Mittwoch, 6. Juni 2012
Es ist halb elf, als sie wieder verschwindet, und halb zwei, als ich mich zum ersten Mal aus meiner Kauerposition hinter meiner Tür bewege, um mir ein Paar Socken zu holen.

Das soll mir bloß aus den Augen gehen, das Drecksmensch!
Richtig, die Vatersfreundin war heute da, so, wie die letzten Tage auch, nur mit dem Unterschied, dass sie heute schrie, das Kapitel "Familie Mayhem" sei für sie abgeschlossen und wir sollten alle verrecken, und ihre Sachen geholt hat (zum wiederholten Mal).

Man hat mir nicht einmal Zeit gegeben, mich darauf vorzubereiten. Ein einfaches "Mayhem, komm mal raus" meines Vaters, und auf einmal stand sie vor mir, bließ mir eine Rauchwolke ins Gesicht und schrie dann los.
Dass ich es jetzt geschafft habe, dass ich ihre Beziehung kaputt gemacht habe, dass ich Schuld bin,
dass sie jetzt geht, weil ich Schuld bin,
dass das Kapitel "Familie Mayhem" für sie abgeschlossen ist, wegen mir,
dass mein Vater ihr gestern den Rest gegeben hat, ich sie kaputt mache und dass ich an allem Schuld bin.
Ich habe sie angesehen ohne mit der Wimper zu zucken oder das Gesicht zu verziehen, und, wesentlich leiser als sie, erwidert:" Und du denkst, du hast mir nicht weh getan."
Eine Feststellung, keine Frage.
Und sie schreit, sie habe mich wesentlich besser behandelt, als ich blöde Sau das verdient hätte, immer habe sie mich viel besser behandelt, und ich, ich hätte ja alles kaputt gemacht.
Dabei wirft sie mir ein Kochbuch vor die Füße, dass sie sich vor einem Jahr von mir ausgeliehen hat.
Ich beschließe, es in die Küche zu bringen, wo sich die Katze beim einsetzenden Türenknallen, das ankündigt, wenn die Vatersfreundin ihre Sachen raus- und die meines Vaters reinträgt, weise unter den Küchenschrank verzieht und dort verweilt.
Weiteres Türenknallen, sie scheint das ganze Schlafzimmer abzubauen.
Gestern haben wir zusammen Geschirr gespült und uns nicht angeschrien, weil ich alles ignoriert habe, was aus ihr rauskam.
Vielleicht hat es ihr den Rest gegeben, dass ich keine Angriffsfläche mehr geboten habe, einfach so.
Die scheinbare innere Emigration, die mir doch niemals wirklich geglückt wäre.

Ich habe Angst, dass das nicht das Ende ist und sie wieder kommt.
Als sie eine weitere Plastiktüte gefüllt hat und gehen will, höre ich mich sagen:" Vergiss deine Jacke und die Katzenleine nicht." In einem normalen Ton, das Neutralbleiben scheint zu funktionieren.
"Dann sperr das Scheißteil in dein Scheißzimmer!!!"
-"Ich hab nur gesagt, dass..."
"Halt dein dreckiges Maul jetzt!!"
-"Ich.."
"Du hälst jetzt deine scheiß Klappe, oder ich hau dir drauf !!"
Da steht sie vor mir und droht mit Schlägen, ihr Raucheratem brennt in der Nase und ihr furchtbar lautes Schreien in den Ohren.
Ich muss schon garnichts mehr sagen, sondern nur atmen, als sie nachschiebt, sie würde mich gleich verprügen.
Und ich schaue ihr ins Gesicht, ohne mit der Wimper zu zucken.
"Papa Mayhem, beweg dich sofort hier rein!!!!"
Mach doch wenigstens die Haustür zu, du schreist laut genug, und wenn die Katze rausrennt..
Noch ein Versuch meinerseits. "Vatersfreundin, ich habe nur..:"
"Geh jetzt in dein Zimmer." Papa Mayhem in der Eingangstür.
-"Aber.."
"Du gehst jetzt in dein Zimmer, und untersteh dich, da wieder rauszukommen".
Autsch.
Aber ich gehe in mein Zimmer, setze mich auf den Boden hinter der Tür und lehne mich mit dem Rücken an.
"Das soll mir bloß aus den Augen gehen, das Drecksmensch!! "
Weiteratmen. Einfach weiteratmen. Sie kann mir doch nichts tun. Selbst wenn, Schläge tun eventuelll weh, aber was macht das schon. Weiteratmen.
Hinter meiner Tür tobt weiter der Orkan und das Geschrei, bestimmt hat sie morgen keine Stimme mehr, denn selbst für ihre Verhältnisse ist es laut.
Zwischendurch schließt sie die Haustür nicht, weil sie weiß, dass ich dann Angst habe, dass die Katze rausrennt.
Das Drecksmensch..
Sie spricht mir also meine Menschlichkeit ab.
Ein es bin ich, das es, dem sie die Haupt- und mein Vater somit die alleinige Schuld am Beziehungsende gibt.
Drecksmensch, ich. Das Drecksmensch.
Meine Beine zittern.
Sie soll weg. Sie soll weggehen und weg bleiben, meinetwegen kann sie ihr restliches Zeug noch holen und seines bringen, aber dann soll sie weg gehen, weit weg, ganz weit weg, oder zumindest nicht wieder hier her kommen, nicht, solange ich noch da bin.
Meine Arme jetzt auch.
Und trotzdem habe ich die Angst, die sich so sehr nach Gewissheit anfühlt, dass sie wiederkommt. Mein Vater lässt die Person, die sein Herz hat, nicht so einfach los und wird ihr nachlaufen, und sie mag groß inszenierte Dramen, an deren Ende sie sich gütigerweise herablässt, zu dem zurückzukehren, der vor ihr im Staub kriecht. War bei Ehekrisen mit dem verstorbenen Vatersfreundinmann auch so, hat sie oft genug erzählt, und sie ist doch so impulsgesteuert, wobei die Impulse immer Wut oder Hass oder Aggression sind.
Meine Atmung zittert auch, und wie ich da so auf dem Boden sitze, Rücken zur Tür, und vor mich hin zittere und heule, fragt sich die Sanitäterin in mir, ob sich so wohl die Vorstufe eines Nervenzusammenbruchs anfühlt.
Die Sanitäterin in mir ist es auch, die schemahaft das abspult, was ich für derartige Notfälle gelernt habe, als Atemnot einsetzt und mein zitterndes Luftholen immer schneller werden will; mir die Hand auf den Arm legt und sagt, und jetzt atmen wir zusammen ganz ruhig,ok? Einatmen, Ausatmen. Einatmen, Ausatmen. Einatmen, Ausatmen. Immer wieder. Ganz ruhig.
Weil ich keine Tüte habe, aber kurz vorm Hyperventilieren bin, halte ich mir die hohlen Hände vor Mund und Nase. Ausatemluft enthält mehr CO2 und hilft, den Schalter umzulegen, der einen wieder normal atmen lässt, und irgendwann klappt es auch und ich muss wenigstens keine Angst mehr haben, zu ersticken.

Auch nach dem letzten Türenknallen bleibe ich sitzen, auch, als ihr Auto weg ist. Aufstehen geht gerade nicht, und überhaupt geht gerade nichts außer zittern und schubweise ein bisschen heulen. Er hat ja gesagt, ich soll in meinem Zimmer bleiben. Und bloß nicht rauskommen.
Leises Scharren an der Tür, die Katze will rein.
Setzt sich auf mein Bett, wühlt sich in mein Schlafshirt, der Kopf guckt aus dem Kragen raus, legt sich hin und hält die Augen fest geschlossen.
Wenigstens bist du jetzt da, Kater Mayhem. Dann kann dich auch erstmal niemand einfach rausschmeißen.
Kater Mayhem hält die Augen weiter geschlossen und wirkt wie eine Reinkarnation Buddhas. Zugenommen hat er durchs stetige Gestopftwerden der Vatersfreundin auch, jetzt sieht man es besonders. Wenn sie weg bleibt, kriegen wir das aber auch wieder auf die Reihe.
Sie soll weg bleiben.
Sie soll einfach weg bleiben, sich selbst und einen guten Therapeuten finden und mit wem anders glücklich werden.
Kalt. Ich friere. Kann ich aufstehen? Ja, scheint zu klappen.
Also, Socken holen. Rosa Flauschesocken, aus Kuschelplüschstoff. Und sogar die treue Bandjacke lässt sich ausnahmsweise mal wieder schließen.
Trotzdem kalt, vielleicht kommt das Zittern ja daher. Aber es wird schwächer, immerhin.
Sie soll wegbleiben.
Mein schicksalsgebeutelter Vater schließt die Werkstatttüren und geht irgendwann dazu über, im Wohnzimmer den Sand, der unter der letzten Schicht Dielenboden aus den 50ern sowas wie eine Isolierung hatte bilden sollen, in einen großen Karton zu schaufeln und immer wieder raus zu tragen.
Er gibt mir die Schuld.
Irgendwo tief in sich drin spürt er vielleicht, dass nicht ich es war, aber er gibt mir die Schuld. Weil sie mir die Schuld gibt.
Mir, dem Etwas.
Dem Drecksmenschen.

Er hat das Werkstattradio vergessen.
Crazy von Gnarls Barkley.
Meine Mutter hat immer gesagt, das Video macht sie aggressiv, ich fand es etwas beunruhigend, aber sehr faszinierend, wie die Tintenklekse da immer neue Bilder formten.

"But maybe I'm crazy
Maybe you're crazy
Maybe we're crazy
Probably..
"