Dienstag, 3. Juli 2012
Erschöpfung, hevorgerufen durch zu wenig Schlaf und zu viel Leben, und trotzdem, die Gedanken rasen und der Sog wird stärker.
Ich muss raus hier, aufstehen, weg, gehen.
Die Gedanken werden schwächer, der Sog bleibt, Tendenz: herzzerreißend.
Wie wäre es mit einer Runde Rechtsnormen definieren oder, auch ganz nett, für den Führerschein lernen?
Ach fick dich, Verstand.

Ms Golightly setzt sich, wenn es ihr zu viel wird, ins Gras oder in den Wald oder auf eine Wiese.
Stundenlang kann sie da dann sitzen und ihren Gedanken zuhören, sagt sie. Stillstand ist Fortschritt.

Wenn es mir zu viel wird, gehe ich spazieren.
Stundenlang durch den Wald und manchmal über die Felder, streckenweise Panzerstraße. Über Weggabelungen, an denen mitten im Nichts ein Gartenzwerg auftaucht , vorbei an der verlassenen Ranch, dem leerstehenden Bungalow, den schwarzgesichtigen Schafen im zugewucherten Wildgehege, Futterkrippen, manchmal Rehen; nie zweimal exakt die gleiche Strecke, aber immer mit System.
System bedeutet Sicherheit.
Sicherheit kann ich gebrauchen.

Die Zwanghafte ist sich selbst zu viel, und deshalb läuft sie.
Läuft und rennt und spielt Fußball und Volleyball und macht Leichtathletik und fährt immer mit dem Fahrrad zur Schule, zum Einkaufen, ins Kino, in die Stadt. Ein Besuch der Bibliothek wird zur anspruchsvollen Radtour.
Der Fehler liegt darin,dass es nicht ihre Zwänge sind, die weniger werden, sondern ihr Körper.
Man kann Unsicherheiten, die in übertriebenem Perfektionismus resultieren, und Gedankenstrudel genauso wenig weghungern wie Steine auf dem oder das Loch im Herzen.
Dafür gehen ihre Nägel. Abgebrochen und abgerissen, bis ins Fleisch.
Und ihre Haare. Heute am Kopf gekratzt und danach eine kleine kahle Stelle gehabt. Nein, Vitamintabletten gleichen es nicht aus.
Und ihre Zähne. Werden, versteckt hinter Hamsterbacken, gelb und empfindlich und locker im entzündeten Zahnfleisch, von dann, wenn sie doch essen musste.
Nein, jedes Mal Zähneputzen verhindert es nicht.
Und ihre Haut an den Händen. Aufgescheuert, löst sich fetzchenweise ab. Auch einen Bodenscheuerzwang kann man sehen.

Der Mitsanitäterin ist auch einiges zu viel, aber sie hält nicht viel davon, draußen zu sein, wenn es sich nicht um eine Party handelt, sie muss anders kompensieren.
Das Leben und sich selbst.
Und weil sie Feinde sind, ihr Leben und sie, ist da dieser Kompensationskontrast und sie ist unter der Woche zwanghaft und am Wochenende betrunken bis bewusstlos.
Man merkt es nicht, wenn man nicht dabei ist, weil sie trotzdem ihre Leistung bringt, denn Lernen bedeutet für sie, Bücher auswendig lernen, seitenlange Mitschriften (sie schreibt alles mit,was im Unterricht gesagt wird, nur zur Sicherheit) auswendig lernen, Arbeitsblätter so lange kopieren und nochmal ausfüllen, bis sie sich merken kann, was in die Lücken gehört, und den Kommentar zur Lektüre auswendig lernen, weil sie für die Zwischentöne kein Gefühl hat.
Für die Schule bedeutet das einen Notendurchschnitt von 1,1.
Für sie die selbst geschaffene Hölle aus irrationaler Versagensangst und noch mehr Selbstzwang.
Für die Zwanghafte auch.
Vielleicht sind sie deswegen Feindinnen, zu viel Konkurrenzdenken und zu viele Ähnlichkeiten.

Ms Golightly braucht physische Nähe.
Sie braucht Umarmungen, ankuscheln bei jeder Gelegenheit, Händchenhalten mit der besten Freundin und einen Abschiedskuss für jede Person, die geht.
Der nicht glücken wollende Versuch, die Wärme wieder reinzukriegen, die zuhause fehlt.

Ich brauche menschliche Wärme. Und komme nicht damit zurecht, wenn sie mir entgegen gebracht wird.
Manchmal vertrage ich keine Umarmungen, ich fühle mich sehr oft unwohl, wenn jemand das Bedürfnis hat, sich anzukuscheln und allgemein, wenn ohne Vorwarnung und Eingewöhnungszeit Kontakt gesucht wird.
Ich hasse Abschiedsküsschen und gebe deswegen keine, wenn ich küsse, dann richtig und dann die Person, die ich liebe.
Ich mag es nicht, Schülerstapel bilden zu müssen, weil nicht genug Platz für jeden ist. Weder habe ich gerne jemand der anderen auf meinem Schoß sitzen, noch platziere ich mich gerne auf dem einer Mitschülerin.
Ich habe aber gelernt, dass man das anscheinend so machen muss, wenn man Schülerin und da sonst kein Platz mehr ist und man als wenigstens ansatzweise normal durchgehen will, also lasse ich es gelegentlich über mich ergehen. Für die Zwanghafte ist sowas kein Problem.
Eigentlich mag ich auch keine ritualisierten Begrüßungs- und Abschiedsumarmungen, aber sie scheinen sehr vielen Leuten sehr wichtig zu sein, deshalb habe ich angefangen, sie zu üben, und gelernt, auch Blondine2 zum Abschied zu umarmen, obwohl ich das eigentlich gar nicht möchte.
Dafür lasse ich es bei denen, die ich nicht nur umarmen, sondern auch festhalten möchte.

Ms Golightly, die Zwanghafte, die Mitsanitäterin und ich, wir kennen die Unsicherheit.

Ms Golightly lebt deswegen nach außen, sie ist laut und auffällig und direkt und selbstbewusst und im ersten Moment nervig, damit niemand merkt, wie verunsichert sie ist. Klingt nach mir vor 2, 3 Jahren.
Ich habe aufgehört.

Die Zwanghafte lebt deswegen zum vermeintlichen Perfektionismus hin, destruktiv, aber ohne die Romantisierung, die mit diesem Begriff manchmal getrieben wird.

Die Mitsanitäterin lebt deshalb im Spagat zwischen Kontrollbedürfnis und Kontrollverlust, und hätte sie sich zu irgendeinem Zeitpunkt gefunden, sie hätte sich spätestens jetzt wieder verloren.

Ich lebe deswegen einfach. Konzentriere mich auf nichts und alles, einfach weiteratmen.
Trotzdem sieht keiner, wie unsicher ich bin, und die meisten deuten es als Arroganz.
Die Formen der romantisierten Destruktivität habe ich abgelegt, das Ideal der verzweifelten, traurigen Seele, das manche erreichen wollen, ist keins.
Manchmal versuche ich immernoch, Kontrolle zu haben, am meisten über mich selbst.
Meistens versuche ich immernoch, Menschen zu verstehen. So, wie ich gelernt habe, dass man sich umarmen muss, wenn man geht, und nochmal, wenn man sich am nächsten Tag wieder sieht, dass Freundlichkeit manchmal auch gespielt und verarschen ist und dass man gegen manche und manches nicht ankämpfen kann, sondern sie oder es einfach aushalten muss, irgendwie.
Vermutlich muss man zwischenmenschliche Interaktion genauso lernen wie Fahrrad fahren oder Schwimmen, und bei allem Fortschritt, den ich langsam zu machen scheine, sollte es letzterem gleichen, sehe ich schwarz.
Ist es wie Fahrradfahren, gibt es noch die geringe Chance auf späten Erfolg,was die technischen Basiskenntnisse anbelangt.

Ich glaube, es ist wie schwimmen.