Freitag, 22. November 2019
Die Spontanverbesserung der Absetz-Symptome, die manche Menschen plötzlich anfällt, hat mir gestern Abend/Nacht ebenfalls die Gnade erwiesen.

Fast kein Wattehirn mehr, Übelkeit nur noch leicht. Anspannung taucht immer wieder auf und ist immer noch krass, aber händelbar. Emotionalität vorhanden, aber ich komme damit besser klar und freu mich zum Teil auch darüber - zB, weil ich mich richtig freuen kann.

Hatte heute den ganzen Tag gute Laune. Einfach so.
Keine grenzmanische Euphorie, sondern einfach stabile, nette, normale und harmlose gute Laune. Klar habe ich mich trotzdem geärgert, als eine Raucherin mit vor sich stehendem Kinderwagen mich bat, doch bitte nicht in der Nähe des Kindes zu dampfen, weil das schließlich schädlich ist. Oder ein schlechtes Gewissen gehabt, als ich noch ein paar Sachen im Bioladen geholt habe, die ich zwar mag, aber nicht lebensnotwendig brauche, und die eben Geld kosten.
Trotzdem, positiver Grundtenor.

Wissen Sie, wie lange ich schon keinen positiven Grundtenor hatte? Momente, ja klar. Aber mein Grundtenor ist entweder Anspannung/Überlastung, Angst, oder Leere. Darüber legt sich dann als Melodie der ganze Emotionswirrwarr und Kopfkrieg.
Und heute war das erträglicher, weil der Grundtenor ein anderer war. Gar nicht mal plötzlich, das hat sich schon immer mal wieder angekündigt seit dem Absetzen, aber der Rest hat halt abgelenkt.
Und jetzt geht es mir auf einmal besser, durch eine vergleichsweise einfach umzusetzende Änderung. Ich traue mich gar nicht, das richtig zu fassen, weil ich Angst habe, dass es dann kaputt geht.


Meine Therapeutin sieht die Sache etwas anders.
Sie sagt, dass ich das Medikament einfach abgesetzt habe, statt es auszuschleichen, sei eindeutig selbstschädigendes Verhalten, aber sowas von, und wenn ich sie gefragt hätte, sie hätte mir das niemals erlaubt.
Wir unterhalten uns darüber, dass ich das mit meinem Neurologen besprochen habe, und es jetzt zwar recht plötzlich und rabiat umgesetzt, aber nicht von irgendwoher schlagartig aufgetaucht ist.
Mein Neurologe ist als Koryphäe bekannt und wurde in der Vergangenheit auch von ihr sehr gelobt, entsprechend unbegreiflich ist es für sie, dass er auf Entzugssymtpome hingewiesen, es mir aber dennoch erlaubt hat.
Ich bringe ihr Bild weiter ins Wanken, als ich ihr erzähle, dass er mir auch einen gewissen Spielraum in der Dosisgestaltung meiner verbliebenen Medikamente erlaubt, mit mir, als das noch relevant war, durchgegangen ist, was passieren kann/wahrscheinlich wird, wenn ich Substanz xy mit in die Mischung werfe, und dass ich die Alkoholgenehmigung erhalten habe.


Als ich wieder zuhause bin, setzt der Kopfkrieg ein.
Es braucht fast zwei Stunden Wikinger-Ambient, die ich, vorwiegend weinend, unter meiner Bettdecke begraben verbringe, weil ich Angst habe, dass ich mir selbst nicht trauen kann; dass ich mir nur einbilde, dass es mir anders/besser geht, mir was vormache, und dass es dumm von mir war, zu denken und fühlen, ich würde etwas, was in Ordnung oder vielleicht sogar gut ist, machen, wenn ich nach so langer Zeit endlich versuche, das Zeug abzusetzen und dabei die Holzhammermethode anwende.
Dass das eigentlich total falsch ist, und richtig schlimm, und ungesund, und totale Spinnerei, eine fixe Idee, die ich irgendwie ausgebrütet habe und jetzt, weil ich so ein verdammter Impuls- und Affektmensch bin, plötzlich halt mache und dabei ignoriere, dass das eigentlich große Scheiße ist.


Ich wollte heute eigentlich feiern gehen.
Es ist nicht meine Musik, aber meine Theatergruppe + der befreundete Chor sind bei einer anderen Theatergruppe eingeladen und ich wäre gerne mit. Bisschen tanzen, bisschen sozialer Kontakt.
Hin- und Rückfahrt in Kolonne, und ich hätte sogar mal wieder Auto fahren dürfen - der Steuermann meiner Mitfahrgelegenheit hat mich zum Co-Piloten erklärt und mir erlaubt, auf der Rückfahrt, wenn ich die Strecke dann kenne, selbst den Captain zu machen. Ein Schlachtschiff von einem Auto, gefühlt mehr PS als die Kavallerie des Kaiserreichs, und die Aufregung war eine gute, weil ich mit riesigen Autos immer erst mal Angst habe, was kaputt zu machen und die, im Gegensatz zum Mayhemmobil, Gott habe es selig, meistens eine etwas leichtgängigere Schaltung, geschmeidige Bremsen und eine Servolenkung haben, nach etwas Aufwärmzeit aber eigentlich wirklich gerne Auto fahre.

Jetzt weiß ich nicht mehr, ob ich überhaupt aus dem Haus will oder kann, weil da so viel Zweifel und Angst und Traurigkeit ist.
Ich schreibe dem Steuermann, du, hab keine Ahnung, ob ich heute mitfahre oder daheim bleibe, ich komm gerade nicht klar.
Ich schreibe dem Theaterkollegen, der nur dann mitgehen will, wenn ich auch dabei bin, dass er seine Planung lieber selbstständig gestalten und nicht von mir abhängig machen soll.
Ich bin bereit, dem Regisseur die Blumen für meine Arbeit gleich mit zu gönnen, ist ja egal, ob ich Rollenfindung und -bildung, Stimmarbeit, Schulung der neuen Mitglieder und das Makeup gemacht habe, er hat eh das meiste davon als seine Ideen verkauft und sich für deren Effizienz und Innovativität loben lassen.
Dann weine ich ein bisschen mehr.

Und dann sage ich mir, okhaltstop. Setze mich zumindest mal hin, mache die Nachttischlampe an, weil es um mich rum stockfinster geworden ist.
Suche mir ein Taschentuch und meine Dampfe.
Und komme klar.

Ich erkläre mir wie einem Kind, das ich ja auch bin, dass Menschen manchmal Dinge anders sehen als man selbst. Gerade, wenn man etwas macht, was ein bisschen unkonventionell ist, oder unangenehm sein kann, können sich andere Sorgen machen oder das nicht gut finden.
Das dürfen sie auch, sie meinen es ja auch nicht böse.
Das heißt aber nicht, dass die immer Recht haben.
- Aber was ist, wenn doch?, frage Ich-Kind, und Ich-Erwachsene antwortet, dann bemerken wir das und passen den Plan entsprechend an. Unsere Gefühle, unser Selbst- und Weltbild und alles, was daran befestigt ist, war noch nie sonderlich statisch, und deshalb sind wir flexibel genug, um zeitnah zu reagieren. Außerdem haben wir inzwischen Routine im Umgang mit plötzlichen oder schleichenden Weltuntergängen - das heißt nicht, dass sie sich einfacher oder weniger schlimm anfühlen, aber es heißt, dass wir auf unsere Fähigkeit vertrauen, sie zu durchsegeln und da heile wieder rauszukommen.

Die Absetz-/Entzugssymptome haben mir, zumindest temporär, nachhaltig beigebracht, was ich, ob mit oder ohne Therapeuten, schon seit Jahren versuche: verdammt nochmal Mitgefühl für mich haben, wenn ich gerade wie ein begossener Pudel im Regen stehe. Ein bisschen Rücksichtnahme und schonender Umgang.

Weiß dementsprechend immer noch nicht, ob ich heute raus gehe.
Das liegt aber nicht mehr daran, dass die Welt untergeht, sondern daran, dass meine Vulnerabilität aktuell erhöht ist, ich ein bisschen fragil bin, ein bisschen weinerlich, und das nicht nur nachvollziehbar, sondern auch vollkommen ok ist (ich suche gerade nach einem neutralen Synonym für "weinerlich").
Wenn ich nicht mitfahre,dann, weil es mir zu viel wäre und ich den Abend nicht genießen könnte.
Und nicht, weil meine Therapeutin sagt, dass das Absetzen meines Medikaments, nach zwei Jahren überlegen und Rücksprache mit dem Neurologen, falsch und Selbstschädigung ist, weil ich es ohne Ausschleichphase mache.
Bisher hat es den Anschein einer guten Entscheidung. Wenn es doch keine ist, werde ich damit umgehen können.
Aber ich werde meiner Wahrnehmung jetzt endlich mal vertrauen. Oder es versuchen.
Und die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass ich etwas richtig gemacht habe, dass es mir besser geht, und das auch dann legitim ist, wenn es mich nicht jahrelange Arbeit und endlose Schmerzen, sondern vielleicht nur eine Weile unangenehme Absetzungs-/Entzugssymptome gekostet hat.

Ich traue mich nicht, zu beschließen, dass meine Therapeutin unrecht hat.
Aber ich wage es, in Erwägung zu ziehen, dass ich Recht habe.