Thema: monolog
Krankenhaus.

Als wir ins Krankenhaus reingehen, weiß ich, dass mein Großvater da nicht mehr bei Bewusstsein rauskommt.
Wir stehen dreieinhalb Ewigkeiten bei einer Aktenwälzerin, die nicht verstehen will, dass es zwar eine Vollmacht, aber keine Patientenverfügung gibt und Papa Mayhem deshalb nicht einfach beschließen kann, dass die piependen und blinkenden und gluckernden Geräte abgeschalten werden.
Nachdem sie uns unsere Standpauke gehalten hat von wegen, das hätten wir ja mal regeln können, kümmert sie sich um das, was sie eigentlich machen soll, nämlich die Nummer des Seelsorgers/Pfarrers raussuchen. Letzte Ölung.
Mein Großvater ist ein gläubiger Mensch und Papa Mayhem will, dass für den Notfall alles geplant ist.
Die Aktenwälzerin findet den gesuchten Flyer nicht, netterweise kommt aber das Mädchen, das eventuell meine Halbschwester ist, vorbei, findet das Gesuchte auf Anhieb und sieht mir mal wieder viel zu ähnlich. Wenigstens hat sie braune Augen und dunklere Haare (sind die gefärbt?).
Und ein Grinsen, das sogar mir Angst macht, weil es so aufgesetzt-künstlich und furchtbar kalt ist.
Aber vermutlich muss man sich das antrainieren, wenn man im Krankenhaus arbeitet.

Als wir uns Opa Mayhems Station nähern, vorbei an den Bereichen, die "es gibt noch Hoffnung" sagen, und an dem Getränkeautomat, an dem ich mir früher immer einen warmen Kakao mit extra Zucker geholt habe, wenn wieder irgendein inzwischen längst verstorbenes Familienmitglied hier war, ist da wieder der Krankenhausgeruch.
Wenn sie sagen "Ich hasse Krankenhausgeruch", verbinden das viele Leute mit Desinfektionsmittel.
Da, wo wir rumlaufen, ist es anders. Desinfektionsmittel riecht ein bisschen stechend, aber auf saubere Art und Weise, vielleicht auch ein bisschen nach Chlor.
Der Krankenhausgeruch, den ich meine, der eigentliche, ist fast der gleiche wie im Pflegeheim. Totgekochtes, breiiges Essen, menschliche Ausscheidungen, die nur durch Infusionsbeutel überhaupt zustande kommen konnten, seit Urzeiten nicht mehr gelüftete Zimmer, muffige Handtücher, sterbende Menschen, mit Glück noch ein Hauch Desinfektionsmittel.
Das ist für mich Krankenhausgeruch.
Und ich hasse ihn.

Opa Mayhems Zimmer ist nichtmal in einem Bereich, der sagt "das kriegen wir eventuell wieder hin", sondern ganz am Ende, da, wo sie die Leute zum Sterben hinbringen.
In seinem Zimmer liegt noch ein Araber, der ebenfalls nur ein Knochenhaufen ist, über den man ein bisschen Haut gespannt hat, und bei dem man nichtmal mehr Pupille, Netzhaut und Augapfel unterscheiden kann, so glasig und matschig sind seine Augen in seinem Gesicht, das sich verschoben hat und ganz krumm und schief ist, und mit dem er auf wundersame Art und Weise irgendwelche Laute zustande bringt, als ich den Raum betrete, die ich aber nicht verstehe.
Weil ich mich nicht traue, ihn zu fragen, was er gesagt hat, gehe ich ein Bett weiter.
Ein Mann, der nur mittelschwer verwirrt und nur ein bisschen tot wirkt, entweder haben sie sich vertan und ihn aus Versehen her gebracht, oder sie wollen, dass er bald stirbt. Als Patient hält man es hier nicht lange aus und wird irgendwann selbst so.
Manchmal auch als Pfleger oder Arzt.
Noch ein Bett weiter.
Kamera schwenkt auf Großvater, kurzzeitig Katastrophenzustand im Inneren der Enkelin, verzeifelte Versuche, irgendwie Kontakt zu seinem Vater aufzunehmen von Papa Mayhem.
Der Araber mit dem deformierten Gesicht versucht wieder, mit mir zu reden.
Ich bleibe auf meinem Stuhl sitzen, mit Sicherheitsabstand zu Allen, und schaue meinem Vater beim Verzweifeln und seinem Vater beim Sterben zu.
Weil er komplett dehydriert ist und irgendeine Entzündung hat, die laut Arzt wie eine Lungenentzündung aussieht, aber keine ist, rasselt er beim Atmen lauter als alles, was ich vorher aus menschlichen Atemwegen gehört habe, und seine Haut hat sich so weit zurückgezogen, dass er den Mund nicht mehr schließen kann, was das Rasseln und Gluckern nur noch verstärkt.
Seit er ins Pflegeheim gekommen ist, bin ich jedes Mal, wenn ich ihn gesehen habe, aufs Neue erschrocken, wie tot er im Vergleich zum letzten Mal aussieht.
Vermutlich hat es seinen Höhepunkt erreicht.
Papa Mayhem versucht weiter, mit ihm zu reden, streichelt sein Gesicht, hält seine Hand, wenn er im Schlaf hustet und Panik bekommt, und verlässt seinen Platz neben dem bett erst, als ein Krankenpfleger ihn darum bittet, weil der Mann, der viel zu lebendig ist, um hier zu sein, auf den Toilettenrollstuhl muss und das nicht machen will, wenn jemand da ist.
Also verabschieden wir uns, ich mich innerlich, Papa Mayhem mit Schulterdrücken, Hand halten, Worten und Zunicken, lassen uns auf dem Gang nochmal vom Arzt erzählen, dass mein Großvater ja eigentlich stabil sei, unpraktischerweise leider "stabil schlecht", aber immerhin, und auf dem Weg zum Auto kann ich mich die ganze Zeit nicht überwinden, meinen Vater zu umarmen, auch, wenn ich es gerne würde.
Damit er sich nicht so verloren fühlt. Einfach, damit jemand da ist.
Ich schaffe es nicht. Den Standardsatz sage ich, das, was man immer sagt, ich bin da, wenn du irgendwann reden möchtest, auch, wenn ich genau weiß, dass du das nicht mit mir tun wirst.
Damit hat es sich dann auch.
Und wir fahren wieder heim, und nach ein paar Tagen wird Opa Mayhem zurück ins Pflegeheim verlegt.
Zustand: Immer noch "stabil schlecht".