Samstag, 23. März 2013
Thema: monolog


*Die ersten Töne des Liedes werden gespielt*
Ein verwahrlostes Jugendzentrum in einer Kleinstadt, davor einige Autos.
*Das Schlagzeug setzt ein*
Der Fremde betritt die Bühne, ihm folgen diverse Ghettomädchen.
-Zeitsprung-
Man sieht den Innenraum des Jugendzentrums, darin abgeranzte Sessel, in denen bekiffte oder betrunkene Ghettomädchen und Gangsterboys sitzen, während ein Computer vermutlich schlechte Diskomusik spielt.

Und dann betritt Frau Mayhem die Bühne.
*Einsatz Gitarre*
An ihrer Seite befindet sich der Raucher, in ihrer Tasche befinden sich drei Flaschen Wein fürs Geburtstagskind, eine Pulle Billigbaileys für sich selbst und eine Schachtel Kippen.
Mögen die Spiele beginnen.


Und ich stiefle da so rein, ganz locker, ganz cool, ganz selbstbewusst, meinen angetrunkten-angenervten Freund an meiner Seite und mit der festen Überzeugung, dass die Welt untergeht.
Aber was macht das schon? We carry on, ich gebe die Weinflaschen beim Geburtstagskind alias dem Fremden ab, lasse mich umarmen, mir einen Wangenkuss aufdrücken, rede mit ihm, mit dem Dumb-(B)ass(isten), mit der Egoschleuder, mit dem Grinch, Ghettomädchen und überhaupt allen, und dabei hinterlasse ich sogar einen guten Eindruck.
Eigentlich fühle ich mich ganz furchtbar verloren unter den ganzen Leuten und allein gelassen mit der Situation, aber mein Herz ist auf Krawall gebürstet, deshalb stiefle ich da durch, klicke auf andere Musik, als mir die Technokotze endgültig zu viel wird, lasse die Ghettoslamsalven, die daraufhin erbarmungslos auf mich niederprasseln, an mir abprallen und tue das, was der Raucher auch macht, wenn ihn wieder mal alles nervt: Eine rauchen.

Wenn ich vom Rauchen wiederkomme, habe ich jedes Mal mindestens eine neue Bekanntschaft geschlossen, und während diverser Aktiv- und Passivrauchpausen freunde ich mich so gut mit der Egoschleuder und dem Dumb(b)ass(isten) an, dass ersterer mich fragt, ob ich in seiner Band das Keyboard übernehmen will und letzterer anbietet, mir seinen Bass auszuleihen, weil ich ihm erzählt habe, dass ich eigentlich immer nur Schlagzeug und Bass spielen lernen wollte (irgendwie wurde dann doch Keyboard draus. Vor 12 Jahren. Und Gitarre. Vor 4 Jahren).

Ich schaffe es sogar, ein bisschen mehr zu trinken ohne dass die "Suchtverhalten!!"-Alarmleuchte in meinem Kopf anspringt, schimpfe mich ein bisschen fürs Rauchen und den Mann an meiner Seite fürs Saufen, aber als er dann bei vier Litern Bier angekommen ist, sage ich mir so, Scheiß drauf, folge der Aufforderung des Fremden, mit ihm und dem Musiker ein paar Lieder zu covern, zittere vor lauter Nervosität so sehr, dass ich die falschen Töne anschlage, bis mir auffällt, dass uns sowieso fast niemand zuhört, und ziehe nur abschätzig die Augenbraue hoch, als das Fangirlie zur Quietschekreischmeckerarie übergeht, weil _ihr_ Fremder doch versprochen hatte, dass sie Lied Nr. 3 mit ihm singt.
*Intro wird ab Einsatz d. Gitarre wiederholt*
Frau Mayhem drückt dem Fangirlie das Mikrophon mit dem miesesten Grinsen seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte in die Hand.
Fangirlie krallt es sich so brutal und schlägt es nochmal gegen die Nagelkante Frau Mayhems, dass dabei, rein zufällig natürlich, einer der liebevoll aufgeklebten und eigentlich bombenfest sitzenden Kunstnägel von deren Krallenhand abgeklappt/-gerupft wird.

Fangirlie mit einem süffisanten Grinsen : Oh, hab ich dir den Nagel umgeknickt, das tut mir aber Leid! Dauert bestimmt ewig, bis der nachwächst.

Frau Mayhem an Schmerzen gewöhnt: Ach, ist gar nicht so viel passiert, ich...

Fangirlie unterbricht sie: Doch doch, da ist ja ein richtig großes Stück abgebrochen, das tut mir jetzt ja echt ultra Leid. Lächelt spitzmündig.

Frau Mayhem: Passt schon, sind eh Kunstnägel. Schnippst den am Mikro hängenden Kunstnagel gegen den Hals des Fangirlies, von wo aus er unbeabsichtigt in dessen metertiefen Ausschnitt rutscht.
Oh, das tut mir jetzt aber Leid.
*Frau Mayhem ab.*


*Es erklingen abermals die ersten Töne des Liedes.*
Wohnzimmer des Rauchers.

Auf dem Sofa liegt Frau Mayhem, allgemeinen Weltschmerz veratmend, während der Raucher gerade versucht, mit seinem Fön den Holzofen anzuzünden.


Auf großartige Leistungen folgt meistens großer Absturz, und irgendwo auf dem Weg vom Jugendzentrum zurück zum Raucher schlägt alles über mir zusammen, was ich so vor mich hin verdrängt habe, und ich könnte wahlweise heulen oder mich vor ein fahrendes Auto schmeißen, mit hundertprozentiger Garantie aber eine Umarmung gebrauchen.
Rafft der Mann an meine Seite natürlich nicht, der jammert nur, dass besoffen bergauf laufen richtig scheiße ist, und dann zuhause, dass es so kalt ist und sein Feuerzeug leer.
Mein Angebot, ihm Streichhölzer zu geben, ignoriert er ebenso wie die Anmerkung, dass man sich sowieso demnächst zu Bette begeben und die Kombination Heizung+zwei Decken+zwei Menschen generell schon ganz gut für Wärme sorgen würde, und fünf Minuten später ist das ganze Wohnzimmer mit einer feinen, weißlichen Ascheschicht bedeckt.
"Ich hab das früher schon oft so gemacht!", versucht er, sich zu rechtfertigen.
-"Passt schon."
Denke an meine Mutter. Damals.
"Echt jetzt, das hat immer geklappt!"
An meinen Vater, der vielleicht nicht mein Vater ist.
"Ohne Mist, jetzt glaub mir halt!"
An mein Auto, dessen Fehlerspeicher totgelegt wurde.
Und das ich eventuell bald verkaufen müsste/sollte, weil das so keinen Sinn mehr hat, dauernd ruckelt und zuckelt, ich damit nächstes Jahr bis nach Hamburg auf Seminare fahren muss und ich für das Geld plus vor allem einen von Papa Mayhem versprochenen Zuschuss ein anderes ohne Verlustgeschäft kaufen könnte. Einen Polo. Den Polo. Frohmbwahsrot, wie meine Mutter immer gesagt hat.
Einen Frohmbwahsroten Polo, gefunden von der Vatersfreundin. Sofort mich angerufen, sofort fotographiert. Zwanzigfach.
"Ey Schatz, jetzt hör mir doch mal zu, ich hab echt..."
Sollte es mich unruhig stimmen, wenn meine emotionale Bindung an mein Auto stärker ist als die an diverse Menschen, sodass mich nichtmal die Aussicht auf einen frohmbwahsroten Polo wieder aufbauen kann?
"..den Ofen früher immer..."
Ich denke an Abitur, Weltuntergang.
"...so angemacht, das klappt super!"
An meinen angedachten FSJplatz, die Arbeitsstelle dort.
Weltuntergang.
"Ach ich leg mich jetzt ins Bett...wir ham schließlich zwei Decken."
An meinen langsam, aber sicher das Licht der Welt erblickenden Weisheitszahn, an Mathe, an den Vaterschaftstest, an mein Auto, an fünf Seminarwochen nächstes Jahr, ans Abitur, an Mr.Gaunt, an die furchtbare Arbeitsstelle, wieder an Mr. Gaunt, daran, dass ich es erst noch schaffen muss, den Fremden auf 0% runter zu schrauben, dass ich seine Geburtstagsfeier aber echt gut überstanden habe, wieder an Mr.Gaunt, dass Rauchen scheiße ist und wie krass es ist, dass ich dadurch so viele Leute kennengelernt und ein bisschen Selbstsicherheit gewonnen habe, wieder an mein Auto, Mr.Gaunt und zurück zum Anfang.

Irgendwann schlurft der Raucher mit Schmollgesicht ins Wohnzimmer, hebt mich entschlossen hoch, trägt mich ins Bett, wickelt mich in eine Decke, legt seinen Kopf auf meiner Schulter und seinem Arm um mich rum ab, schnaubt zufrieden und schläft beinahe auf der Stelle ein, um anschließend die Wände und mein Trommelfell durch ohrenbetäubendes Schnarchen zu erschüttern.

Irgendwann wird alles gut.
Bis dahin, einfach weiteratmen.
We carry on...




Samstag, 16. Februar 2013
Thema: monolog
..und dann finde ich mich in der Einlassreihe vor einer bis ins letzte Eck mit Bierzeltgarnituren vollgestopfen Sporthalle wieder.
Neben mir Kriemhild und Kriemhildfreund im Hawaiioutfit, in meinem Hirn noch Opa Mayhem in drei Wolldecken gewickel, noch gestorbener aussehend als beim letzten Mal und sich auch so verhaltend.
Menschlicher Verfall ist so ein blödes Arschloch.

Ich bin eher spontanverkleidet, rotes Pünktchenkleid, überdimensionierte schwarze Stoffschleife um die Taille und ein paar mit Kajal aufgemalte Schnurrhaare plus geschwärzte Nasenspitze ergeben in Kombination mit kleinem Absatz, schwarzer Strumpfhose und mir zu zotteligem Zopf (mit Schleife!) irgendwas niedlich-retro-minniemausartiges, das ausreicht, um a) vergünstigten Eintritt und b) im Vergleich zu sonst überdurchschnittliche Beachtung vom eigenen (verdammt, wieso muss das Rotkreuzmädchen immer vergeben und in monogamen Beziehungen sein?) sowie dem anderen Geschlecht auszulösen.
Letzteres wird durch das Auftauchen des Rauchers (immer noch als böser Biker unterwegs, entweder gut gelaunt oder immer noch mit Restalkohol) irgendwann zwischen DJ-Partykracher-Einlage und Männerbalett Nr. 3 etwas gedämpft, besonders, als er dazu übergeht, sich nicht von meiner Seite und seinen Arm nicht von meiner Hüfte weg zu bewegen; natürlich nicht ohne subtil zu jammern,weil seine Freunde zwecks Vorglühen noch draußen stehen.
"Find ich jetzt weniger dramatisch", schulterzucke ich ihn eiskalt an, ohne meinen Blick von der Bühne zu lösen, "Davon abgesehen hab ich schon oft genug gesagt, dass ich dich nicht von deinen Freunden fernhalten will". Besoffen bist du genauso scheiße wie die. Und nüchtern manchmal auch.
Und überhaupt ist mir das alles gerade viel zu viel.
"Ich will aber jetzt bei dir sein", meint der Mann an meiner Seite und zieht mich zur Bekräftigung dieser Aussage noch ein Stück weiter zu sich.
-"Dann beschwer dich nicht, dass du nicht beim Pinguin und den anderen bist." Ich kann manchmal sowas von herzlos-realistisch sein.
"Ich beschwer mich ja gar nicht", mault er.
Man möchte weglaufen.

Nach Männerballett Nr.5 und erneuter akustischer Massenvergewaltigung der Besucher durch den DJ tauchen sie auf, die Raucherfreunde. Entscheide mich somit für Rückzug hinter die feindlichen Linien alias in eine Nebenhalle, die als Bar/Ausschankthekenkombination fungiert, genauso überfüllt ist wie der Rest des ganzen Horrorszenarios, aber mir wenigstens übergangsweise Anonymität und Untertauchmöglichkeiten bietet, weshalb ich beschließe, eine Ecke zu erobern, dort bis auf weiteres zu bleiben und sie mit meinem Leben zu verteidigen, zumindest solange, bis sich der Angstzustand meine leichte innere Unruhe wieder ein bisschen gelegt hat.
Will wegrennen, ganz weit weg.
Geht aber gerade nicht.
Also, einfach weiteratmen. Alles wird gut, irgendwann.
Augen zu. Einatmen. Ausatmen. Alles wird gut.
Augen wieder auf, der Zweimetermann mit der Afroperücke, der mich vorhin mit angetrunkenen Flachwitzen und harmloser Tappsigkeit unterhalten wollte, hat mir auf die Schulter getippt und fragt jetzt unsicher lächelnd , ob er mir was ausgeben dürfe.
"Jetzt nicht als Anmache, oder so... dein Freund schaut viel zu gefährlich aus, da trau ich mich das nich.. Aber du bist so besonders und ich find dich so toll." Sagt er und strahlt übers ganze Gesicht und meint das alles so, wie er es sagt.
"Wenn es ok ist, hätt ich gern ein Wasser. Oder ne Apfelschorle..."
-"Oh, du Arme, musst du fahren?"
"Nö, aber ich warte mit allem anderen aber lieber, bis ich nen Anlass habe".

Sekunden später taucht ein potentieller Anlass in Form des beinahe nüchternen Fremden auf, hängt seinen Arm um meine Schulter und ist mit einem Mal so nah, dass ich am Liebsten weinen würde.
Dann habe ich die Begrüßungsumarmung überstanden, aber seine Hand immer noch auf meinem Rücken und sein Blick reicht als Heizstrahler weit genug, um mich komplett aufzutauen,alles, was da an Hoffnung war, für kurze Zeit zu reanimieren und mir endgültig Wasser in die Augen zu jagen.
Dann tut der Afromensch das einzig Richtige, schubst den Fremden ein Stück von mir weg, platziert seinen eigenen Arm um meine Schultern und ein Colabier unbekannten Ursprungs in meiner Hand und weist den Fremden darauf hin, "Die Frau is vergeben, Alter. Leider nich an mich, aber als Ehrenmann"-er zupft sich die Perücke zurecht- "zolle ich ihrem Freund voll den Respekt und verteidige sie, wenn ers grad nicht macht".
Er nickt energisch.
"Dein Kumpel da ist aber schon ein bisschen verstrahlt, oder?" Der Fremde lacht unsicher und versucht wieder, seine Hand auf meinen Unterarm zu legen, aber diesmal gehe ich einen Schritt zurück.
Distanz schaffen.
Er ist verwirrt.
Distanz halten.
Er geht einen Schritt vor, ich einen zurück.
Er sieht verletzt aus.
Egal.Distanzieren und weiteratmen.
War auch schonmal leichter.

Als wir zum Bahnhof laufen, ist der Raucher nüchtern, dafür aber übelkeits- und schwindelgefühlsgeplagt, viel zu viel Alkohol plus jede Menge Kippen und keinerlei feste Nahrung sind tendenziell eben eher ungesund; trotzdem hat er darauf bestanden, mit uns zu Kriemhilds Auto zu laufen, statt an der Halle zu warten und sich von uns einsammeln zu lassen.
"Ich bleib jetzt bei dir!", erklärt er seinen Beschluss, während wir durch leergefegte Straßenzüge ans andere Ende der Stadt laufen, wie damals nach der Bitchparty; vorbei an der geschlossenen Billardkneipe, der alten Chemiefabrik, in deren oberen Fenstern nach der Explosion nur noch einzelne Glasscherben an den verbogenen Metallstreben hängen, und vorbei am Haus des Patenonkels.
Oben in seiner Wohnung brennt noch Licht; die, in der meine Großeltern gelebt haben, hat er wohl seitdem nicht mehr betreten.
Kriemhild verschwindet hinter einer Straßenbiegung, ich stehe immer noch vorm Gartentor. Das niedrige Holzgartentor, dessen Tür ich noch nie wieder zugekriegt habe.
Der komische Riesenkies auf dem Boden, über den man nicht barfuß laufen kann und der somit fehl am Platz ist, man sollte über alle Wege gefahrlos ohne Schuhe laufen können.
-Der Raucher legt seinen Kopf auf meiner Schulter ab und beschränkt sich darauf, mich festzuhalten.-
Sich endlos hinziehende Aufenhalte, die nur erträglich wurden, weil es manchmal Geld gab und Süßigkeiten, die ich immer heimlich gegessen habe, weil meine Mutter gesagt hat, wenn ich sie annehme, werde ich ein noch fetteres Schwein, als ich es sowieso schon bin.

Sie hat mich bis zuletzt nicht in Ruhe gelassen.
Bis zuletzt hat sie mich nicht in Ruhe gelassen, sage ich dem Raucher und verwirre ihn damit vermutlich, aber er ist zu müde und zu weit weg, um nachzufragen, und ich bin zu eigen und zu anders, um zu erklären, dabei ist da eigentlich so viel.
Aber keiner von uns sagt was, und Kriemhild hat sich inzwischen vermutlich schon längst verlaufen, während wir vor dem Haus mit dem Gartentor, das ich nie zukriege, stehen, ich verloren, der Raucher verpennt, und ich könnte sagen, immerhin haben wir noch uns, aber ich weiß nicht, ob das so ist und ob es so gut ist.
Zu vieles, was er nicht verstehen kann und nicht verstehen will, und wir steigern uns doch nur gegenseitig in unserem Wahnsinn, jeder für sich.


Im Haus des Patenonkels ist immer noch ein Lichtschimmer.
Ich habe seit einem Monat nicht auf seine Mail geantwortet. Weiß nicht, was ich machen soll.

Immer noch die selbe Hofeinfahrt und das selbe Haus, jetzt ohne Opa, ohne Oma und ohne Mutter, und der Briefkasten ist neu und sein Auto auch.

Der Raucher schiebt mich behutsam weiter, bestimmt wartet die Katze schon, meint er und hat schon bläuliche Fingerspitzen,weil es vermutlich kalt ist, besonders, wenn man wie wir keine richtigen Jacken dabei hat.
Ich merke nichts, er schon, also setzen wir uns in Bewegung und gehen da hin, wo ich Kriemhilds Auto vermute, damit wir endlich nach Hause kommen.

Als ich mich an der Straßenbiegung nochmal umdrehe, brennt im Dachfenster immer noch Licht.

Den Fremden habe ich in der Sporthalle zurückgelassen ohne mich zu verabschieden.




Mittwoch, 13. Februar 2013
Thema: monolog
Ms Golightly dann doch noch dabei, der Fremde hat sie zum Einsatzort gefahren und mich zur Begrüßung sehr vorsichtig auf die Wange geküsst.
Ein zurückhaltendes Lächeln in seinem besonnenbrillten Gesicht, ein paar Worte, Bereitschaftsleiter betritt die Bühne, der Fremde velässt sie, mayhem ab Richtung Garderobe.
Mit Wohlgefühl.

Dienstkleidung gibt Sicherheit. Ich bin kategorisierbarer damit. DRK, SEG Mayhemsdorf, Sanitäterin. Klare Beschriftung, klare Aussage, klare Aufgabe. Klare Funktion, klares Ich. Alles ganz einfach.
Ein bisschen mit Betrunkenen reden, freundlich zu kleinen Kinden und alten Omas sein.
Stabil, sachlich, neutral. Über der Situation stehen, aber menschlich genug, um trotzdem dabei zu sein.
Mit weisem und vertrauenserweckenden Blick das Schlachtfeld überwachen, gegebenenfalls eingreifen und hier und da Pfläumchen in die Hand gedrückt bekommen, um sie ein wenig später unauffällig weiter zu verschenken.

Dienstkleidung gibt Sicherheit, an Dienstkleidung prallt alles ab. Alles mit Sicherheitsabstand.
Ein bisschen der Vatersfeundin zuhören, ein bisschen mit dem Schreikind spielen, ja, ich weigere mich immer noch, meine Quasi-Nichte auch als solche anzusehen.
Hab schon genug Familienzugewinn durch den einen Mann da, der vielleicht mein Vater ist, und alles, was er sonst so in die Welt gesetzt hat plus die Familie des Rauchers, die mich standhaft aufnehmen will. Die Eltern meckern ein bisschen, weil ich mich nie traue, Hallo zu sagen, die Schwester hat mich sowieso schon ins Herz geschlossen und die Oma bittet mich immer, meinen Dutt aufzumachen, fragt ganz schüchtern, ob sie mein Haar anfassen dürfe und streicht dann andächtig durch. Sogar der Hund mag mich.
Es ist zum Ausderhautfahren.

Dienstkleidung schützt leider nicht vor allem.
Als die Nachbesprechung mit der Feuerwehr vorbei ist und ich von Ms Golightly erfahren habe, dass der Fremde schon länger wieder solo ist, stiefle ich gerade wieder Richtung Auto, um mich meiner viel zu weiten Einsatzuniform zu entledigen (nein, der Kreisverband hat es immer noch nicht für nötig gehalten, der einzigen Frau in der Bereitschaft passende Sachen zu stellen) und mir was ansatzweise Vorteilhaftes anzuziehen, bemerke noch eine verschwommene Bewegung im Augenwinkel und habe kurz darauf die Ghettoschwester am Hals hängen, die mir völlig betrunken ins Ohr schreit, wie lieb sie mich hat und bei der Gelegenheit ihre Flasche Asbach über/in meine Tasche mit der Zivilkleidung schüttet.
Und weil Parasiten immer in Horden auftreten, bin ich kurz darauf umringt von Ghettokindern, dem Grinch, dem braunhaarigen Fangirlie und dem Fremden, der im Bademantel unterwegs ist und aussieht wie ein Zuhälter.
Genug Ware hat er ja im Schlepptau, denke ich mir so, bin ein bisschen eifersüchtig, erleide einen akuten Anfall von Negativgefühl, weil ich mich ja in eine nicht-offene Käfigbeziehung habe drängen lassen und beschließe, mich auf die Suche nach dem Gefängniswärter alias dem Raucher zu machen.
Finde ihn dann auch, im Gegensatz zum Pinguin steht ihm die böse-Biker-Kluft sogar, will das zum Anlass nehmen, mich davon zu überzeugen, mich doch ein bisschen (mehr?) in ihn zu verknallen, werde in meinen Bemühungen aber dadurch, dass Mr.Gaunt im Jack-Sparrow-Kostüm nicht nur gut, sondern schlicht und ergreifend geil aussieht und der Fremde nebenher beständig versucht, mit mir zu reden, doch etwas gestört.
Begrüßungskuss vom Raucher, überraschenderweise ist die einzige Ursache für meine innerliche Abwehrreaktion die Tatsache, dass er nach Bier und Zigarettenrauch stinkt wie eine ganze Kneipe.
Vielleicht wird es ja doch noch.
Stehe so zwischen den Gesprächsgruppen und fühle mich deplatziert, bis die Ghettoschwester mich bittet, sie zur Toilette zu begleiten, weil sie nicht mehr alleine geradeaus laufen kann.
Mache ich, bin ja schließlich ein netter Mensch.

Hätte ich nicht machen sollen, bin schließlich hypersensibel (das sogar offiziell) und potenziell depressiv.
Weibergekicher drinnen, während ich vor der Tür warte, dann die Stimme des braunhaarigen Fangirlies.
Will eigentlich weghören, aber sie klingt so stolz, und dann fällt der Name des Fremden.
Von einer offenen Beziehung ist die Rede, oder, nach kurzem Überlegen, eher Fickbeziehung, man habe sich da so drauf geeinigt, weil sie untervögelt und er Dauersingle war.

Dienstkleidung schützt leider nicht vor Herzschmerz.
Spontanflucht, als sie mit den Einzelheiten auspackt und erzählt, wie doof er sich doch angestellt hätte; ich überlasse die Ghettoschwester ihrem Schicksal und hoffe, dass sie jemand anders wieder zu ihren Freunden zurückträgt.
Eine sehr schnelle Verabschiedung vom Raucher und den ganzen Leuten, die ich nicht mag, Mr. Gaunt ignoriert mich weiterhin eiskalt, ja, es tut weh, die Abschiedsumarmung des Fremden lasse ich ins Leere laufen, werfe meine Tasche und mich auf die Trage hinten im Auto, während der Bereitschaftsleiter zu doof ist, um es anzukriegen und deswegen lautstark mit dem gesprächigen Kollegen ehekracht.

Ein bisschen Heulbedürfnis, ein bisschen Herzschmerz.
Eine SMS von Kriemhild und, dank einem geistigen Kurzschluss, eine Zusage meinerseits.

Somit abends Fasching, Part 2 in der Heimatstadt meiner Mutter.




Samstag, 2. Februar 2013
Thema: monolog
Erkenntnis
Bin im Vergleich zum Patenonkel emotional ausgeglichen, positiv eingestellt und völlig gesund.
Aufgrund der Vergleichsperson wäre das allerdings jeder, der, von Bahngleisen/Autobahnen/Bürgersteigen vor Hochhäusern gekratzt, auf meiner Trage landet.
Erkenntnis, dass ich ihm nicht helfen kann.
Beschluss, trotzdem zu versuchen, den Kontakt beizubehalten.

Epic
Der andere Onkel, also der, der vielleicht gar nicht mein blutsverwandter Onkel ist, hat zu Papa Mayhem gesagt, Bruder, du solltest dein Hirn nicht in der Hose haben, sondern im Schädel, reiß dich mal zusammen, schau dir das Weib an, dass du dir da angelacht hast, und überleg mal, was du da für ne Scheiße gebaut hast.
BÄM, das ist meine Verwandschaft.
Auch, wenn er ansonsten ein korrupter, geldgeiler Schleimbeutel ist. In Vollzeit.

Endzeitstimmung
Papa Mayhem hat Verlustangst, überraschenderweise nicht wegen seinem Ansehen, sondern wegen mir.
Macht mich ein wenig sentimental. Wo wir uns doch schon so lange verloren haben.
Gesagt hat es mir nicht er, sondern die Vatersfreundin.
Er hat Angst. In die Ecke gedrängtes Kaninchen.
Ich weiß, wie das ist.
Er wusste es noch nicht.
Jetzt bin wohl ich die, die vorausgehen muss.

eingesperrt
Bei der Raucherschwester und ihrem Freund eingeladen gewesen, so oft zusammengerissen, nichts zu sagen.
Tendenziell wie irgendein viel zu großes Vieh in irgendeiner viel zu kleinen Gitterbox gefühlt.
Albatros im Wellensittichkäfig.
Eigenartig und eingesperrt.
Alltagsgefühl, anders ist eben doch immer das Gleiche.
Man gewöhnt sich dran.

Aber er gibt sich Mühe.
Ich mir auch.
Dem Raucherschwesterfreund fast ins Allerweltsgesicht geschlagen.
Mich fast ein bisschen in meinen verknallt.
Diesmal keine Abneigung, sondern sogar minimales Kuschelbedürfnis.
Ich habe gesagt, ich weiß nicht, ob das so geht, aber ich versuche es.
Eigentlich bin ich vom Scheitern überzeugt, aber zwischendurch hat es sich doch richtig angefühlt.
Weiß nicht, wo es hingegangen ist.
Vielleicht kommt es ja wieder.

Er gibt sich Mühe.
Ich mir auch.
Weiß nicht, ob er den Käfig größer machen oder mich schrumpfen will.

eigenartig
Die potenzielle Halbschwester angesehen und unter zwei Kilogramm Schminke ein Gesicht entdeckt, dass meinem viel zu ähnlich ist, um von Zufall zu sprechen.
75, 80%, sagt der Raucher. Sieht mir fast ähnlicher als meine Mutter. Und das bedeutet was.
Nur die Haare, und die Augen.
Die hat sie von ihrem Vater, glatte Haare und braune Augen. Meine Mutter hatte auch glatte Haare, und dunkelblaue Augen.
Meine sind grüngraublautürkis, wie bei Papa Mayhem. Oder Opa Mayhem.
Und wellige Haare hab ich, wie Papa Mayhem.
Ist irgendwie trotzdem kein Anhaltspunkt.

Gestern die Unterlagen bekommen, heute Besprechung, dann Test.
Neben dem gefühlt katastrophalen Zeugnis also dann der nächste blöde Zettel, der mehr bedeutet, als das ein Stück Papier eigentlich sollte.

Wer auf keinem Fundament steht, kann wenigstens nicht entwurzelt werden.

Ich vermisse Prag, obwohl ich nie da war, und die verwinkelte, kleine Stadt am Fluss, weil ich mal da war und es sich richtig angefühlt hat.
Hatte ich so nur ein weiteres Mal, am Meer.
Bin Nichtschwimmer und brauche Wasser in meiner Nähe.


Die Welt ist seltsam.




Mittwoch, 16. Januar 2013
Thema: monolog
Wir fassen uns an den Händen, nein wir lassen nicht los...
Dass Schwule keine richtigen Menschen wären, hat er gesagt.
Dass jeder "rechtes Gedankengut" in sich trägt, hat er gesagt.
Dass er sich an Fasching wieder mal richtig vollaufen lassen wird, hat er gesagt.
Dass das eben dazugehört, hat er gesagt.
Dass Lesben fast so schlimm sind wie Vegetarier, hat er gesagt.
Dass ich ihm wichtig bin, hat er gesagt. Dass ich toll bin.

Er ist dauerangepisst und auf Distanz gegangen, um meine überraschend-luftabschürend intensive Herzschmerzwand damit zu durchbrechen, mir zu erklären, dass es nicht an mir liegt, sondern daran, dass wir so wenig Zeit zu zweit verbracht haben die letzen Wochen.
Darum der Beschluss, sich den Freitag freizuhalten, dann: er möchte mich zum Essen einladen.
Als ich mich wegen Rückenproblemen nichtmal richtig aus dem Bett bewegen konnte, er Urlaub hatte und alles, was ich brauchte, (m)eine Wärmflasche war, war er beim Pinguin, zocken, und konnte sie deshalb leider nicht vorbeibringen.
Als ich zum von ihm erbetenen Termin angerufen habe, der einzige Tag in der Woche, an dem wir uns gehört hätten, wurde ich auf unbestimmte Zeit vertröstet, der Pinguin war gerade da.
Als die Kombination Schlafmangel-Ibuprofen Halluzinationen verursacht hat und ich, weil niemand erreichbar war und ich Angst hatte, ihn angerufen habe, wurde ich noch im ersten Satz abgewürgt und im Hintergrund hörte man den Pinguin über mich lästern.
Als wir übers Schwimmen lernen gesprochen haben, meinte er, man könne ja mal mit dem Pinguin ins Schwimmbad gehen, der habe sowieso noch Gutscheine.

Mein Hirn stellt mir gegenüber fest, dass ich bei jedem anderen Kerl, der sich so verhält und so eine Einstellung hat, wie es beim Raucher anscheinend der Fall ist, schon längst das Weite gesucht hätte, und mein Gewissen nennt mich inkonsequent.

Warum mir das nicht früher aufgefallen ist, frage ich mich. Warum er es die ganze Zeit so gut versteckt hat und so schmerzerregend ... passend war.
Warum er mir trotzdem so wichtig ist.


..doch wir bleiben nicht stehn
Dass er jetzt eine Freundin hat, erzählt er, ganz stolz.
Dass sie ja auch mit aufs Festival gehen könnte, findet er.
Dass ich mich bestimmt gut mit ihr verstehen werde, meint er.
Dass sie so viel gemeinsam haben, glaubt er.

Dass sie eigentlich kein Bier trinkt und keine laute Musik mag, weiß ich.
Dass sie deswegen dauergelangweilt mit dem Handy online ist, wenn sich auf der Bühne Leute die Seele aus dem Leib prügeln und das Publikum Weltschmerz auf die Bühne wirft.
Dass sie sich wegen ihm die Haare dunkler gefärbt und anstelle eines Besuches beim schwedischen Modehändler beim Onlinehalbmainstreammetalmailorder bestellt hat, hat sie erzählt.
Dass sie Metal eigentlich scheiße findet, und die Texte der besten Band der Kleinstadt sie verwirren, hat sie mir anvertraut.

Der Fremde ist mit dem braungefärbten Fangirlie zusammen, inzwischen ist sie sogar volljährig, und als er sich mit ihr an unseren Tisch setzen und diesen Anlass feiern wollte, habe ich mir die Sadistin unter den Arm geklemmt und bin mit ihr rauchen gegangen, und wissen Sie was, meine Welt steht immernoch, das große Erdbeben blieb aus, ich bin immer noch hier.
Ich hab schon schlimmeres mitgemacht.


so viele Farben, kennst du die Stadt schon?
Und ihren Hafen
Die leeren Straßen?
Ohne die Menschen ist sie ertragbar..

Dass er nach dem Tod seiner Mutter so viel gelaufen ist, dass sein Ruhepuls unter 40 war und seine eine Herzklappe nicht mehr richtig geschlossen hat, weil die Blutpumpe zu groß geworden ist, hat er geschrieben.
Dass Leben sinnloses Leiden ist, hat er geschrieben.
Dass er alleine ist, das aber eigentlich auch schon immer war, hat er geschrieben. Dass das schon so passt.
Dass er nicht weiß, wofür das Ganze, hat er geschrieben.
Dass er die Todestage so fröhlich wie möglich verbringen will und deswegen auch schonmal den seiner Schwester vergessen hat, hat er geschrieben.
Dass sein sozialer Kontakt sich auf die Mittagspausen mit der Azubine beschränkt, die 30 Jahre jünger, aber sehr nett ist, hat er geschrieben.
Dass er oft traurig ist, hat er geschrieben

aber will es auch nicht ändern. Oder kann es nicht.
Der Patenonkel ist kein Kämpfer, sondern konventionell-verzweifelter Weitermacher. Und ein Einzelgänger, schon immer gewesen, zwischenmenschlich irgendwie unfähig, die dicke Glaswand um einen rum. Man selbst drin und die anderen Lebensformen draußen.
Kennt man.
Zu oft Grund des Scheiterns.


Aber manchmal, da muss man sich eben zusammenreißen und das tun, was wichtig ist.


da hinten geht der richtige Zeitpunkt,
dort drüben fährt unsere letzte Chance.
Da vorne fällt die größte Lüge,
dort oben sitzt er auf seiner Wolke und lacht


Deswegen ist der einzige Faschingsumzug, dem ich beiwohne, der, bei dem ich Sanitätsdienst habe, und wenn der Raucher auf große Sauftour gehen will, dann ist das eben so;
deswegen werde ich in nächster Zeit kein Konzert der besten Band der Kleinstadt mehr besuchen, eineinhalb von drei Bandmitgliedern kann ich zur Zeit nämlich nicht in meiner Nähe ertragen, ohne kotzen oder weinen zu müssen.

Kurzerhand habe ich beschlossen, das einzig Vernünftige zu tun, den Dienst angenommen, den finalen Versuch, die übliche Truppe wieder zusammenzutrommeln, gestartet, die Vatersfreundin so laut angeschrien, dass mein Pfeif-und-Tinnitus-Ohr danach zwei Tage lang beleidigt war, den literarischen Grundstein für eine längere Geschichte (hooray for fantasy, man will ja nicht aus der Übung kommen) gelegt, mich von der roten Haarfarbe verabschiedet und der alten Sache geschrieben.

Kein deplatziertes Rumstehen beim betrunkenen Raucher und dem schlecht verkleideten Pinguin, dafür Antifasching in der Absteige, mit der üblichen Truppe.
Da muss er durch, ist alt genug.
Mal wieder "gemeinsames" Rauchen mit Faust, Sternegucken mit der alten Sache (er hat es vorgeschlagen und versprochen), ein Glas Wein mit Mr.Gaunt (er ist es mir noch schuldig und vielleicht bin ich mutig genug, ihn darauf anzusprechen), danach unfähig-taktloses Tanzen mit eben jenem (ich schulde es ihm und vielleicht ist er nüchtern genug, sich daran zu erinnern) und ginge das so einfach, ich würde sofort zu Ferienbeginn nach Prag fahren.

Das Mayhemmobil läuft so gut, man könnte fast glauben, es sei vollständig regeneriert, und ich habe zwar immer noch nicht die Bücher meiner Mutter, oder das Hometrainerdings, das sie nie benutzt hat, oder den großen Gymnastikball zum draufsitzen, den ich laut Ärztin für meinen Rücken bräuchte, dafür aber die Sparbücher, die für mich angelegt wurden, damals.


Nachdem ich auf Euro umschreiben und alle Zinsen eintragen lassen habe, habe ich die Reparaturen fürs Mayhemmobil wieder drin und außerdem 600 Euro mehr als eigentlich gedacht, was bedeutet, dass die Welt zumindest auf finanzieller Ebene nicht mehr ganz so akut untergeht.

Den Rest versuche ich zu ignorieren, an die Wand zu werfen, irgendsowas.
Fordere mein Recht ein, glücklich zu sein.
Auch, wenn der Mensch, der so irgendwie an meiner Seite ist, auf einmal ins komplette Gegenteil umschlägt, jetzt, wo ich mich daran gewöhnt habe.
Und mich einengen will, und einfangen, jetzt, wo ich Mr. Gaunt nicht mehr aus meinem Kopf kriege.
Und ich zu feige bin, es einfach zu lassen und ihn in den Wind zu schießen, weil er eben doch irgendwas bedeutet.

Vermutlich bin ich die größte Spinnerin von allen.




Samstag, 29. Dezember 2012
Thema: monolog
Absteige, wie habe ich dich vermisst.
Mit meinem Einlassbändchen kaufe ich mir ein Stück Selbstsicherheit für den Abend, so viel, dass ich alle Versuche des Fremden, Blickkontakt aufzunehmen, ignoriere, seinen Versuch, mich zu umarmen, abwehre, sein leicht angetrunkenes "Hey, lange nicht mehr gesehen, erstmal frohe Weihnachten!" eiskalt ignoriere und ihn frage, ob er den Raucher schon irgendwo gesichtet hat.
"Der ist gerade backstage, glaube ich..." Er irgendwas zwischen verdutzt und verletzt und gerade tut mir das nur ein bisschen weh,

so, wie es auch nur ein bisschen weh tut, als er vor der Bühne mosht, als gäbe es kein morgen mehr, während sie daneben steht und ihren Blick erst vom Smartphonedisplay hebt, als die nächste Band die Bühne betritt und die Sängerin ganz furchtbar schlecht Katy Perry covert.
Wenn ihm das lieber ist, denke ich mir, bin erstaunt darüber, dass es keine Herzexplosion auslöst und mache mich auf den Weg in die Bar, um mich zu feiern, wobei mir auf halber Strecke einfällt, dass ich Bier nicht mehr so gerne trinke, Wein irgendwie technisch unpraktisch ist, Cola mich wieder so furchtbar müde macht und Wasser gerade zu fade schmeckt.
Mein Problem löst sich sehr schnell, als mich der Mischpultmann erkennt und mir Malibu-Spirte ausgeben will.
"Hammwa nich", spuckt die Thekenfrau aus spitzen Lippen in unsere Richtung.
-"Malibu Kirsch?", fragt der Mischpultmann, der die relativ eingeschränkte Auswahl an Getränken, die ich als "getestet und für sicher befunden" einstufe, auswendig kann.
"Hammwa auch nich mehr."
-"Touchdown?" Zunehmende Frustration seinerseits, weil seine Chancen, mich abzufüllen, immer weiter sinken, und zunehmende Aggression meinerseits, weil mich immer noch niemand gefragt hat, ob ich überhaupt was spendiert haben will.
"Neee du."
-"Sag mal Jeanette, willst du mich verarschen?"
Die Thekenjeanette lacht.
"Cuba Libre, bitte?", erkundige ich mich.
"Kommt sofort", grinst sie.

Mit meinem Einlassbändchen habe ich mir ein Stück Melancholie gekauft, drei Bands spielen heute , teilweise in Urbesetzung, zum letzten Mal und geben dem Abend damit einen erinnerungsüberladenen Verlustanstrich, den auch das eigentliche Programm, das unter dem Motto "cover your favorite Band" steht, nicht so recht ausgleichen kann.
Bandtod bleibt Bandtod, auch, wenn ihr letztes Lied "Barbie Girl" heißt.
Und neben Bier, langen Haaren und zwischendurch auch Unterwäsche fliegen vor allem Erinnerungsfetzen durch die Luft, denn da wird nicht nur Barbie Girl gequietscht, sondern auch Auf gute Freunde gegröhlt, zwischendurch steht die alte Sache höchstpersönlich auf der Bühne und der Raucher hinter mir startet einen unsicheren Versuch, seine Arme um mich zu legen, den er aber wieder abbricht, als er merkt, dass Umarmungen gerade nicht gesund sind.
Kurzes Handdrücken ist aber nicht nur ok, sondern fühlt sich richtig an, und ich sage mir, dass ich rücksichtslos und übertrieben kompliziert, und ihm, dass ich bekloppt und viel zu seltsam bin, und er sagt, das passt schon so.

Mit meinem Einlassbändchen habe ich mir auch ein Stück Gelassenheit gekauft, und so lasse ich die ungläubig-herablassenden Blicke, die folgen, als ich auf ein bewusst provozierenwollendes "Also MICH an deiner Stelle würde es stören, wenn der Raucher so intensiv mit anderen Frauen flirtet" ganz neutral und sachlich "Wir sind nicht im klassischen Sinn zusammen" erwidere, völlig gleichgültig an mir abprallen.
Mein Glas ist erst halb leer, das Leben nicht schön, aber stabil neutral, es reicht, um anderen nicht den Abend zu versauen.
Die Feindin ist keine richtige Freundin mehr, aber man mag sich eben aus Höflichkeit, also begrüße ich sie und ihren Freund, bin dann aber doch wieder bei ihr und der Nachbarin, manchmal reicht es auch, um sich alleine vor die Bühne zu stellen, wenn die Musik gut ist, und wenn er nicht gerade spielt, bin ich beim Raucher und werde einer derart riesigen Menge fremder Menschen vorgestellt, dass mir der Kopf schwirrt vor lauter neuen Namen.

Und dann ist Mr. Gaunt neben mir.
Mein Glas wurde inzwischen von der Feindin geleert und der Raucher hilft gerade der Thekenjeanette, den nicht enden wollenden Ansturm minderjähriger Falschausweisbesitzer irgendwie unter Kontrolle zu bekommen, während ich mich eigentlich nur hier vorne geparkt habe, um bei Bedarf schnell wiedergefunden zu werden (bei den von mir bevorzugten Musikrichtungen ist die Frauenquote unter den Fans erfahrungsgemäß zumindest in unserer Gegend ziemlich niedrig) und mich wesentlich lieber in einer Ecke verkrochen hätte, zu viele fremde Menschen, beginnende Unsicherheit trotz Absteigenkonzert.
Aber das ist jetzt egal, überhaupt ist gerade relativ viel egal, sogar der Bekloppte mit der Theo-Waigel-Gedächtnisaugenbraue, der seine fettigen Haare beständig in unrhythmischen Dauerpropellerschleudergängen gegen mich flatscht, ist jetzt egal, und die doof guckenden Fangirlies, die abgefüllt auf ihren Hockern hocken, sind es erst recht.
"Hey mayhem."
"Hey Mr. Gaunt."
"Wär ich nicht so betrunken, ich würde sofort wieder mit dir Walzer tanzen."
"Aber die covern gerade Cannibal Corpse."
"Eben deshalb ja."
Dann wird er vom Mischpultmann um die viel zu dünne Taille gepackt und Richtung Backstagebereich geschleift, anscheinend muss er als nächstes spielen.
Aber er grinst mich an, nicht komatös-alkoholisiert, sondern ehrlich, und hält Blickkontakt, bis er hinter dem eingesifften, ehemals dunkelblauen Vorhang verschwindet und mich nicht nur geflasht oder aus den Socken gepustet, sondern total umgeschmissen und konzeptlos zurücklässt.
Hach.

Nach ein paar vergeblichen Versuchen, mich innerlich wieder zu sortieren, spricht sie mich nicht direkt auf mein bis jetzt noch dezentes grenzdebiles Grinsen, aber auf Mr. Gaunt an. Ob ich ihn denn mögen würde. Und so.
"Das kann ich jetzt noch nicht sagen, glaube ich.." ...vor allem, weil deine Schwester die Löwin alias seine Exfreundin ist und gerade aussieht, als würde sie den richtigen Moment abwarten, um mich anzufallen und zu zerfleischen.
-"Ihr würdet aber schon gut zusammenpassen", findet sie.
"Ja, weil ihr beide total übersensible Heulsusen seid", mischt sich die Löwin ein und ihr Lachen klingt etwas zu brutal, um das Ganze komplett wie einen Witz erscheinen zu lassen.
"Woher kennst du denn Mr.Gaunt?", frage ich ganz unschuldig.
"Ich war mal mit dem zusammen, hab dann aber was besseres gefunden", antwortet sie knapp und fügt noch ein "war ja auch nicht weiter schwierig" hinzu.
-" Jetzt sei doch nicht so, jeder Mensch trägt etwas Gutes in sich". Sie, die ewig-naive Optimistin.
"Das einzig Gute in dem Kerl ist der Alkohol, den er reinkippt", knurrt die Löwin und zieht ab, um sich eine neue Flasche Bier zu holen.
"Lass dich nicht verunsichern", flüstert mir ihre Schwester aufmunternd zu, " sie will dich nur anfangs von ihm abbringen, weil es ihr Exfreund ist und er Schluss gemacht hat. Verletzter Stolz. Das ist aber nicht weiter dramatisch und geht vorbei".
Den Versuch, ihr zu erklären, ich brächte Mr. Gaunt absolutes Desinteresse entgegen, ersticke ich selbst im Keim, als mein Puls bei ihrem Hinweis, er habe gerade die Bühne betreten, innerhalb einer Millisekunde die magischen 180 passiert und meine Herzfrequenz in den Bereich "Jenseits von Gut und Böse" schießt.
Nicht mal schlecht als Musikbegeisterung getarnte Emotionseskalation, und als er fertig gespielt hat, geht er nicht zurück zum Gratisbier, sondern erst zu mir, und mein inzwischen vermutlich absolut beklopptes Grinsen wäre mir sowas von peinlich, wenn seines nicht genauso doof wäre.
"Hey mayhem."
"Hey Mr. Gaunt. Lange nicht mehr gesehen."
"Kommt mir vor wie Jahre."
"Zum Glück haben wir uns überhaupt noch erkannt."
"Das müssen wir auf jeden Fall feiern. Ich geh jetzt eine rauchen und danach lade ich dich auf ein Glas Wein ein."
Und er lächelt. Mich an. Auf diese Art und Weise.
Von irgendwoher kommt ein ganz winzigkleiner Schmetterling und flattert so in mir rum, endorphinverteilend, leicht desorientiert, aber unter Garantie grenzdebil grinsend.

Aus der kurzen Kippenpause wird eine halbe Stunde, in der meine Euphorie von der Verunsicherung zunächst angenagt, dann aber schließlich ganz aufgefressen wird.
Irgendwann denke ich mir aber, reiß dich zusammen, rutsche von meinem Barhocker, schreite zur Tat und in Richtung Ausgang und sage mir, zur Not könne ich immer noch behaupten, ich wäre auf der Suche nach Faust.

Draußen finde ich nicht Faust, aber dafür Mr.Gaunt.
In der einen Hand hält er tatsächlich eine Zigarette, in der anderen eine Flasche mit klarem, vermutlich hochprozentigen Inhalt, und an ihm dran klebt die Löwin, wahlweise wimpernklimpernd, haarsträhnendrehend, schmollmundziehend oder ihn zum Weitertrinken motivierend.
Ich verzichte darauf, zu ihm zu gehen und irgendwas zu sagen, stattdessen suche ich die Feindin alias meine Fahrgemeinschaft.
Irgendjemand hat den Schmetterling erschlagen, und das nicht etwa mit einer Fliegenklatsche oder einem Schuh, sondern mit sämtlichen Brockhausbänden auf einmal.

An dieser Stelle nochmals ein gepflegtes "Ach scheiße!".




Montag, 12. November 2012
Thema: monolog
Und dann kommt der Raucher zurück und hat Esmeralda im Schlepptau, die sich sogar die Mühe macht, ihre Schuhe auf der Fußmatte abzustellen und mich grüßt, und hinter ihr folgt Mr. Gaunt, der sich ducken muss, um nicht mit dem Kopf am Tührrahmen anzustoßen, seine Flasche Schnaps nicht selbst leert, sondern originalverschlossen dem inzwischen nur noch dümmlich grinsenden Raucherbruder in die Hand drückt und sich anschließend neben dem Mischpultmann, der sich förmlich auf den Sitzplatz an meiner Seite geworfen hatte und auf dessen Schoß noch immer der kichernde Musiker sitzt, aufs Sofa fallen lässt.
Feststellung des Abends: Mr. Gaunt ist potenzieller Auslöser des Machete-Syndroms. Eigentlich ist der Gute ein Stückchen zu alt, optisch nicht gerade das, was die meisten Leute als "ansprechend" bezeichnen würden und zudem mit diversen obskuren Tätowierungen verziert,aber aufgrund nicht näher nachvollziehbarer Umstände augenscheinlich die Inkarnation aller Begierden.
Ganz so schlimm ist es bei mir dann doch noch nicht, allerdings gehöre ich auch zu den geschätzt fünf Prozent der weiblichen Kleinstadtbewohner unter 60, die beim Anblick des oberkörperfreien und arbeitsverschwitzten Rauchers nicht sofort jegliches rationales Denken abschalten.

"Mädels, das is mein Platz. Aufstehn!" Eigentlich will sich der Raucher seinen Platz neben mir zurückerobern,aber der Mischpultmann macht keine Anstalten, sich und den mittlerweile mal wieder von der angeblichen Schönheit der französischen Sprache schwärmenden Musiker auf einen der unbequemen Klappstühle zu befördern. So einen könne sich doch der Raucher nehmen , meint der Mischpultmann, und vermutet ganz selbstbewusst, ich hätte bestimmt keine Probleme damit, neben ihm zu sitzen und den restlichen Abend lang sein blödes Gerede zu ertragen.
"Doch." Das allgemeine Verlorensein und die Aggression, die der Mischpultmann auslöst, sorgen für eine relativ klare Ansage.
Legolas und Esmeralda grinsen, die Raucherschwester macht sich ein weiteres Bier auf und gibt mir ein Daumen hoch, der Vater aller KBMs und seine Klone schütteln den Kopf und beginnen mutmaßlich, über mich zu lästern.
Aber da ist wieder ein bisschen Selbstsicherheit, immerhin, und als der Raucher einen weiteren Stuhl holen will, ihn vor lauter Rückenschmerzen aber beinahe sofort wieder fallen lässt, stehe ich auf und helfe ihm, und weil ich eigentlich sowieso nur meine Ruhe haben will, nehme ich mir auch einen und wir tun das, was wir am Besten können: Uns in eine Ecke setzen und Gitarre spielen. Eigentlich hört sich das, was ich auf Keyboards und Klavieren produziere, besser an als spontane Gitarrenvergewaltigung am frühen Morgen, aber das Saiteninstrument erschien mir eindeutig transportfähiger und zumindest ein bisschen resistenter gegen eventuelle Bierfontänen.
Und wir sitzen da und spielen, die meisten Paare bleiben verschwunden und auch der Raucherbruder kommt nicht wieder, dafür kehrt ein wenig Sicherheitsgefühl zu mir zurück; die Angst wird langsam weniger und ich fühle mich nicht mehr ganz so verloren. Die Welt kommt wieder ein bisschen ins Gleichgewicht, und irgendwann ist da Mr.Gaunt, der kurzerhand den Bass des Pinguins, der direkt von einem Auftritt hergefahren war, an sich genommen hat und einfach so mitspielt, und es funktioniert, ohne jegliche Verständigung und ohne, dass er einmal den Blick vom Boden hebt, um zu sehen, was er spielt oder was wir spielen.
Wir sind irgendwo zwischen Nirvana, Bob Dylan und konzerntrierter Melancholie mit Tendenz zu Letzerem, die sich noch verstärkt und ins Verzweifelte übergeht, als am Schluss nur noch Mr.Gaunt und ich das Outro spielen.

Dann Stille, wir schauen uns an und wissen nicht, was jetzt, denn eigentlich ist alles gesagt, und so viel mehr, als man mit Worten hätte ausdrücken können...
Von Mr.Gaunts Coolness ist nichts mehr übrig, als er den Bass zur Seite stellt, aufsteht und seine Jacke holt.
Im Türrahmen bleibt er stehen, ich spüre seinen Blick, obwohl ich gerade mit dem Rücken zu ihm knie und meine Gitarre einpacke.
"Ich hab nichts dagegen, wenn wir das mal wiederholen, mayhem."
Innerlich irgendwas, das sich verdächtig wie völlig sinnfreie Schwärmerei anfühlt , und ich kann mir gerade noch das verblödete Grinsen verkneifen und ein halbwegs neutrales "Klar, gerne" rausquetschen, bevor ich mein Instrument auf der Rücksitzbank des Mayhemmobils querlege, vor lauter Seligkeit fast vergesse, wieder abzuschließen, beim Weg zurück ins Haus beinahe über den Raucherhund stolpere und seinen Besitzer so lange dämlich angrinse, bis dieser mich auf den Boden der Tatsachen zurückholt, indem er mich fragt, wann diese Wiederholung denn stattfinden würde.
"Keine Ahnung....ich denke mal, ich werd ihn schon mal wieder sehen, wenn nicht gibts ja auch noch das soziale Netzwerk meines Misstrauens, und für absolute Notfälle das Fratzenbuch."
-"Damit kommst du aber nicht weit, der is nicht im sozialen Netzwerk, und beim Fratzenbuch erst recht nicht. Haste nich nach seiner Nummer gefragt?"
"Nee, hab ich mich nicht getraut."
-"Wie sagste immer: Das is jetzt natürlich unpraktisch".
"Vermutlich hast du Recht."

Und da sitze ich, umzingelt von den übrig gebliebenen KBMs, dem Musiker, der nur noch manisch lacht und jeden umarmen will, und dem Mischpultmann, der mir erklärt, was für ein schlechter Mensch Mr. Gaunt doch ist, und komme mir wieder so verloren vor. Und doof. Und etwas naiv. Und wieder, so furchtbar verloren.
Ich weiß nicht, ob sie es sind, die normal sind, oder ob ich es bin. Oder ob es die da draußen sind, mit denen ich nur noch in Zweckgemeinschaften zu tun habe, weil ich mit ihnen noch weniger gemeinsam habe als mit denen, die mir am Wochenende begegnen.
Und wieso es immer die gescheiterten Existenzen sind, die mich anziehen und die sich um mich sammeln.
Ob meine Existenz nicht noch viel mehr gescheitert ist als ihre.
Oder ich mich nur reinsteigere.

Und es bleibt die Frage nach dem warum, und die Feststellung, dass doch eigentlich alles ganz anders sein sollte.




Thema: monolog
Aber das Ding überlebt.
Und ich schlage mich nichtmal schlecht, so zwischen KBMs und der Sadistin, die meine Witze über die Reitpeitsche, die im Wohnzimmer des Rauchers an der Wand hängt, weil seine pferdesportbegeisterte Schwester sie bei ihrem Auszug vergessen hat, und ihre möglichen Verwendungszwecke ernst nimmt, allerdings mich für eine Lachnummer hält, weil ich ihrer Meinung nach zu "lasch" mit dem Raucher und der Peitsche umgehe, und die, wie die KBMs, der Meinung ist, dass alle Ausländer vertrieben oder "entsorgt" werden sollten, obwohl sie selbst Tschechin ist.
Neben mir die alte Sache plus Freundin, beide anfangs gesprächig wie immer, aber dann startet er tatsächlich einen ungelenken Unterhaltungsversuch, weil sich der Verband, mit dem man nach der Blutspende die Sauerstoffversorgung meines Unterarmes gefühlt komplett zum Erliegen gebracht hat, noch an meine Arm befindet, und wir schaffen es tatsächlich, zu reden, übers Blutspenden, und er erzählt,dass sie ihm beim letzten Mal einen Nerv durchgepiekst haben und das irgendwie unpraktisch ist, und ich sage, solche Idioten, und freue mich innerlich ein bisschen, weil er mit mir redet und ich, ewige Idiotin, natürlich wieder mal denke, hey, unsere Freundschaft ist vielleicht gar nicht völlig verloren.
Und der Rest schüttelt sich beim Gedanken daran, dass wir beide uns freiwillig Blut abzapfen lassen, aber als ich die Flasche Apfel-Blaubeerwein, die ich dafür als Gratisgeschenk bekommen habe, aus der Tasche ziehe, legt sich die allgemeine Abneigung etwas und der Wein ist leer, bevor ich auch nur einen Schluck probieren konnte.
Also der Griff zum Wasser, erneut Schock, Unverständnis und Abneigung in den Gesichtern der KBMs und der Sadistin, die mein ketzerisches Handeln kommentarlos beobachten und nicht gerade zu meinem Wohlbefinden beitragen,sodass es mir irgendwann zwischen Trinkspielrunde vier und sieben erwartungsgemäß zu viel wird und ich flüchte mich unter dem maroden Balkon auf die Terasse setze und ein paar Schritte in mich gehe. Einfach weiteratmen, dann wird das schon wieder.
Es wird nicht wieder, auch nicht, nachdem ich bis 350 gezählt habe, und auf einmal sitzt da Legolas im zweiten Klappstuhl und starrt mich wortlos an.
Dann: "Ich habe mir gedacht, ich frage dich lieber, ob alles in Ordnung bei dir ist, so, wie die da drinnen qualmen, kann einem sehr schnell schlecht werden, wenn man nicht daran gewöhnt ist."
-"Danke, aber mir gehts gut. Ich hab nur bisschen Luft gebraucht."
"Gedanken sortieren?"
-"Teilweise."
"Dachte ich mir; deshalb habe ich auch gewartet und dich nicht unterbrochen."
Schweigen, bis der KBM durch die Terassentür ein Stück Baguette nach uns wirft.
"Idiot", grummelt Legolas, hebt das Brot auf und starrt den KBM mit einem Blick an, der Grillkäse frittieren könnte.
-"Sei froh,dass er nicht mit einer vollen Schüssel nach uns geworfen hat..." Dem KBM ist alles zuzutrauen, und Chili con Carne hat zwar keine sehr ausgedehnte Flugbahn, dafür aber umso verheerendere Auswirkungen beim Zusammentreffen mit den meisten Kleidungsstoffen. Außer vielleicht Plastikplane.
-"Man wirft auch nicht mit Brot. Vor allem war das fast ein ganzes Baguette, und die Vegetarier haben sonst nichts zu essen außer Knabberzeug, weil mal wieder niemand daran gedacht hat, dass es auch Menschen gibt, die kein Fleisch essen..."
"Ich glaube, ich bin heute die Einzige. Und ein Viertel Baguette wird wohl reichen, nach der Blutspende bin ich sowieso immer total müde und hab keinen Hunger, trotzdem musste ich mir dort schon Essen reinzwingen."
-"Es geht ums Prinzip, sowas regt mich auf.Hauptsache, vier Kästen Bier, drei Flaschen Met, Captain und Wodka gebunkert, viel zu viel Essen da, und das nur mit Fleisch, und dann noch mit Brot werfen. Das übrige Chili wird morgen wahrscheinlich auch in der Biotonne landen...ich war ein Jahr in Indien, seitdem stören mich solche Dinge noch viel mehr.
Mr. Gaunt ist übrigens auch Vegetarier, soweit ich weiß."
Lange Haare: Check, Gitarrist: Check, erträgliche bis sehr gute Ausdrucksweise: Check, Nichtraucher: vermutlich ja, und die Sperrklausel: trinkt nicht zu viel: vorsichtiges Check, angetrunken ist er zwar, aber nicht total weg, und inzwischen ist er zu Wasser und Cola übergegangen.
"Wie heißt du doch gleich? mayhem, oder?"
-"Ja. Dass du Legolas bist, ist ja allgemein bekannt.."
" Richtig, der unendliche Ruhm meiner Band eilt mir voraus." Tatsächlich wechselt sein Standardgesichtsaudruck fast ins freundliche, für eine Sekunde.
Dann geht er wieder dazu über, grimmig-böse zu schauen und nach einer Schweigephase erhebt er sich und hält mir die Tür auf, weil ich mich seiner Meinung nach ganz furchtbar erkälten würde, wenn wir nicht bald wieder in die viel zu warme und verqualmte Wohnung zurückkehren würden.

Drinnen ist inzwischen noch weniger Platz, weil der Mischpultmann, der Schlagzeuger, der Musiker und der Pinguin vorbeigekommen sind, alles ist noch verrauchter, die Musik noch schlechter und der allgemeine Alkoholisierungsgrad erreicht zusammen mit meinem Fluchtreflex ungeahnte Ausmaße.
Als diverse Paare wahlweise verschwinden oder sich mit Kuschelbedürfnis aufeinanderstapeln und sich auch der Musiker kurzerhand auf den Schoß des Mischpultmannes wirft und dabei quietscht "Ich bin deine Prinzessin!", entsteht eine Lücke auf dem Sofa, die groß genug für mich und die Raucherschwester ist, die netterweise eine Unterhaltung mit mir beginnt, sich nicht von meinen in dem Moment nicht vorhandenen Gesprächsfähigkeiten abschrecken lässt, im Laufe des Abends als mein Rettungsanker entpuppt und mit 23 von Tablettenabhängigkeit, einem Trinkverhalten, das beinahe an das grenzt, das der Raucher früher an den Tag gelegt hat, diversen Schlägereien, einer Arbeit in der Superklinik, einem Aufenthalt in der Gruselklinik bis hin zum erfolgreichen Loswerden eines gewalttätigen Exfreundes mit stalkerhaften Neigungen bereits diverse große und kleine Weltuntergänge überstanden und dabei nicht größere Macken als ich davongetragen hat.

Ihr Trinkverhalten ist vermutlich trotzdem nicht ganz im normalen Bereich, aber an diesem Abend ist das eher die Regel als die Ausnahme, und sogar die alte Sache ist angeheitert und lässt mich alleine, während der Raucher eine Kippe nach der anderen raucht, dazu aber immerhin den Raum verlässt.
Als ob das bei den Nebelschwaden noch etwas bringen würde.
Fühle mich nicht nur alleine, sondern beinahe ausgesetzt, während die KBMs und die Sadistin verkünden, die "Zecken" sollten auch "alle vergast" werden, ebenso wie "andere Schwächlinge" und die Blicke dabei mehr als einmal in meine Richtung wandern, Legolas stimmt ihnen zu, setzt Ausländer auf die imaginäre Liste und ist somit für mich gestorben; dann wandelt es sich zum großen, bodenlosen Angstgefühl, zu dem es immer wird, wenn alles viel zu viel und Flucht nach Hause der einzige Ausweg ist, aber ich kann nicht einfach wegfahren, schließlich ist es die Geburtstagsfeier des Raucherbruders und davon abgesehen muss ich in ein paar Stunden sowieso seriös sein.
Also falle ich tiefer in den Endlosschacht Angstzustand.




Thema: monolog
Aber immerhin, noch lebe ich.
Und ich fahre endlos weit, nachts, durch Regen, auf der Autobahn, weil der Raucher sich so kaputt gemacht hat, dass er krankgeschrieben ist und nur noch Beifahrer sein darf, um anschließend nicht beim eigentlichen Ziel, sondern auf einem lokalen Metalfestival und vor einer Doom-Band zu landen, weil sein Handy uns in den falschen Gebäudekomplex gejagt hat und wir nach dem blauäugigen Erwerb einer Karte nicht mehr genug Geld und außerdem keine Ahnung haben, wo sich das eigentliche Ziel befindet.
Er verspricht mir, dass wir es noch schaffen, irgendwann, aber die Tourdaten sprechen eine andere Sprache, die letzte Chance ein Termin im Wahlexil, logischerweise folgt als erste Amtshandlung nach Erreichen des Mayhemmobils, das treu und brav auf dem "Kein Parkplatz!"-Parkplatz gewartet hat, gleich anspringt und mich mit einer tatsächlich warm werdenden Heizung überrascht, das Abschicken einer viel zu schnell getippten und vermutlich fehlerüberladenen sms dorthin, auch, wenn mein Klausurenplan mir das Verlassen des Hauses zu anderen Zwecken als dem Punktesammeln fürs Abi eigentlich strikt untersagt hat.

Notgedrungen fahre wieder ich zurück gen Kleinstadt, ein gutes Stück schneller als Richtgeschwindigkeit, aber das Mayhemmobil und ich, wir wissen,was wir tun und wenn es warmgefahren ist, lässt es mich nicht im Stich, deshalb überholen wir Audis und sogar einen BMW, damit wirnoch auf den letzten Drücker eine Flasche Wodka kaufen können, die, zusammen mit einer Tüte Gummibärchen, mein Geburtstagsgeschenk für den Raucherbruder wird,denn er hatte ausdrücklich "Getränke statt Geschenke" gefordert und bereits vier Kästen Bier eingekauft.
Eigentlich ist mir nicht nach Feiern, zum aktuell sowieso sehr präsenten Seelenschmerz gesellt sich noch der Frust über die navigationsbedingte Pleite in der Stadt und die Tatsache, dass ich auf der Geburtstagsfeier von zu vielen fremden Menschen mit zu brutalem Musikgeschmack und zu intolerant eingefärbter Einstellung umgeben sein werde und formt zusammen mit dem Rest einen riesigen Meteoriten, der sich mit viel Schwung und Elan auf mein sowieso schon ziemlich angekratztes (oder eher angematschtes) Herz wirft und es unter sich begräbt.
How wonderful.

(2/5)




Thema: monolog
Aber es ist eben so, wie es ist.
Und wer entscheidet schon, was richtig ist oder falsch, vielleicht muss es ja so sein.
Mal wieder auf der Suche nach einem höheren Sinn in der ganzen Scheiße.

Die Raucherschwester sagt, das ist der falsche Ansatz.
Man mache sich nur unglücklich mit der Sinnsucherei.
Aufs Überleben konzentrieren, fertig, und wenns Scheiße läuft, muss man sich einen Weg da raus kämpfen.
Ich sage ihr, irgendwann, da kann man nicht mehr kämpfen; da bringt es nichts mehr und tut nur noch weh, da bleibt nichts mehr außer einfach weiteratmen, warten, dass es vorbeigeht und versuchen, nicht verloren zu gehen.
Und sie sagt, dass sie mir alles Gute wünscht; dass es irgendwann wieder zum kämpfen reicht, und dass es für mich wieder bergauf geht,auch, wenn sie nicht weiß, welche Probleme ich habe.
Sagt, ich hätte das verdient. Ein besseres Leben, all das.


Kaputte Menschen finden sich immer, auch,wenn sie sich durch die Qualmwolken eventuell nicht sofort sehen, und bevor sie von ihrem aktuellen Freund abgeholt wird, nimmt mich die Raucherschwester nochmal in den Arm, wünscht mir nochmal alles Gute, bis wir uns wieder sehen, und sagt, sie ist froh, dass ich damals nach der Bitchparty ins Wohnzimmer ihres Bruders abgeschoben worden bin.
"Sonst wärt ihr nie zusammen gekommen und wir hätten uns nie kennengelernt, und das wär total schade gewesen. Und wenn du irgendwann drüber reden willst, was bei dir los ist, kannst dus jederzeit, ich glaube nämlich, du hast auch schon einiges mitgemacht."
Sie hat das Talent ihres Bruders, manchmal ein bisschen unter die Oberfläche schauen zu können, anscheinend doch geerbt, und erst fünf Minuten später fällt mir ein, dass ich vergessen habe, ihr zu erklären, dass ich nicht mit ihm zusammen bin.


(5/5- Der Versuch, einen Mammuteintrag in mehrere,lesbare Teile zu zerlegen...)