Samstag, 9. Juni 2012
Wir sind wieder Totalschaden, das weggeschwemmte Dorf, der nach einem Orkan völlig zerstörte Wald, die verwüstete Siedlung.
Oder, eigentlich ist er es.
Er ist das Krisengebiet, und ich bin die am Rand stehende Hilfsorganisation, die weder die Mittel, noch die Möglichkeiten hat, zu helfen.

Mein Krisengebietsvater schlurft so in Jogginghose und Kapuzenpullover durch die Wohnung, liest Briefe, schreibt Mails, erledigt Bankgeschäfte und versucht allgemein, möglichst geordnet zu leben, vermutlich mit dem Gedanken, ich würde es nicht merken und es würde schon verschwinden, mit der Zeit.
Papa, Gefühle kann man nicht wegarbeiten, und ich sehe es.
Ich sehe, wie du auf den Boden schaust, ich höre dein Schweigen und den Ton, den du anschlägst, wenn doch mal ein Halbsatz aus dir rauskommt, irgendwo zwischen neutral und sehr erbost.
Ich habe gemerkt, dass du an den Abenden, an denen sie nicht da war, dein Bier geholt hast, und dass das jetzt Regelmäßigkeit wird, und auch, dass du jetzt länger wachbleibst als ich, gestern vorm Fernseher, am Abend zuvor wohl am Computer.
Keine Ahnung, wessen digitales Kabelfernsehen wir da angezapft haben, weil du gestern Pseudocomedy sehen konntest, obwohl wir nur Analogfernsehen hatten. Eigentlich mag ich auch gar keine Pseudocomedy, aber als ich um halb eins von der Nachbarin zurückkam und du da so im Dunkeln gesessen hast, hab ich mich dazugesetzt, damit du nicht so alleine mit deinem leeren Puddingbecher und dem Bier sitzen musst.
Ich weiß nicht, ob dich das stört oder du es gut findest, aber ich habe mich wieder darauf verlegt, einfach da zu sein.
Dann sitze ich eben da und wir schweigen zehn Minuten zusammen, wenn du Zeitung liest, bis du das Schweigen kurz durchbrichst, weil du Kleingeschriebenes nicht mehr lesen kannst.
Oder ich lasse Gewicht eben Gewicht sein und esse mit zu Abend, weil du Rührei gemacht hast, sogar ohne Speck für mich, obwohl ich zwei Stunden vorher, zur eigentlichen Essenszeit, ein Käsebrötchen und davor schon genug gegessen habe.
Oder ich schaue mir völlig bekloppte Pseudocomedy an,weil du schon genug Angst davor hast, alleine in diesem Zimmer zu schlafen, dass sie im Alleingang eingerichtet hat, mit ihren Buddhas und Dekosternen und Kunstpflanzen und Miniteppichen und Lämpchen.

Du hast ihr mal gesagt, wenn sie geht, dann gehst du auch weg, oder du bist nur noch auf der Rettungswache.
Ich weiß, dass du gern und viel verdrängst, als wir einmal reden konnten, hast du es selbst gesagt, und ich würde dir gerne sagen, dass du das lieber sein lassen solltest. Nicht weglaufen, Papa. Es holt dich doch sowieso ein, und es wird so oder so wehtun, je länger du wegläufst, desto schlimmer wird es.
Du hast vermutlich andere Verarbeitungsmechanismen als ich, und überraschenderweise sind meine auch besser ausgeprägt oder aber einfach effektiver als deine, aber lauf nicht weg. Es bringt dir doch nichts.
Gefühle können Angst machen und weh tun, meistens ist auch mindestens eins von beidem der Fall, aber es wird nicht besser, wenn du schweigst und arbeitest und abends dein Bier trinkst und fertig. Weißt du, ich hatte auch mal Liebeskummer. Das passiert, und man kann es leider nicht ändern. Wenn wir uns in der Hinsicht auch ähnlich sind, bist du jetzt irgendwo zwischen Wut und "Ach, halt dein Maul" und Verzweiflung, weil ich eben doch ein wenig Recht habe, auch, wenn ich dir nicht helfen kann.
Trotzdem, du schaffst das schon, Papa.
Und auch, wenn du es sowieso in nächster Zeit nicht einlösen wirst, gilt das immernoch, das "du kannst mit mir reden".
Ich weiß nicht, ob du überhaupt mit mir reden willst, oder ob du mich am liebsten los wärst, aber ich glaube, es ist gut,dass ich da bin. Trotz allem.
Und wir kriegen das wieder hin, auch, wenn es vielleicht eine Weile dauert,so, wie es eine Weile dauern wird, bis ich einen Ersatz für das Shirt von Audiolith, dass deine ehemals-Freundin ermordet hat, habe, aber das macht nichts.
Weißt du, irgendwann, da wird dann alles gut.
Muss ja.


Vielleicht ist das eine Bedeutung von "Familie", die ich da gefunden habe.