Sekunden mit geschlossenen Augen vor der verwahrlosten Bank und erinnere mich daran, einfach weiteratmen.
Alles wird gut, du musst nur atmen.
"Wir gehen."
Hasischatzi schleift den Kumpel mit, und nachdem da gerade mein Schlafplatz geht, verabschiede ich mich eben auch. Es reicht für eine Abschiedsumarmung für den Raucher, der sagt, er würde sich sehr freuen, wenn ich morgen, nein, es ist ja schon Sonntag, also heute abend, wiederkäme.
Der glasige Blick des Fremden richtet sich auf mich, nach kurzem Zögern umarme ich auch ihn, flüchtig, und folge dann im Eiltempo Hasischatzi und dem Kumpel.


"Also ich würd mir da nicht zu viele Hoffnungen machen."
In Hasischatzis Wohnung kleben überall Familienbilder, stehen überall Blumen und das verdammte Sheepworldschaf liegt in allen Varianten auf dem Bett, auf den zwei Sesseln und sogar die Gästematratze, die ich bekomme, hat ein Sheepworldkopfkissen, eine Sheepworlddecke als improvisierten Bezug und eine richtige Sheepworldzudecke.
-"Vielleicht ja doch."
Es hat doch so gut angefangen...
"Bist wohl optimistisch?"
-"Nein, naiv und verzweifelt."
Hasischatzi und ich sitzen am Küchentisch, während der Kumpel nach einer Zahnbürste für mich sucht. Er hat es ihr anscheinend erzählt, denn normalerweise hat sie kein gutes Gefühl für Zwischenmenschliches, außer, es ist sehr offensichtlich.
"Sorry, keine Zahnbürste da. Aber schau mal, es ist jetzt 3Uhr, wenn du um 7 heimfährst, kannst du ja dann Zähneputzen. Mundspülung kannst du haben."
Also Mundspülung.

Beim improvisierten Zähneputzen vibriert das Handy, sms vom Fremden.
Hey du,
Du hättest wirklich auch bei mir, bzw bei meiner Tante schlafen können, so arschlochmäßig oder besoffen bin ich doch gar nicht... oder?^^

Und wieder sein Blick vor meinem inneren Auge. Und die Ghettoschwester. Das ewige Warten auf ihn, das er damit begründet hat,dass er noch auf einer Familienfeier fest hing, gegen die Tatsache,dass seine Weinflasche schon dreiviertels leer war; sein Spontanverschwinden. Zu zweit übers Fest laufen.
Hey Fremder,
Ganz ehrlich, so sicher war ich mir da phasenweise nicht.
Und ich wusste auch nicht, ob das einfach so klargehen würde; ich schlaf jetzt bei Hasischatzi und dem Kumpel, das passt schon so.

Vielleicht hätte ich an den ersten Satz einen Smiley anhängen sollen, aber ich bin nicht in Smileystimmung.

Sorry mayhem, war vorhin auch einfach ein Missverständnis mit der Ghettoschwester, deswegen hat das so lange gedauert.. naja, ist ja jetzt auch egal.
Schlaf gut. :)

Dieses Missverständnis hat mich einige Nerven gekostet und sorgt, wie überhaupt die Zeit, die ich dich jetzt schon persönlich kenne, dafür, dass ich mindestens fünf Jahre früher graues Haar bekomme.
Ja, passiert..
Gute Nacht.

achja, gehst du morgen wieder aufs Fest?


Schon zwei Minuten später eine Antwort.
Ja, ich helfe nachmittags und werde abends schon irgendwie da sein, denke ich.. Gehst du auch hin? Kannst auch hier schlafen und ich verspreche dir, dass ich dich _allerspätestens_ Montagmorgen heimfahre. Mit deiner Erkältung kannst du sowieso nicht in die Schule, deine Stimme ist inzwischen bestimmt total weg und ihr habt doch nur noch 2, 3 Tage, oder?


Morgens, halb acht in Deutschland. Eine übermüdete Frau mayhem, noch in den Klamotten vom Vorabend, völlig ohne Stimme und mit extremem Erkältungswattehirn, schlurft in die einzige Tankstelle, die sonntags offen hat, um ihr Handyguthaben aufzuladen.
War auch nötig, die sms-Konversation mit dem Fremden hatte sich bis halb sieben hingezogen, dann driftete sein Schreibstil ziemlich ins übermüdet-betrunken-fehlerbeladene ab und man konnte auf seine sms nicht mehr so gut antworten, also habe ich es gelassen, konnte nicht einschlafen, wurde vom Kumpel heimgefahren und widme mich jetzt hochproduktiv der Hausarbeit, um anschließend im Idealfall noch ein paar Stunden zu schlafen.




Freitag, 27. Juli 2012
Einmal durch die Hauptstadt und sämtliche Emotionen;
Sommersprosseninvasion auf meiner Haut, diverse CDs in meiner Tasche, Hass auf die restliche Gruppe in meinem Herzen, und ich bin sowas von ferienreif.

Keine Bilderflut, dafür Texte, seitenweise. Nachts geschrieben, 34 Grad im Zimmer, bei mp3-Player-Licht und zu seiner Musik.

Ihm geschrieben, wegen dem Wochenende, ein entschiedenes vielleicht geerntet, daraufhin meinen kompletten nicht vorhandenen Mut zusammengerafft und in ein "kannst mir ja Bescheid sagen wegen Samstag" gepackt, auf das sogar eine Reaktion folgte.
Wegen heute habe ich mich dann nicht mehr getraut, zu fragen, obwohl mir spontan von Hasischatzi höchstpersönlich ein Schlafplatz angeboten wurde.
Morgen. Ich habe keine Schmetterlinge im Bauch, sondern Greifvögel, nein, Flugsaurier. Mindestens.
Vielleicht kein Schlafplatz, aber mit Glück ein Abend mit dem Fremden. Ich bin nicht nervös oder so..ich bin am Ende.
Wohl auch ein Abend mit der Ghettoschwester, und wenn er bei ihr übernachtet, würde ich normalerweise schreien, oder weinen, oder beides;
aber ich habe Berlin überstanden, ich schaffe alles, was ich will.

Somit bleibt nur noch zu klären, wie ich in die Stadt und wieder heimfahre, und vor allem, wie ich die Erkältung, die ich mir trotz allem irgendwo zwischen durchschnittlich 15km Laufen pro Tag, 11h Anfahrt, purer Verzweiflung, extremem Zorn, absoluter Genervtheit, totaler Faszinaton, Spontanmusik mit Leuten, die ich gar nicht kannte, dem Bundestag, diversen Gedenkstätten und Museen für alles mögliche, "no photos please" bei dem Versuch, die absolut traumatisierten Zootiere abzubilden, "Nein danke, ich bin schon satt" und die wildesten Geschichten als Standardantwort der Zwanghaften auf die Frage, ob sie mit Essen gehen möchte, Beziehungsphilosophieren der Blondinenfraktion, akutem "Ich vermisse meine Theatergruppe" und dreisprachigem Verhandeln mit Markstandbesitzern eingefangen habe, wieder losbekomme.
Bis morgen.


An dieser Stelle noch eine ganz große Empfehlung für die Leute vom Hexenkessel-Theater und Voltaires Candide , ein "Danke" an den nicht mitlesenden Theaterbesuchskollegen, der eine komplette Reiseapotheke dabei hatte und somit sicherstellte, dass die Erkältung und ich bis heute durchhalten, eines für Frau Huehnerschreck und eins für Herrn Killerblau für den sms-Support im menschlichen Krieg, den die ganze Fahrt darstellte, und zum Schluss noch die Feststellung, dass ich aufgrund der Tatsache, dass die Fahrt furchtbar schrecklich und katastrophal, die Stadt an sich aber ganz schön war, wohl noch einmal hinmuss.

Und jetzt gibts erstmal Erkältungstee.