Freitag, 15. Juni 2012
Als der Hipster zusammenbricht, bin ich gerade am Ende meines Bahnwärter Thiel angekommen.
Sie haben heute ihre Zeugnisse bekommen, die Abiturienten, und wie erwartet hat es bei ihm nicht gereicht, und als er da in einen der Sessel fällt, tut er mir trotz Allem leid. Er vergräbt das Gesicht in seinen Händen und sich in dem maroden Möbelstück, Sekunden und Minuten vergehen, ich weiß nichtmal, ob er noch atmet oder einfach aufgehört hat.
"Vier Punkte.."murmelt er, als sich ein Upper Class-Mädchen aus meinem Jahrgang neben ihm auf die Armlehne setzt. "Vier Punkte fehlen mir."
Eigentlich erstaunlich, dass er so viel geschafft hat. Der Hipster arbeitet nebenher in einer Bar, schon seit Jahren, und oft genug ist er direkt von der Arbeit zur Schule gefahren, der praktisch nicht vorhandenen Infrastruktur sei Dank regelmäßig mit größerer Verspätung.
Noch öfter tauchte er gleich garnicht auf, er ist bis jetzt die einzige Person, die an unserer Schule Attestpflicht aufgebrummt bekommen hat.
"Ach Hipster, das wird schon..", versucht das Mädchen, ihn zu trösten, bevor sie wieder zu den anderen geht.
Der Hipster rührt sich erst wieder, als das Problem den Raum betritt, in der einen Hand das Abizeugnis, in der anderen eine Flasche Asbach.
"Angepeiltes Ziel erreicht", verkündet er triumphierend, "Ein Punkt in Mathe". So könnte das bei mir dann auch aussehen...nur ohne Asbach.
"Gib mal her". Der Hipster entreißt ihm die Asbachflasche und leert sie fast bis zur Hälfte.
Immerhin, bei der letzten Nullpunkteklausur war es noch Wodka.
"Alter, sauf mir nich mein Asbach weg!"
"Halt die Klappe".

Da sitzen sie und lesen Abizeugnisse, starren ungläubig drauf oder im Fall des Hipsters mit leerem Blick an die Decke. Die Großen, die Abiturienten.
Ein Viertel ist jünger als ich.
Und da steht das Problem, mit Abizeugnis in der Hand, und tatsächlich wirkt er ein wenig erwachsener als damals.
Damals, als wir uns begegnet sind, zum ersten Mal.
Fünfte Klasse ich, sechste Klasse er.
Und jetzt, kommendes Abitur ich, vergangenes er.
Verkehrte Welt.

Als die Zwanghafte umfällt, bin ich zum Glück gerade hinter ihr und kann sie auffangen.
Sie hat fast kein Gewicht, die Zwanghafte, und weil sie nicht komplett das Bewusstsein verloren hat, schaffe ich es, sie in den Saniraum zu schaffen.
Kalt. So kalt, sie friert.
Ich packe sie in ihre Jacke, meine Jacke, Decke eins und Decke zwei, während wir draußen 24 Grad haben.
Jetzt warm genug?
Immernoch kalt.
Ich hole die dritte Decke und jetzt findet sie es auszuhalten. Wasser? Nein, kein Wasser. Oder habt ihr kaltes?
Du denkst, dass das kalte Wasser mehr Kalorien verbrennt, weil der Körper es erst auf Temperatur bringen muss, oder, Zwanghafte?
Sie sieht mich an, dieser "Woher weißt du das?"-Blick.
"Das kalte Wasser macht fast nichts aus, kannst du mir ruhig glauben", sage ich und mische in einem Becher kühlschrankkaltes mit raumwarmem Wasser. Sie soll mir nicht noch schlimmere Bauchschmerzen bekommen, als sie vermutlich sowieso schon hat.
Setze mich neben sie, helfe ihr, den Becher zu halten, und warte.
Ihre Wangen sind von Flaum überzogen, dunkler Flaum. Lanugohaare in ihrem Vogelgesicht.
Ihr Gesicht sieht wirklich aus wie ein Vogelschädel,mit weit herausragender Nase und spitzen Wangenknochen, und ihre Augen verschwinden fast unter den buschigen Augenbrauen, die eigentlich rotblond gefärbt sein sollten, aber inzwischen wie auch ihre Haare einfach gelb sind.
Gelb und stumpf, aber erstaunlicherweise fast ohne Haarausfall. Dafür brechen sie ab, büschelweise, sagt sie und sieht man. Nährstoffmangel, vermutet man, hat der ungesunden Kombination dunkle Ausgangsfarbe und heller Farbwunsch den Rest gegeben.
Ich fülle ihren Wasserbecher nochmal, frage, ob es in Ordnung für sie ist, wenn ich etwas Saft dazugebe. Traubenzucker würde sie sowieso verweigern.
Wieviel Saft? Nur einen Löffel,kein Grund zur Panik. Der macht nicht viel.
Na gut.
Ich zeige ihr den Löffel, den ich aus dem Lehrerbesteckkasten nehme, und den Saft, den ich mir aus dem Kühlschrank leihe.
Inzwischen kann sie ihren Becher alleine halten, es wird wieder.
Wir sitzen und warten.
Die Zwanghafte steht im Wettbewerb mit der Mitsanitäterin, der Kampf darum, wer die 1,0 schafft und wer nur 1,1 als Endnotendurchschnitt hat, nimmt bei beiden ähnlich groteske Ausmaße an.
Aber während sich die Mitsanitäterin durch Totalabstürze am Wochenende wieder ausgleichen will, versucht die Zwanghafte in dieser Zeit, herauszufinden, was sie tut, mit wem sie unterwegs ist, ob sie lernt. Sie will im Leben besser sein, in der Schule besser sein, immer besser sein.
Die Mitsanitätern will dasselbe, also kämpfen sie.
"Nimmst du einen halben Traubenzucker?"
-"Muss ich?"
"Nein, aber es würde die Wahrscheinlichkeit, dass du es vor einem weiteren Zusammenbruch wenigstens bis nach Hause schaffst und nicht unterwegs vom Fahrrad fällst, eventuell erhöhen."
-"Ok, dann nehme ich einen."
Also gut, Traubenzucker. Wir haben solche zweigeteilten, die man auseinander brechen kann.
Sie starrt die Hälfte an als säße sie vorm Endgegner, also nehme ich die andere Hälfte aus dem bunten Plastikpapierchen und sage ihr, wir nehmen den jetzt zusammen.
Die Zwanghafte nickt, schluckt ihre Hälfte und spült sofort nach, neutralisieren. Reinemachen.
Im Gegensatz zur Mitsanitäterin hat sie keinen Arschlochvater, sondern eine richtige Familie, nichtmal eine gespielt-perfekte, sondern so eine echte, in der man füreinander da ist. Wir sind über ein paar Ecken verwandt, Groß- oder Großgroßcousine mütterlicherseits.
Sie streicht sich ihre Haare hinters Ohr und schüttelt das Büschel, das sie dabei verliert, unwillig von der Hand.
Inzwischen hat neben dem Haarbruch wohl doch auch der Ausfall eingesetzt. Die Stirn im Vogelschädelgesicht runzelt sich.
"Nährstoffmangel, und nein, du kriegst das nicht wieder hin, wenn du ein paar Multivitamintabletten schluckst", beantworte ich die Frage in ihrem Kopf.
"hmn. Die sind sowieso kaputt, weil sie so arg aufgehellt worden sind.Oder?"
-"Vermutlich. Ist es in Ordnung, wenn ich deinen Blutdruck messe?"
"Hmn."
Sie sind beide sehr zwanghaft, aber sie kompensieren anders. Die Zwanghafte über Sport, Fußball, Leichtathletik, Schulsport, Volleyball, und lernen; die Mitsanitäterin über Lernen, Putzen und sich besinnungslos trinken. Einen Kontrollzwang haben beide, nur hat die Zwanghafte keinen Freund mehr, der darunter leiden könnte, und wird vom Rest eher belächelt als ernst genommen. Und Kindergrößenhosen begegnet man im Oberstufenzimmer öfter.
Ihre schlackert.
Wir sitzen und warten.
Darauf, dass ihr nicht mehr schwindlig ist, vielleicht auch auf bessere Zeiten.
Irgendwann lege ich meine Hand auf ihre knochige, einfach, um ihr zu zeigen, dass sie gerade nicht alleine ist, und auch, um zu schätzen, wie weit ihre Körpertemperatur unter dem Normalwert liegt. Wobei Hände ja meistens kälter sind als der Rest.
Ihre fühlt sich an wie aus dem Eisschrank.
"Ich geh dann mal", verkündet sie schließlich,will aufstehen,knickt um und fällt fast wieder hin.
Ich setze sie abermals auf ihren Platz, hinlegen würde sie vermutlich nicht wollen, und packe sie wieder in diverse Jacken und alle Decken, die ich habe, weil sie friert.
"Jetzt nehme ich dir deine Freistunde weg,oder, mayhem?"
-"Passt schon, weggenommen wird die mir höchstens durch die Berufsmesse und das Bundeswehrjubiläum." Steht ja beides an,how wonderful.
"Na gut".
Wir sitzen und warten.
Zwischendurch holen sich Lehrer ihren Kaffee, einige kommen mehrmals vorbei, um zu sehen, was los ist, und tuscheln vor der Tür über die Zwanghafte, die daraufhin den Kopf hängen lässt.
"Warte mal kurz, Zwanghafte."
Ich stehe auf und mische mich vorsichtig in die Lehrerunterhaltung ein. "Entschuldigen Sie bitte, aber es wäre sehr förderlich, wenn Sie ihre Gaffbegeisterung und Faszination ebenso wie die Diskussion darüber, wann meine Mitschülerin verhungert ist, wenigstens ins Lehrerzimmer verlegen könnten". Sie herz- und gefühllose, schaulustige Idioten.
Man schweigt sich betroffen an und geht.
Die Zwanghafte hat sich in der Zwischenzeit aus ihrem Kokon gewickelt und begonnen, die Decken zusammenzulegen.
"Lass das mal, ich mach das schon".
-"Na gut. Danke nochmal, mir gehts schon besser. Ich muss jetzt aber los,muss pünktlich beim Fußball sein".

Als ich alte Nachrichten lösche, ist da auf einmal eine an die alte Sache, von damals.
Hey alte Sache,
Ich würd gerne mit in die Absteige, muss aber mal schauen, wie das mit dem Fahren klappt. Ich meld mich nochmal.

Seine Antwortnachricht folgt, er freue sich sehr über meine Zusage, und das mit dem Fahren sei kein Problem, dann würde er mich eben abholen und später auch wieder heimfahren. Schön, dass man etwas zusammen unternimmt.
Das war vor einem Jahr und drei Monaten.
"Möchten Sie die ausgewählten Nachrichten wirklich löschen?"
Löschen.