Thema: monolog
"Hast du am Freitag schon was vor?"
-"Da bin ich auf Beerdigung".

Geburtstag.
Gefühlswelt und reales Handeln können so erschreckend weit auseinander gehen.
Während ich nämlich gefühlt mein Herz gesprengt und mich in Stücke gerissen habe und so leise vor mich hin verblute, sitze ich mit der Vatersfreundin im Pflegeheim, während mein Vater auf Reha ist und nicht vorbeikommen konnte, und wir warten.
Man bringt uns ungefragt Kaffee, der so schmeckt, wie abgestandenes Abwasser riecht.
Wir warten.
Eine alte Frau schiebt sich und ihr Gehwägelchen immer wieder an uns vorbei, Gang rauf, Gang runter, und singt gefühlt alles, was das Kirchengesangbuch hergibt.
Wir warten.
Heute werde ich mit dem Raucher Schluss machen. Sollte ich das hier überleben, ohne endgültig den Verstand zu verlieren.
Wir warten.
Es bringt mich jetzt schon um. Aber was tut das im Moment nicht.
Wir warten.
Der vom Heim ohne Zustimmung irgendeiner zuständigen Person bestellte Akkordeonvergewaltiger kommt, stürzt sich auf die Vatersfreundin und würdigt mich keines Blickes.
"Ja, so ein Tag, das ist immer was ganz besonderes für die Alten, da blühen sie richtig auf und die ganze Familie hat mal wieder einen Lichtblick und kann den Tag genießen!"
Ich freue mich so sehr, ich könnte die Wände des Pflegeheims mit meinem Herzblut-Organ-Matsch streichen. Alle.
"Aber ich versteh das schon, wenn sie da zurückhaltend sind. Meine Mutter, ach, das ist ja auch so ein Fall.. sie werden halt verwirrt mit dem Alter."
Mein Großvater spricht nur noch, um aus seinem Bett heraus zu verkünden, dass er sterben will.Soviel dazu.
Aber sein System versteht er trotzdem noch.
Das System, hat Papa Mayhem erklärt, ist ein einfaches. Mein Großvater weiß, dass er etwas sagen muss, wenn sich jemand mit ihm unterhalten soll, aber er versteht nicht, was zu ihm gesagt wird, also spricht er einfach gar nicht.
Der Akkordeonvergewaltiger redet weiter, in einer Tour, und ich kann verstehen, wieso mein Großvater, seit er hier ist, nur noch davon redet, dass man ihn gefälligst endlich standesgemäß erschießen soll, schließlich sei er bis zum Schluss im Krieg gewesen, und bei den Russen, und danach bei den Franzosen.
Eine Pflegerin scheucht uns in den Speisesaal, in dem es, wie überall im ganzen Haus, nach abgepacktem, überkochtem Essen, altem Urin, alten Menschen und ein bisschen Desinfektionsmittel riecht, und nach Tod, wir werden an einem Tisch platziert, Opa Mayhem wird, mit Gehwägelchen, reingeschubst und verbringt seine Geburtstagsfeier damit, immer wieder den Kopf auf die Tischplatte sinken zu lassen, unaufhörlich mit den Zähnen zu mahlen und seinen Entschluss, sterben zu wollen, den niemand außer mir für mehr hält als ein verwirrtes Hirngespinst, zu festigen, je mehr "alte Klassiker" der Akkordeonvergewaltiger viel zu laut mit seinem Opfer durch den Raum schleudert. Als er zu uns kommt, versucht Opa Mayhem, zu schreien, aber seine Stimmbänder sind so schwach, dass nur die Vatersfreundin und ich sein wütend-verzeifeltes "Hör auf! Hör auf, geh weg!" hören. Es wiederholt sich noch zweimal, dann verzieht sich der Akkordeonvergewaltiger in eine andere Ecke und mein Großvater legt seinen Kopf wieder auf der Tischplatte ab.
Diverse Versuche der Vatersfreundin, ihn krampfhaft-gespielt-fröhlich aufzubauen, lässt er gekonnt an sich abprallen und so dämmern wir in unserem Weltschmerz vor uns hin, nur noch einmal unterbrochen, als er sich an einem Stückchen Kuchen, dass sie ihm aufzwingt, so sehr verschluckt, dass sein Gebiss herausfällt.
Aber hey, es ist doch ein "ganz besonderer Tag für die Alten. Da blühen sie immer richtig auf!"
Eine hummerrote Hand krallt sich in meine Schulter, als ich mich umdrehe, sehe ich einem anderen Tod ins Gesicht. Der hier wohnt in einer alten Frau, die sonst immer aus irgendwelchen Gründen beim Brötchenholen mit mir reden wollte. Ihr Tod scheint gerade ziemlich am Wüten zu sein, ihre Augen sind leicht gelblich und sehr glasig und verquollen, und ihr ganzes Gesicht ist so hummerrot wie ihre Hände, mit dunkelroten Flecken und an den Kopf geklebten, dünnen Haaren in dem gleichen Topfschnitt, den der "Friseur" hier wohl allen verpasst, obwohl Opa Mayhem aufs Heftigste protestiert hat, schließlich kämmt und pomadisiert er sich die Haare seit mindestens 73 Jahren auf die gleiche Art und Weise zurück, und das geht nunmal nicht mit Topfschnitt.
Die alte Frau redet auf mich ein, während ihr Tod mich auslacht, weil ich so erschrocken bin. Ich werde wieder die ganze Zeit mit dem Namen meiner Mutter angesprochen und sie scheint auch irgendwie mit einer Mischung aus uns beiden zu reden, bis sie von einer Pflegerin weiter geschoben und auf ihren Platz gesetzt wird, wo sie der Tischdeko erzählt, dass sie sich gerade so nett mit meiner Mutter unterhalten hat.
Opa Mayhem legt seinen Kopf auf die Tischplatte und mahlt mit den Zähnen.
88. Geburtstag. Steht auf der Kerze, mit Tippex über die vorherige Zahl geschmiert, den Aufwand einer eigenen Kerze für jeden Bewohner betreibt man nicht. Lohnt sich ja doch nicht.