Sonntag, 15. Juli 2012
Morgens 4.30 Uhr, tiefstes Kleinstadtghetto, 13. Stock.
Ms Golightly und ich sitzen auf dem Balkon ihrer Freunde, die dort die lustigsten Sachen züchten.
"Alter...also echt. Alter. Ich weiß gerade nicht,was ich sagen soll.." Sie schüttelt den Kopf, "Nicht böse gemeint oder so, nur...krass."
"Passt schon, es kommt ja nicht jeden Tag einer her und sagt hey, mein Problem mit Betrunkenen kommt wie einige andere Dinge daher, dass meine Mutter Alkoholikerin war und dran gestorben ist, ich habe Angst davor,mit fremden Menschen zu reden,und vor Parties, und außerdem habe ich mich innerhalb von den 3 Sekunden, in denen ich ihm gegenüberstand und er mir zur Begrüßung die Hand gegeben hat, so dermaßen in den Fremden verknallt, dass das eigentlich schon weh tun müsste und irgendwie auch tut, wegen der Angst und der Unsicherheit."
-"Und du bist anscheinend bi, das hab ich mir aber schon gedacht, bevor du den Frontalangriff der Ghettoschwester nur so halb abgewehrt hast."
"Das vermutlich auch, aber sag das nicht zu laut, wenn sie in der Nähe ist... so, wie die sich den halben Abend an mich rangemacht hat. Sogar in der Ausstellung."
-"Ach, die meint das nicht ernst, die will nur spielen."
"Ich aber heute nicht."

Und diese drei Sekunden.
Ein Blick, ein Hallo, ein Händedruck. Adios Herz; scheint wieder auf Wanderung gehen zu wollen, zu jemandem, bei dem ich mir nicht sicher bin, ob es uns so gut bei ihm gehen wird.
Er ist nüchtern, seine Haare sind gekämmt, und er schaut freundlich.
Und spricht. Er kann sprechen.
Fragt Ms Golightly, ob wir heute zur Hausparty gehen, sie sieht mich fragend an.
"Ich kenne da aber keinen..." In meinem Kopf klingt das gerade so furchtbar dumm und kindisch.
"Wieso, du kennst Ms Golightly und mich. Achja, ich bin übrigens der Fremde". Er reicht mir seine Hand.
" Ich bin mayhem". Buchstäblich.
"Achso, dann bist du die, die Ms Golightly von der Vernissage erzählt hat?"
"Jawohl", antwortet Ms Golightly für mich, "Und die, die mit aufs Festival geht, zu dem du übrigens verdammt nochmal deinen hübschen Arsch bewegst!"
Tiefes Seufzen des Fremden." Ich habe dir doch gesagt, ich weiß nicht, ob ich frei bekomme, und bei euch soll ich mit, beim Raucher soll ich mit, überall soll ich mit.."
-"Machs dir einfach und fahr bei uns mit. Mayhem backt die besten Kekse der Welt, sie hat mir heute eine Dose voll zum Geburtstag geschenkt, alleine dafür würde ich schon mitfahren."
Eindeutig ein Argument.
"Hm." Mehr hört man nicht mehr von ihm, und in der Halle fängt die Zweitbürgermeisterin an, zu reden, also drängeln wir uns rein, zumindest versuchen wir es. Irgendwann stehen wir tatsächlich im Eingangsbereich, eingeklemmt zwischen Amtspersonen, und ich bin vielleicht 5cm vom Fremden entfernt.
Verdammt Herz, was soll das denn jetzt...
In mir Diskussionsrunde, der Verstand versucht, sachlich zu bleiben, aber die Gefühlsfraktion ist wieder mal unpassend emotional, und irgendwann haut das Herz so auf den Tisch, dass das Wasser aus den Gläsern seiner Sitznachbarn schwappt, feuert ein "Aber ich bin verliebt, verdammt nochmal!" in die Runde und stampft schnaufend vom Tisch weg, um anschließend in sich zusammen zu sacken und sich in einer dunklen Ecke zu verkriechen.
An seinem Hemd klebt ein einzelnes Katzenhaar.
Seine sind wieder kürzer geworden, also könnte es auch daher stammen, aber es ist weiß und sieht nicht nach dem eines Menschen aus.
Lautes Lachen. Die Rednerin verstummt, alles sieht in unsere Richtung. Die Ghettoschwester ist eingetroffen, man warnte mich vor, dass sie laut und outgoing ist und ihrem Namen alle Ehe macht, und nun hat sie wohl das Bedürfnis verspürt, diese Tatsache unter Beweis zu stellen.
Weiter im Programm, der Pantomime verknackst sich den Knöchel und somit spielt der Fremde früher als gedacht.
Bahnt sich seinen Weg durch die Masse, die Gitarre über sich gehoben, damit ihr nichts passiert, wir alle hinter ihm her, er setzt sich auf seinen Stuhl und spielt einfach, egal, ob die Leute ruhig sind und ihm zuhören oder nicht.
Und da sitzt er und spielt, und eigentlich hört ihm beinahe niemand wirklich zu, außer mir.
Und schaue ihn an und weiß nicht, ob ich mich freuen oder weinen soll.
Mich freuen, weil ich also eindeutig doch noch positive Gefühle empfinden kann, oder
weinen, weil es immer so kompliziert sein muss.
Dann eine Runde durch die Ausstellung, irgendwann gehen die Ghettoschwester und er, nur 4km entfernt ist ein Dorffest, das sie zusammen besuchen wollen.
Und sie wirken so vertraut und in meinem Hirn steht mit roten Buchstaben das, was ich gerne als Paranoia abtun würde.
"Sach mal Grinch, sind die zwei zusammen?"
-"Nee, er wollte mal was von ihr, aber angeblich hat sich das gelegt." Grinch zieht weiter an ihrer Zigarette, die sie von der Ghettoschwester geschnorrt hat, und beschränkt sich den restlichen Abend darauf, grinchig zu schauen.
"Angeblich" also.
Vielleicht habe ich Verlustangst.
Auch dann, wenn es um Menschen geht. Eigentlich beinahe nur,wenn es um Menschen geht.
Und anscheinend auch dann, wenn ich sie erst einen halben Abend kenne.
Ich könnte mir eine scheuern.
Mindestens eine.

Als wir die Wohnung, in der die angekündigte "Hausparty", der die Hälfte der Teilnehmer glücklicherweise abgesagt hat, stattfinden sollte, betreten, riecht es nach Alkohol, angebranntem Essen und Wasserrohrbruch. Auf einem Sofa liegt in Jogginghose und oberkörperfrei der Bierbauch, neben ihm seine Feundin, die Nervöse, die nicht einmal einen Monat älter ist als ich, aber aussieht wie 28.
Man begrüßt sich, uns werden Getränke und Kippen angeboten und ich begehe den fatalen Fehler, nach Wasser zu fragen.
"Wie, du trinkst keinen Alkohol?" Im Gesicht des Bierbauchs das blanke Entsetzen.
-"Doch, aber nicht immer und nicht viel, und ich hab auf der Vernissage schon meinen Wein und den der Nixe trinken müssen. Ich nehme auch Leitungswasser."
"Gott sei Dank. Wasser haben wir nicht da..." Kopfschüttelnd holt mir die Nervöse ein Glas Leitungswasser.
Da sitze ich also im tiefsten Ghetto, in eine Ecke der Couch gedrängt, weil der Bierbauch das halbe Sofa für sich beansprucht, alleine, weil Ms Golightly in der anderen Ecke sitzt, und entgegen aller Unsicherheit beschließe ich, das Richtige zu tun, hier zu bleiben, bis der Fremde und die Ghettoschwester auftauchen und in der Zwischenzeit zu versuchen,mich mit der Nervösen zu unterhalten und in meiner Seltsamkeit nicht weiter aufzufallen.
Tatsächlich klappt es auch, und ich schaffe es sogar, mir Hostel anzuschauen, obwohl ich an den schlimmen Stellen meinen Kopf auf meinen angezogenen Knien ablege oder mich hinter meinem Haar verstecke, und irgendwann um 2 steht auf einmal der Fremde mit der Ghettoschwester in der Tür, er kann noch geradeaus laufen, deutlich reden und trinkt die fünf Bier, die er mitgebracht hat, nicht selbst, sondern begnügt sich mit der nicht mehr halbvollen Weinflasche, die der Grinch für ihn hiergelassen hat.
Und wir reden, bruchstückhaft, weil die Ghettoschwester so laut und selbstbewusst ist und Ms Golightly auch, aber ich habe nicht mehr das Gefühl, völlig allein in meiner Seltsamkeit zu sein.
Seine Unsicherheitstarnungsmechanismen stehen meinen in Nichts nach; es gibt also noch mindestens einen weiteren Menschen, der sich in die zynische Pseudoarroganz flüchtet und genauso dumme Kommentare abgeben kann, wie ich es manchmal gerne tue.
Irgendwann wieder sinnentleerter Streit zwischen der Nervösen und dem Bierbauch, kollektives Augenverdrehen der Anderen.
"Ich bin single!" Bewusst übertriebene Siegerpose meinerseits. Der Fremde grinst, hebt ebenfalls die Arme. "Yes!"
Gut, hätten wir das auch geklärt.
Später nennt er mich Pippi Langstrumpf, weil ich mal wieder zwei verschiedenfarbige Socken trage, und noch später versuchen wir es nochmal wegen dem Festival.
Man sieht die Zahnräder arbeiten, er scheint wirklich hin- und hergerissen zu sein, und Ms Golightly versichert mir, er würde schon mitfahren.
Ihren Optimismus möchte ich haben.

Als die Ghettoschwester gehen will und sie sich verabschieden, winkt er mir tatsächlich nochmal zu und bittet darum, an das Festival erinnert zu werden.
Bevor er den Ausgang erreicht, übernimmt doch tatsächlich mein Gehirn kurzzeitig die Führung. "Ich meld mich dann auf irgendeinem Weg.." Und mit möglichst viel Sarkasmus, weil das sonst so doof klingt, aber nunmal die einzige Möglichkeit ist, weil mein Handy unauffindbar ist und ich mich sowieso nicht getraut hätte, nach seiner Nummer zu fragen, "Kann dich ja im sozialen Netzwerk meines Misstrauens suchen."
"Jo klar. Also Ciao, man sieht sich".
Scheiße, ich bin sowas von verliebt. Zu verliebt, um irgendwie damit umgehen zu können, ohne ernsthaft zu überlegen, nicht mit dem Zug zu fahren, sondern mich drunter zu legen.
"Ms Golightly, komm mal mit auf den Balkon, wir müssen reden."
Kichern der Nervösen, Grummeln von Ms Golightly.
"Bitte."
Alle Verzweiflung und Verwirrung des gesamten Abends liegt in diesem "Bitte", und sie erhebt sich tatsächlich und folgt mir auf den Balkon.