Freitag, 6. September 2019
Thema: Outtakes
Ich habe ja am 28. oder 29.07. von meiner unheimlichen Begegnung der männlichen Art berichtet.
Die bereinigte, stilistisch hochwertige Version.

Gemäß der von Dürrenmatt in ergreife die Feder müde (übrigens generell ein wunderbarer Text für alle Achterbahnen des universitären, schriftstellerischen und allgemeinen Lebens-Schaffens, dabei mag ich Lyrik nicht mal) geäußerten Empfehlung, die schlechtere Fassung stehen zu lassen, findet diese eben doch ihren Weg unter die virtuellen Bühnenscheinwerfer;
und wenn es nur ist, um mich daran zu erinnern, mir derartige Menschenkateogrien nicht mehr anzulachen, wenn ich mal wieder zu vergessen drohe, wie sehr mich sowas aufregt. Ein netter Anlass, den Erstversionen, die nicht veröffentlicht wurden (generell schreibe ich einfach runter, was mein Kopf so hergibt, manches bleibt dann aber doch offline), doch noch ein wenig zweifelhafte Ehre zuteil werden zu lassen. Manchmal sind die Outtakes ja der bessere B-Movie.


Ich bin zu alt für diese Scheiße - Fuckit (oder Fuckboy?)-Edition

Ein erneuter Fall von "wie, Frau Mayhem hat ein Sexleben? War die nicht erst vor fünf oder zehn Jahren grad mal 18?". Ja, kommt vor (leider). Und nein, ich schreib' hier nach wie vor nicht alles rein, was mir so passiert.
Wer aber schon immer lesen wollte, wie ich mich über Menschen aufrege, die ich nackt gesehen habe, hat jetzt die exklusive Chance. Whoop-whoop!


Ich dachte mir gestern also, es sei eine gute Idee, einen Tag Unikrampause zu machen und mit ein paar anderen Theatermenschen was trinken zu gehen.
Ich habe so, nach fast zwei Jahren, meiner geliebten Lieblingskneipe einen erneuten Besuch abstatten und außerdem feststellen können, dass Wodka mit Melonenlimo und ein paar gefrorenen Heidelbeeren echt gut schmeckt.


Nebenher habe ich mich über meine betrunken zu Dramaqueens (m/w/d) mutierende Gesellschaft aufgeregt und dann doch wieder versucht, konstruktiv zu deeskalieren, vermitteln und Frieden zu stiften - um dann selbst angegangen zu werden.

Irgendwo zwischen Bier und Zimt-Tequila hat sich die Unsicherheit wieder gemeldet und ich wurde zum auf Autopilot krampfhaft dauerquatschenden Bilderbuchbeispiel für Sprechdurchfall und Anxiety-Level, die Emo-Teenies vor Neid erblassen lassen würden.
War auch schon mal besser.

Am Ende des Abends beschloss ich, wie ich dachte im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, mit dem mir vom Sehen bekannten und relativ besoffenen Frontschreier einer semi-bekannten BM-Gruppe heim zu gehen- nicht, weil er Frontschreier oder die Gruppe etwas bekannt ist, sondern weil er, wenn es dunkel genug ist und man das Gesicht ausblendet, soweit passabel aussieht, emotionsbehindert und misanthrop genug ist, um sich nicht zu verknallen, und ich einfach nicht alleine schlafen gehen wollte.

Nachdem ich, neben einem vom erfolglosen Kampf um meinen oder seinen Orgasmus in den Komaschlaf beförderten, schnarchenden und im Schlaf sabbernden Typen saß, der zwischenzeitlich sämtliche Attraktivität für mich verloren hatte (hatte er die eigentlich überhaupt nennenswert? Also, über das "reicht zur Bedürfnisbefriedigung"-Maß hinaus?) und nicht schlafen konnte, weil ich meine Medikamente nicht dabei hatte, mit mir verhandelte, ob ich einfach gleich gehe oder den Anstand besitze, zu warten, bis er wach ist und mich zu verabschieden, schlichen sich doch ein paar Zweifel bezüglich des Vollbesitzes meiner geistigen Kräfte ein.

Als dieser Mittdreißiger anfing, erst zu jammern, dann zu schmollen und schließlich zu meckern wie ein pubertärer Junge, nachdem ich ihm mitgeteilt hatte, dass ich nach Hause gehen möchte/werde und es keine neue Runde gibt, war ich beim "Ach echt jetzt, nicht schon wieder so einer" angekommen.
Mir doch egal, ob wir das "nicht richtig zuende bringen konnten", ich hab keine Sekunde geschlafen, Bauch-, Arm-, Kiefer- und Oberschenkelmuskelater, und grad einfach keinen Bock, mir das nochmal zu geben, und wenn dein Schwanz vibrieren, rotieren und dabei lustig blinken könnte.

Meiner Meinung nach berechtigte Einwände und überzeugende Argumentation; der Frontschreier meinte trotzdem, es dreimal versuchen zu müssen, inklusive dem "Hupsa, da sind mir die ersten Zentimeter meines Glieds doch glatt reingerutscht in dich", und dann trotzdem zu schmollen, als ich ihn, samt besagtem Geschlechtsteil, zur Seite rolle/werfe und anfahre, ob er eigentlich behindert ist, ich hab fünfmal gesagt, dass ich keine Pille nehme, und, falls ers nicht mitbekommen hat, die Kondome da auf dem Boden sind der Beweis dafür, dass er es *eigentlich* sowohl wahrgenommen und auch akzeptiert hat.

Und trotzem bin ich diejenige, die zuhause beim Kaffee mit der Mitbewohnerin und ihrer Freundin über ein schlechtes Gewissen klagt und darüber, dass ihr Schuldgefühle gemacht wurden, weil sie ohne weitere Runde Genitaltango heim ist.

Auf die Äußerung, dass ich grad nicht weiß, wie man sich jetzt richtig verabschiedet von oberflächlichen Bekanntschaften, die man jetzt doch etwas besser kennen gelernt hat, wirft er mir ein "normalerweise schläft man nochmal miteinander, weißte?" entgegen, wird dann aber bitchy und behauptet, nee, alles ok, er ist mir nicht böse oder sowas, als ich, mindestens genauso aufgebracht und fast heulend (jup, ich heule auch vor Wut manchmal) frage, was die Scheiße bitte soll, mehr als mich entschuldigen kann ich nicht und außerdem, was soll das für ein Sex sein, wenn es eine der Beteiligten es nur über sich ergehen lässt und darauf wartet, dass es endlich rum ist.
Aber natürlich, er ist nicht sauer.

Ich habe keine Lust darauf, ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn ich Männern (bisher ist mir das ausschließlich bei Männern passiert) sage, dass ich doch nicht mehr/nicht nochmal mit ihnen schlafen möchte. Mir hat das schlechte Gewissen nach dem Typen, den ich mehr oder weniger mittendrin mehr oder weniger rausgeworfen habe (ich weiß, kein feiner Zug, aber psychische Gesundheit geht vor) und der dann auf trauriger, verletzter Hund gemacht hat, gereicht.
Oder der Ex, der, nach einer Blinddarm-Op seinerseits, entgegen meiner Hinweise, dass ihm das weh tun wird und ich keine Lust habe, meinte, da mit Oralverkehr unbedingt noch was drehen zu können/wollen/müssen oder es halt "einfach mal zu versuchen, manchmal kommt die Lust erst dabei", und der zu mir meinte, ich soll mich doch nicht so anstellen, er habe, aufgrund der OP, schließlich auch Schmerzen und da müsse man durch, als ich, weinend und eine Angstattacke runter kämpfend, nicht mehr auf die Welt klar kam, nachdem ich ihn angeschrien hatte, dass ich eben grad nicht will.
Und der Typ jetzt; mit dem es am Vorabend trotz vollem Einsatz beiderseits eben nicht geklappt hat, und ja, ich habe da gesagt, ist ok, wenn wir es morgens nochmal versuchen, aber hey, da hab ich auch noch nicht gedacht, dass ich keine Sekunde schlafe, so dringend heim will, und dass du mir so unsympathisch bist.

Alle drei Fälle, übrigens chronologisch sortiert, haben mir mehr oder weniger deutlich und nachhaltig mitgeteilt, dass ich was falsch mache, und waren entweder gefrustet-jammerig (der erste Fall), oder sauer (die anderen zwei), weil sie davon ausgegangen sind, dass da was geht, und dass sie ein Recht darauf haben.
Und der Mindfuck ist: in allen drei Fällen habe ich das schlechte Gewissen (gehabt). Weil ich auch so schon dauernd ein schlechtes Gewissen habe, nicht gut genug zu sein, oder Menschen weh zu tun, oder sie zu enttäuschen.

Aber hey, es wird besser. Fall 1 ist immer noch ein Zweifelsfall, 2 war sowieso eine verstörende, ungesunde Beziehung und hat sogar Kater Mayhem traumatisiert, und Fall 3 soll sich bitte einfach mal nicht so anstellen.

Ich hab zwar den zweiten Tag nichts gemacht, aber immerhin Erkenntnisse für's Leben gewonnen (oder so) :
- Zumindest manchmal kann ich Grenzen ziehen
- und mich nicht für jeden Scheiß verantwortlich fühlen
- ich bin nicht nur übergewichtig, sondern auch ziemlich unsportlich geworden
- und weiß jetzt wieder, warum ich mal meinte, ich könne langsam ein Buch über meine seltsamen bis gruseligen Flirt-/Date-/Sex-/Beziehungsbegegnungen schreiben
- und die Mitbewohnerin sich bereit erklärte, das Ding zu produzieren, sobald eine Miniserie daraus gemacht wird (andere Empfehlung der Damen war, ich soll doch einfach endgültig ans andere Ufer).

Als Erzählerstimme im Hintergrund möchte ich bitte den Typen, der "die lustige Welt der Tiere" (Animals are beautiful people, 1970er oder so) synchronisiert hat.
Oder einen Klaus Kinski- Imitator.

Rant Ende, einen schönen Abend wünsche ich; möge Ihnen das Glück hold sein und Sie vor spätpubertären Frontschreiern verschonen!




Der heutige "Hat Mayhem zum Weinen gebracht"-Orden geht an unseren Internetanbieter.

Nachdem mit dem neuen Vertrag ein Router, der in Sachen WLAn inkompatibel zu allen Geräten außer meinem Smartphone ist,
eine nicht vorhandene Widerrufsmöglichkeit ("Sie haben das im Shop abgeschlossen, da gibt es das nicht"), eine vollkomen wahllose 1000er-Leitung, die ich, entgegen der mir gegenüber getroffenen Aussage, eben doch nicht auf eine 50er downgraden kann,
aufgrund der gnadenlos übertriebenen Leitung nur beschränkte Alternativrouteroptionen,
die ich sowieso nicht kostenfrei kriege,
und eine unfreundliche, herrische Kundendienstmitarbeiterin, die mir erklärte, ich könne die Leitung nicht downgraden, meinen Vertrag nicht widerrufen, keinen anderen Router bekommen, und ja, schön, wenn ich falsch beraten wurde, unterschrieben hab' ich es trotzdem und somit gilt das jetzt,
gratis dazu gekommen ist,

ist der freundliche Mitarbeiter, der, bevor ich an Kundendienst-Satan geraten bin, meinte, ich solle dort anrufen, er könne leider nur den Technikkram, und an dem liegt es ja nicht, wieder verpufft.
Er hatte gesagt, die entsprechende Abteilung könne meine Leitung downgraden, könne meinen Vertrag bei Bedarf kündigen, und da eindeutig eine Falschberatung vorliegt, sei das auch sinnig, angezeigt und die müssten das eigentlich tun. Bevor er mich zu Kundendienst-Satan, bzw. zunächst ihrem Vorhöllen-Dämon, der meinte "weiß ich nicht, kann ich nicht machen, ich verbinde Sie an meine Vorgesetzte", geschickt hat, hat er mir viel Glück gewünscht, da säßen zum Teil ziemliche Flachpfeifen drin.

Heute sind also zwei Awards zu vergeben:
Der erste geht an den einen, vielleicht sogar den einzigen, technisch, menschlich und intellektuell kompetenten Mitarbeiter, den das Unternehmen zu haben scheint. Er hat mit herausragendem Engagement alle möglichen und unmöglichen Optionen abgeklappert, um eine Lösung zu finden. Möge das Schicksal im hold sein, Glück seinen Weg begleiten, und die hilfreiche Freundlichkeit, die er aussendet, auch ihm zu Teil werden.

Den zweiten Award müssen sich leider mehrere Humanoide teilen:
- Der Shopmitarbeiter, der mir den ganzen Mist aufgehalst hat; Dinge als unmöglich bezeichnete, die es doch gewesen wären, und mich so in diesen mistigen Vertrag mit seinen von mir ungewünschten Leistungen gebracht hat, aus dem ich nicht heraus komme;

- Die Vorhöllen-Dämonin, die mir gnadenlos ins Ohr gelogen und mich an ihre Vorgesetzte weiter verbunden hat, obwohl sie die erforderlichen Befugnisse laut Aussage ihres Kollegen gehabt hätte,

- und Kundendienst-Satan, die mich nicht mal aussprechen ließ, gleich innerhalb der ersten Minute ruppiger wurde, als es ein slawischer Akzent bei neutraler Emotionsbasis ist, und den Vogel abgeschossen hat. Für die schlichte Weigerung, ihren Job zu machen, der es gewesen wäre, als Konsequenz der offenkundigen Falschberatung die Leitung runterzuschrauben, sodass auch andere Router (und Fritzboxen) möglich werden, oder den ganzen Scheiß zu kündigen.
Nein, geht nicht. Ob das heißt, dass ich da nur auf dem Rechtsweg wieder rauskomme? Ja, das heißt das, ich soll mal mit dem Typen aus dem Shop schnacken, sie wünscht mir noch einen schönen Tag.


Möge Awardgruppe Nummer zwei in den Regen geraten, wenn ihr Schuhwerk undicht ist; möge es sie am Hintern jucken, wenn sie sich gerade nicht kratzen können; möge ihr Socken verrutschen, während sie nirgends anhalten und ihn richten können. Möge ihr Handywecker stumm bleiben, wenn sie einen wichtigen Termin haben; möge ihr Hähnchen Salmonellen mit sich bringen, oder, wenn sie kein Hähnchen essen, ihre Milch erst dann das Abgelaufensein offenbaren, wenn sie bereits einen tiefen Schluck genommen haben. Mögen sie von wackeligen Internetverbindungen heimgesucht werden, wenn sie gerade was streamen wollen; möge jemand ihren Proteinpulvern Zucker hinzumischen; möge der Hersteller ihrer Gesichtsreinigung die Rezeptur ändern, sodass sie Pickel bekommen; möge sie die Laktoseintoleranz beim Kuchenessen mit der Familie treffen und der Heuschnupfen bei einem Spaziergang mit den Liebsten.
Mögen ihre Kontaktlinsen jucken und ihre Brillenbügel schief sitzen; mögen ihre Strumpfhosen Laufmaschen bekommen,wenn sie gerade seriös aussehen sollen, ihre BH-Träger sich aus der Befestigung lösen, wenn die nächstmögliche Pause noch Stunden entfernt ist, und eine unfreiwillige Errektion sie beim Betrachten des Wasserspendes und beim Geruch von Kaffee heimsuchen.

Ich hab' vielleicht keinen Anwalt (und die Anlässe, zu denen ich gerne jemanden verklagen würde, häufen sich), aber genug Kreativität und Emotionswucht, um wirklich nachhaltig zu verfluchen, kurwa.




Freitag, 16. August 2019
Das Projekt lag so zwei Jährchen brach, da kann man schon mal weiter machen (Relevanz der vorherigen Einträge wird ggf überprüft/überarbeitet).

Disclaimer
Das Lesen eines spontan runtergetippten Guides einer Bekloppten ersetzt nicht das Gespräch mit Fachmenschen. Wer in Therapie ist, kann, darf und sollte Planung, Ängste, Strategien usw. mit der dazugehörigen Person besprechen; diese kennt individuelle Gegebenheiten und kann spezifische Hinweise und Tipps geben. Ergänzend ist der Austausch mit anderen Betroffenen, meinetwegen im Internet, natürlich auch schön; aber nicht alles ist abstrahierbar (z.B. finden ganz viele Menschen Meditation und PMR total hilfreich, ich bekomme davon aber ausgewachsene Panikattacken bis hin zu dissoziativen Momenten. Noch ein Grund, warum man manches nicht alleine ausprobieren sollte).

Ausgangslage
Damit ein wenig abschätzbar ist, ob und für wen sich das hier lohnt.
Ich habe kleine und große Problemfelder; die in Festival- oder Konzertsituationen relevanten sind:
- Emotionsregulierung: ich empfinde Dinge sehr intensiv, was manchmal cool ist (Festivals sind ultimative Katharsis ), manchmal aber weniger (mindestens ein halber Tag wird mit Welthass- oder untergangsstimmung verbracht, und nur einmal Weinen zählt als Erfolg). Alternativ fühle ic auch einfach mal nichts, weil alles in Watte ist; das kann gefährlich werden.

- Angstmomente: Trigger variieren, können aber reinhauen. Ich fühle mich schnell verloren oder lächerlich, als würde ich der ganzen Welt zur Last fallen, oder mich zum Deppen machen. Alleine irgendwo rumstehen (vor dem Einlass, Toilettenschlange, Duschen) ist in variierenden Graden bewältigbar oder pures Grauen.

- Gedankenkreisen: Verbunden mit den beiden erstgenannten Punkten. Reiz- oder emotionsintensive Momente, Ängste und generelle Unsicherheiten können sich durch die Ausnahmesituation, in der ich mich für ein paar Tage befinde, verstärken und Achterbahnfahrten anwerfen.

- Suchtstoff-Exposition: Ich bin von nichts abhängig, aber das, was meine potenzielle Therapeutin einen "Suchtmenschen" nennt. Genuss-/Suchtmittel (Alkohol zählt auch) können die obrigen Punkte nach erster Erleichterung verstärken (oder auch ohne erste Erleichterung); umgedreht tragen Angst, Emotionsüberflutung, FOMO (fear of missing out) und Gedankenkreisen dazu bei, dass spontane Angebote attraktiver werden können.

Mental Health is not Fight Club, we *can* talk about it - seelische und moralische Vorbereitung
Wichtige Fragen vorab:
-> Wohin gehe ich eigentlich? Wenn die Veranstaltung fest steht und Tickets gekauft sind, hilft es oft, auch auf rationaler Ebene zu schauen, worauf man sich da einlässt.Wie viele Besucher sind dort normalerweise? Wie sind die lokalen Gegebenheiten (Terrain, eher außerhalb oder mittendrin; sobald es akut wird: Wettercheck; Krankenhäuser, Banken, Tankstellen und andere potenziell wichtige Stationen) ?
-> Wen habe ich dabei?
Optimal ist (für mich) die kleine Runde aus bekannten und wertgeschätzten Menschen, bei denen ich mich soweit wie möglich sicher fühle. Das ändert nichts daran, dass ich mich trotzdem mindestens im Stundentakt für die möglichsten und unmöglichsten Dinge bei ihnen entschuldigen werde, auch "prophylaktisch", aber hey, ich arbeite daran. Ein Vorteil vertrauter Personen ist, dass sie von meiner Erkrankung wissen und manche Dinge so besser einschätzen, oder erst mal gut sein lassen können, bis ich mich erkläre.

Jetzt ist das mit der vertrauten, kleinen Runde aber nicht immer möglich.
Meine diesjährige Mannschaft besteht aus Personen, die ich zwar kenne, aber die Verbindung geht nicht über den Bekanntschaftsgrad hinaus. Wer auch immer das liest und in einer ähnlichen Situation ist: ich bin gnadenlos und unerbittlich stolz auf Sie/dich für den Mut, den es erfordert, das, was man will (Festival besuchen) auch dann durchzuziehen, wenn das vertraute Sicherheitsnetz fehlt. Wirklich. Ehrlich. Aus der Nummer gibt es kein Entkommen, Sie haben's/du hast's drauf.
-> Ohne Sicherheitsmenschen/vertraute Campingmannschaft ist die Selbstverantwortung natürlich höher; Isolation dennoch nicht optimal. Ich empfehle, aus der Personenschar eine oder mehrere auszuwählen und und mit einem Briefing zu versehen.
"Hey, ich freu' mich voll, bei euch mitzufahren. Ich fühle mich aber etwas unsicher, weil ich mit manchen Dingen etwas Schwierigkeiten habe. Da ich dich für eine vertrauenswürdige Person halte/mir der Kontakt zu dir leichter fällt/ich dich sympathisch finde, wende ich mich damit an dich, einfach, damit jemand weiß, was los ist, wenn ich mal meine Ruhe brauche/plötzlich von den Bühnen fliehe/das Bier partout nicht will/etc" ist so mein Spontanansatz; falls nicht in den Beispielen aufgeführt, passe ich die Menge der Details an mein Bauchgefühl an. Ein " weil ich das Gefühl habe, dass das ohne Erklärung zu Irritation führen könnte, wollte ich dir gegenüber ansprechen, dass es kein böser Wille ist, wenn ich grantig/verzweifelt/gereizt bin/nicht zu einer Band gehen möchte, die ich eigentlich unbedingt sehen wollte. Mein Gehirn ist sehr schnell reizüberflutet, das ist wie Stau auf 'ner sechsspurigen Autobahn. In den USA. Zur Rush Hour vor Thanksgiving. Mit einem Tornado hintendran. Als der einzige Geisterfahrer, der in die andere Richtung will, weil der Herd noch an ist" war bis jetzt auch kein Ding.
Anpassung an persönliche Symptome und Befindlichkeiten natürlich empfohlen. Wer sich wohl damit fühlt, kann der Vertrauensperson/den Vertrauenspersonen auch den Diagnosebeutel hinwerfen (auch schon gemacht).
-> Ebenfalls rein persönlich: bei Angst vor Situationen, die möglich sind, aber nicht so passieren müssen, jemanden in's Vertrauen ziehen. Also ein "ich habe Angst, dass mir das zu viel wird/ich neige dazu, einen über den Durst zu trinken, will das aber wirklich nicht machen/hab keine Lust, mir wen anzulachen, weil mir das nicht gut tut, neige bei Reizüberflutung aber zu sowas" kombiniert mit einer Behandlungsempfehlung ("Wenn du siehst, dass ich den Kerl da abschleppen will, hau mir bitte eine rein/wenn ich diese oder jene Symptome zeige, setz mich bitte wo hin und sag mir, ich soll atmen/wenn das oder jenes passiert und ich es nicht selbst tue, wirf mir bitte eine dieser Tabletten rein, du findest sie hier in meiner Tasche/...).

Bleib stabil, Brudi- Vorbereitung physischer Natur und Sicherheitsmaßnahmen
-> Packliste erstellen, oder nach geeigneten suchen und diese mit eigenen Punkten ergänzen.
-> dafür sorgen, dass die Ausgangsbedingungen so gut wie möglich sind: genug Wasser einpacken und auch trinken; Nahrungsangebot prüfen und eigene Vorräte entsprechend einplanen (und mitnehmen); Sonnencreme (viele Psychopharmaka sorgen für eine erhöhte UV-Empfindlichkeit), Medikation (dafür sind diese Omi-Pillenschachteln optimal) sowie im Zweifelsfall einen Nachweis darüber, was das ist und dass man es nehmen sollte, einpacken.
-> Auch vor Ort möglichst gute Rahmenbedingungen schaffen: bequemes Schlafmaterial, wer möchte, ein Kuscheltier (mir hilft das), Vitamine (optimal: Frischobst/-gemüse, alternativ: vorbereiteter Smoothiekram oder welche aus der Dose), eventuell schlaftauglicher Gehörschutz. Wetterschutz einplanen oder Möglichkeiten sichten. Nahrung in möglichst einfach zuzubereitender Form (man braucht schon genug Energie für den anderen Kram, existieren zB), die aber auch geschmacklich was taugt (ich teste neues Dosenfutter vorher, oder koche auf Vorrat).
-> Wenn möglich, in der Zeit vorm Festival halbwegs gesunde Schlaf- und Essensmengen konsumieren; keiner Party-Eskapaden, und sofern möglich: kein spontanes Ändern der eingenommenen Medikation (außer auf ärztliche Empfehlung, im Angesicht fiesbrutaler Nebenwirkungen oder bei sonstigen Ernstfällen). Sorgen bezüglich möglicher Probleme nicht komplett beiseite schieben, sondern aufschreiben und überlegen, welche Maßnahmen in so einem Fall angebracht wären (ggf. im Gespräch mit Therapeut*in).
-> Die Versorgung von Haustieren und Zimmerpflanzen klären (ich leide jeden Tag, den ich von meinen Katzen weg bin, unendlich und bin in dieser Zeit fest davon überzeugt, eine schlechte Katzenmama zu sein. Wenn die Kinder in zuverlässiger Betreuung sind, z.B. durch geeignete Mitbewohner*innen, Bekannte o.Ä. ist das zumindest ein bisschen beruhigend).
-> Bei Notfallmedikation (Allergien, Insulin, psychopharmakologische Vorschlaghammerpillen zur Vermeidung von Weltuntergängen) : Haltbarkeit und vorhandene Menge prüfen, ggf. für Nachschub sorgen. Einpacken, mindestens eine Person aus der Campingmannschaft informieren oder/und einen Hinweiszettel dort tragen, wo er im Ernstfall gefunden wird.

Notfallzettel
Ob Erkrankung oder nicht, so ein Ding ist generell sinnig. Im Geldbeutel oder am Körper platzieren, sodass er gefunden wird (Rock-/Hosen-/Hemdtasche, BH, etc).
Inhalt nach persönlichem Ermessen, auf meinem steht:
- ACHTUNG MEINE KATZEN SIND ALLEINE DAHEIM, wenn mir etwas zustößt, rufen Sie SOFORT und nachdrücklich diese Kontaktperson an, damit sich jemand um meine Haustiere kümmert
- Unverträglichkeit ggü eines bestimmten Antibiotikums, diverse Schmerzmittel dürfen mir aufgrund von Wechselwirkungen nicht gegeben werden; laktoseintolerant; Allergie gegen Wespenstiche und Spinnenbisse
- meine Blutgruppe
- welche Medikation ich in welcher Dosis einnehme, sicherheitshalber ergänzt mit dem Namen des Wirkstoffs. Weil verzögerte Aufnahme und vorschnelles Nachdosieren ebenso mies sind wie sofortige Wechselwirkungen, und so.
- Diabetes, Hämophilie u.Ä. kommen hier ebenso mit hin wie abnormer Blutdruck und alles andere, was medizinisch seltsam wirkt, wenn man bewusstlos ist und es nicht erklären kann
=> Zettel falten, Beschriftung entweder mit "Im Notfall" oder der englischen Abkürzung ICE (In Case of Emergency),gleiches Prinzip bei Notfallkontakten im Telefon.
- Wenngleich es nicht meiner Überzeugung entspricht: wer aus religiösen oder anderen Gründen Blutspenden o.Ä. ablehnt, kann es an der Stelle ebenso vermerken.
- ungeimpfte Personen (ob aus gesundheitlichen oder Überzeugungsgründen) bitte ebenso
- Anpassung gemäß persönlicher Gegebenheiten vornehmen. Auf den Notfallzettel soll alles, was medizinisch relevant ist/sein könnte und durch Schock, Überlastung oder Bewusstlosigkeit sonst unter den Tisch fallen kann.




Mittwoch, 14. August 2019
Ich habe es gerade geschafft, eine meiner Hauptfach-Hausarbeiten abzugeben.

Die Mindestanzahl an Zeichen und Sekundärquellen ist nicht erfüllt, was vom Dozent als ein Kriterium für die Entscheidung, ob er sich eine Arbeit überhaupt durchliest oder nicht, angeführt wurde.
Da es der gleiche Dozent ist, der freiwillige Rücksichtnahme auf meine Beklopptheit praktiziert, habe ich es trotzdem darauf ankommen lassen.

Ich habe die letzten Tage jeweils von acht Uhr morgens bis drei Uhr nachts an dem Ding geschrieben (Pausendauer max.45min),
mich, statt sinnlose Quellen zum Aufblähen des Literaturverzeichnisses zu nutzen, an die (vom Dozent selbst empfohlene) Methodik gehalten, vom Autor selbst verfasstes Material zu nutzen (und bei "meinem" Autor geht das gut, zu gut),
die Relevanz meiner Arbeit angezweifelt,
sie zu nichtssagendem, qualitativ nicht ausreichenden bis miesem Bullshit erklärt,
deswegen mehrfach geweint und mein universitäres Totalversagen als Gewissheit betrauert
dem Gefühl nach eine Sehnenscheidenentzündung mit linksseitiger Betonung (und ich bin verdammt nochmal Linkshänder)
nebenher eine WG-Besichtigung gewuppt, denn meine Mitbewohnerin zieht aus und ich muss innerhalb der nächsten zwei Wochen alle Pflichten übernommen, Bürokratieelemente geregelt und einen neuen Mitbewohner installiert haben
noch mehr geweint
mich in Verzweiflung verloren
mein eigenes müdes, aufgequollenes Gesicht nicht mehr als meins, sondern nur noch im Maß seines Ekels traurig erkannt
einen Spaziergang gemacht, der auch nicht viel half
Migränen wegignoriert
Schaffens-, Sinn- und Lebenskrisen durchwandert, mehrfach täglich bis mehrfach stündlich
wieder eine Zigarette geraucht (aber nur diese eine)

bei der Online-Abgabe geweint,
sie trotzdem vollbracht,
und mir im schieren, unerklärlichen Wahnsinn der letzten Tage bewiesen, dass ich, mit Kollateralschäden, unter Schmerzen und dem Verzweiflungsblobb,
entgegen aller Wahrscheinlichkeiten
entgegen jeder Logik sowieso
vielleicht ohne das Ziel zu erreichen

extremes, keinesfalls nachhaltiges, von reiner Sturheit selbst bei absoluter emotionaler, kognitiver, mentaler und physischer Kapitulation weiter getriebenes Erreichen beinahe unmöglicher Unwahrscheinlichkeiten immer noch kann.

Ich bin vielleicht am Arsch, physisch, mental und emotional jetzt, und universitär in absehbarer Zeit,
aber mein verdammtes krankes Extremhirn hat sich als mein großesTalent herausgestellt. Nicht zum ersten Mal, aber nach langer Zeit wieder, und selten so nachhaltig.
Ich bin wieder an dem Punkt, an dem einfach weiteratmen zum einzig möglichen Lebensprinzip wird.
Und mit dieser Erkenntnis hab' ich beim Durchsegeln von Untergängen immer noch eine Scheißangst, aber wenigstens ein Schlauchboot.




Freitag, 9. August 2019
Gestern habe ich es geschafft, etwas für die Uni zu machen und heute, ein Gefühl distinktiv benennen zu können.
Ich war traurig.

Beim Scrollen das Profil der Frau gesehen, die wahrscheinlich meine Halbschwester ist.
Angeklickt.
Festgestellt, dass sie immer noch ein wenig aussieht wie eine Kreuzung aus Discopüppchen und Supermodel - wir kratzen beide an den 1,80m, haben lange Beine und eine harmonische Masseverteilung (mit dem Unterschied, dass ich nicht sportlich und daraus resultierend gefühlt doppelt so breit bin), große Augen, Schmollmund. Wenn ich sie sehe, erinnere ich mich daran, dass ich auch hübsch sein kann, und bin wieder motivierter, mich ein bisschen besser um mich und meinen Körper zu kümmern.

Sie hat aufgehört, zu färben; wir haben beinahe die gleiche Naturhaarfarbe, meine sieht, vermutlich durch die Weißen, nur etwas heller aus und wächst nicht auf okayer Basis raus, sondern im Kontrast zum Farbstrudel der Verdammnis. Und meine Haare sind doppelt so lang, ab Rückenmitte aber schätzungsweise nur noch ein Viertel so dicht.
Wir sind so gut wie gleich alt; dennoch braucht sie für den Abschied von Augenbrauenunfällen ein wenig länger. Aber ich fühle mit ihr; the struggle is real, und sie ist auf einem guten Weg.

Sie reist durch die Welt und hüpft dabei inzwischen nicht mehr durch Partymeilen, sondern klettert durch Gebirge;
ich sitze auf meinem riesigen Studienkredit und risikiere fortwährend das Erreichen meines lumpigen Bachelor-Abschlusses. Sie ist Krankenschwester.
Ich wusste nie, und wüsste es auch heute nicht, ob sie mich eigentlich ok findet. Wir haben zweieinhalb Universen und nicht ganz fünfhundert Meter auseinander gewohnt; den Berg rauf, und man war da. Jeder Waldspaziergang hat zwingend dort vorbei geführt, und es hat sich jedes Mal komisch angefühlt. Manchmal habe ich überlegt, zu klingeln, es aber doch gelassen. In dem einen, einzigen Telefonat zwischen ihrem Vater/meinem Erzeuger und mir meinte er schließlich, er wisse nicht, woher diese hochschädlichen Gerüchte kämen, und seine Ehe liefe gerade so gut.
Seine Ehe mit der Frau, deren geistige Einfachheit er immer wieder zur öffentlichen Lächerlichkeit macht; nicht nur, wenn er betrunken damit prahlt, dass er drei Kinder hat, und nicht präzisiert, ob da sein eigenes inkludiert ist - so oder so, offiziell hat er nur diese eine Tochter.


Da ist also nicht nur diese Frau, die hochwahrscheinlich meine Halbschwester ist.
Da ist mindestens ein, vielleicht sogar zwei weitere Kinder, jetzt eher Erwachsene, die hochwahrscheinlich ebenfalls meine, "unsere" Halbgeschwister sind.
Ich bin ein Einzelkind mit zwei oder drei Geschwistern, irgendwo da draußen.
Und ich wüsste so gerne, ob sie es wissen. Ob sie vielleicht auch bekloppt sind, oder ob der Haupt-Impact wirklich von meiner Mutter kam (wovon stark auszugehen ist). Unser hochwahrscheinlicher Erzeuger ist ein komplexbeladener Waschlappen, sobald man seine Egomanie und Arroganz aushebelt.
Aber er kann das gut; arrogant sein, selbstherrlich, sich für etwas besseres und den tollsten Typen der Welt halten. Obwohl er fett und haarig ist. Und es scheint bei ihm genauso gut zu funktionieren, wie es bei meiner Mutter funktioniert hat; die Illusion von Charisma, ein Herunterschrauben der Ansprüche, weil man Bestätigung braucht und das anscheinend auf diesem speziellen Weg, ist vermutlich das, was sie zueinander gebracht hat.
Ich habe damals nie verstanden, warum sie überhaupt mit ihm spricht, wenn er doch laut ihr (und da hatte sie Recht) ein arroganter, rechthaberischer Arsch war, und sie sich nur angebitcht und ständig diskutiert haben; dachte mir aber, sie kann ihm ja schlecht aus dem Weg gehen, sie spielen ja zusammen Theater. Und klar kommt er dann mal zum Textlernen vorbei; für viele funktioniert das besser, wenn man Szenen mit den Schauspielern durchgeht, mit denen man auch auf der Bühne steht.

Ich erinnere mich schwammig, meinem Großvater hat es sich ins Gedächtnis gebrannt, bis Schlaganfall 1 und 2 sein Hirn frittiert haben. Jetzt ist er tot, und falls es kein Jenseits gibt, kann man ihn auch nicht mehr fragen.

Ein ganzes Dorf redet, ein ganzes Dorf will ja alles gewusst und so viel Mitgefühl haben.
Ein ganzes Dorf hat nie etwas gesagt. Nicht zu meinem Erzeuger, nicht zu meiner Mutter, nicht zu meinem Vater. Dem hat seine Übrigens-mal-wieder-Freundin mitgeteilt, er sei kein richtiger Mann, wenn er sowas durchgehen lässt.
Ebenfalls schweigt sich ein ganzes Dorf darüber aus, dass Ehefrau A beim Feuerwerfest nicht mit Ehemann A, sondern Ehemann C auf dem Mattenwagen gefickt hat.
Dennoch besteht ein ganzes Dorf darauf, so besorgt um seine Kinder zu sein, vor Allem um die "Verlorenen".

Die "Verlorenen" sind der Aggressionsstörungsjunge von der Sonderschule, bei dem man sich anschickte, sich Sorgen zu machen, als er mit 20 Lungenkrebs bekommen hat und fast krepiert wäre. Vorher war das der Assi-Sohn von der Ossi-Tussi und dem alten Schmuddeltrucker.
Ich habe aus Mitleid mehrfach versucht, mich mit ihm anzufreunden; einfach, damit er nicht so alleine ist.
Er hat sein Heil im Metal gefunden und lebt ihn; leider als Regelsatz zur Persönlichkeitsgestaltung, weil seine so schwierig ist, nie einen Platz bekommen hat, an dem sie sitzen durfte, und dann irgendwo verloren gegangen ist.
Selbst ich habe zu viel Mitgefühl, um die Wände, in die er gequetscht ist, zu sprengen und zu schauen, wer er eigentlich ist.

Dann gibt es mich, den klassischen Fall von "wir haben es alle gewusst, wir haben alle versucht, zu helfen, welch ein Drama!". Habe mein Heil im Black Metal gefunden und zwischendurch immer mal ein Stück meiner Identität (aber genau so oft auch wieder abgeschuppt, was übrigens ziemlich weh tut). Wenn ich es zulasse, sehe ich wie die exakte genetische Kopie meiner Mutter und meines Erzeugers aus, und manchmal schaue ich in den Spiegel, auf Merkmalssuche, und weine ein bisschen.
Dann streiche ich über meine Tattoos, um mich zu vergewissern, dass sie noch da und echt sind, stecke einen Finger durch meine gedehnten Ohrlöcher, um mich ein bisschen anzugruseln, und stelle mir vor, was ich antworten würde, wenn mich jemand fragt, ob ich das mache, damit ich ihr nicht mehr so ähnlich sehe.
Kurz ist es ruhig; dann können mein Unterbewusstsein und ich den imaginären Fragesteller anlächeln. Ich bin mehr als ererbte Merkmale, auch wenn sie mir gerne mal die Kniescheiben zerschmettern wollen oder die Achillessehne durchschneiden.
Mit jedem Metallstück, das ich durch meine Haut gebohrt oder bohren lassen habe, jedem Millimeter mehr in den Tunneln und jedem Tintenfleck mehr unter der Haut mag ich mich pseudo-individualisiert haben; vor Allem habe ich mir aber bewiesen, dass die Entscheidungskraft über mich mir gehört. Dass mein Gehirn und mein Körper meins sind, ich da drin wohne und sonst niemand, und ich entscheide, wer was damit anstellt. Ich habe meine Haare nicht wachsen lassen, weil meine Mutter immer kurze hatte und ich mit ihrem Vornamen und dem Zusatz "die kleine" angesprochen wurde, solange es meine auch waren; ich habe sie wachsen lassen, weil ich das so lange nicht durfte und einfach Bock auf lange Haare hatte. Weil mir das gefällt, weil ich mich damit wohler fühle; weil ich sie, falls sie wieder dichter werden, als Schal benutzen kann, als Zensurbalken für Speckrollen, und weil ich damit krass cooles Zeug anstellen kann, zum Beispiel Suebenknoten (sieht an mir nicht cool aus) oder den Elling-Frau-Dutt oder anderen historischen Kram rekonstruieren.
Ich werde immer wieder ich; und das wirkt manchmal unmöglich und aussichtslos, aber manchmal, da finde ich doch ein Stück. Und eines davon sieht aus, als würde es deine Kinder fressen, und braucht mindestens 1,20m Haupthaar, um die Frisur einer Moorleiche nachzubasteln.

Der andere "Verlorene" ist der Albino-Junge mit dem Herzfehler; nachdem er sich zu Pubertätszeiten größte Mühe gab, ein guter Dorfjunge zu sein und zu entsprechender Beliebtheit gelangte, indem er mitgesoffen, mitgefeiert, und am Volkssport "Mayhem fertig machen" teilgenommen hat, habe ich ihn vor zwei Jahren auf einem Konzert getroffen.
Wir haben vor zehn oder mehr Jahren das letzte Mal miteinander geredet, und es war irgendwas unfreundliches. An dem Abend ist er zu mir gekommen, hat gefragt, ob ich Mayhem bin, und sich entschuldigt.
Er wisse, was er gesagt und gemacht habe. Er wisse, dass es keine Ausrede sei, es darauf abzuwälzen, dass er gerne wie die anderen gewesen wäre, und dass es ihm besser gegangen ist, wenn wir uns einfach alle auf mein Falsch-Sein konzentriert haben statt auf seins, das sonst unweigerlich Thema gewesen wäre oder war.
Ich habe ihm gesagt, dass ich es verstehe und das Gleiche getan hätte, hätte ich es über's Herz gebracht.
Er hat sich nochmal entschuldigt und gesagt, dass es mich auszeichnet, so ein Sensibelchen zu sein.
Nach langer Zeit im Krankenhaus habe er beschlossen, in den Schwarzwald zu ziehen, bis er genug Geld beisammen hat, um auszuwandern.
Ich habe seitdem nichts mehr von ihm gehört, aber sehe manchmal Fotos von ihm, wie er im selbstgestricken Norwegerpulli vor einer Holzhütte in Schweden, manchmal auch Finnland, sitzt, einen Tee schlürft und wie der zufriedenste Albino-Almöhi wirkt, der mir jemals begegnet ist.
Ich kenne allerdings nicht viele Almöhis.