Sonntag, 29. Juli 2012


Vorbeirasende Menschenmengen, nach denen Berlins kommen mir unsere fast lächerlich vor; und alle sind sie da.
Die alte Sache, kein Wort der Begrüßung, seine Schwester, dito, der Student, der mich traurig anschaut, wenn er denkt, ich sähe es nicht, und neben mir auf einer Seite der Kumpel und Hasischatzi und auf der anderen Kriemhild und Freund.
Wir warten.
Wegen mir warten wir; weil der Fremde schrieb, gegen 21 Uhr wäre er da, und ich die anderen darum gebeten habe, die 5 Minuten noch hier zu bleiben.
Aus 5 Minuten wird eine halbe Stunde, irgendwann laufen wir weiter und ich fange an, nervös das Handy zu beobachten.
Noch ein "irgendwann" später taucht er auf, eineinhalb Stunden zu spät, im Schlepptau den Raucher und den Musiker, eine dreiviertels leere Flasche Wein und auf der Suche nach der Ghettoschwester.
Begrüßungsumarmung, nur die des Rauchers löst eine Abstoßreaktion aus, und ich frage mich, wie viel sie schon getrunken haben.

Es wird mehr im Laufe des Abends.
Wir gehen so zu zweit nebeinander übers Fest und die Schmetterlingsflugsaurier flattern so wild-durchgeknallt vor sich hin in meinem Bauch, dass ich mir nicht sicher bin, ob mir wegen meiner Erkältung schwindlig ist oder wegen ihnen.
Ich habe mich mit literweise Tee, gefühlt kiloweise Halsbonbons und einmal Erkältungsmedizin (angeboten bekommen von Hasischatzi) auf halbwegs normales Niveau gedopt, sieht man davon ab,dass meine Stimme wieder mal nach 30 Jahren Kettenrauchen klingt, aber egal, alles ist gut, wir laufen nebeneinander und reden, die Welt ist schön.
Wir reden über Pseudogangster, Selbstfindung und Stone Sour, über Katzen und Nichtrauchersein und Räucherstäbchen, und manchmal auch einfach nur totalen Schwachsinn, aber wir reden den selben Stuss, deshalb ist es lustig, und solange er da ist, holt er sich nur Wasser und das übrige Viertel Wein bleibt in der Flasche.
Dann ruft die Ghettoschwester an, und weg ist er. Will nur schnell sie und ihre Freundinnen von einem anderen Stand herholen, bis gleich. Und weg ist er.
Und bleibt weg.
Eine halbe Stunde.
Die Verunsicherung reibt sich die Hände.
Eine Stunde.
Ich bin nicht mehr nur leicht verunsichert und frage mich, wie das meine Nerven eigentlich aushalten.
Zwei Stunden.
Der Kumpel bietet mir wahlweise einen Schluck von seinem Bier oder Cuba Libre an; entscheide mich für mein Wasser und dafür, mich auf eine Unterhaltung mit dem Raucher einzulassen.

Der sitzt mir gegenüber und wird vom völlig betrunkenen Musiker zugelallt, während er gleichzeitig versucht,mit mir zu reden, ich habe es geschafft, eine Unterhaltung zu starten, und dann klettert er auf einmal über den Tisch auf den freien Platz neben mir, auf dem eigentlich der Fremde saß.
Der nicht mehr da ist.
Und der Raucher erzählt mir Familiengeschichten, über ein paar Ecken ist er anscheinend mit der Freundin der alten Sache verwandt, und irgendwann sucht er sein Handy raus und zeigt mir ganz stolz ein Foto von seinen zwei Katzen, wie das manche Mütter tun, die Babyfotos mit sich herumschleppen.
Die eine Katze ist weiß mit ein paar grauschwarz getigerten Flecken, die andere komplett schwarz, und sie sehen da beide sehr glücklich aus, wie sie sich auf einem dunkelrot bezogenenen Bett so breit wie nur irgendwie möglich ausstrecken und mit großen Kulleraugen in die Handykamera staunen.
Sie scheinen ihm sehr am Herzen zu liegen, die Katzen; seine Schwester hat sie bei ihrem Umzug mitgenommen und er sagt, wäre er nicht ultra-trver Black Metal-Fan und hätte somit ja eindeutig keine Gefühle, würde er sich jetzt deswegen an meiner Schulter ausflennen; aber vielleicht läge das auch einfach daran, dass er schon einiges intus habe.
Kann sein, vermute ich. Und mit Seitenblick zum Kumpel und dem Musiker, die zu schlechter Partymusik schunkeln und jubeln und gröhlen äußere ich den Verdacht, dass er da wohl nicht der Einzige ist.
Aber die Katzen. Er vermisst seine Katzen. Und er habe sich extra eine katzenfreundliche Wohnung gesucht damals, mit genug Platz und einem Balkon, den er mit Katzengitter abgesichert habe, und zum Rauchen sei er immer raus, damit die Katzen das nicht abbekämen.
"Das wär ja unter aller Sau, wenn ich meinen Katzen meine Qualmerei zumuten würde! Quasi Passivraucherkatzen. Nee, das geht mal garnicht." Er zieht entrüstet an seiner Zigarette.

Drei Stunden.
Die übliche Truppe geht, Kriemhild und Freund auch.
Hasischatzi und der Kumpel bieten mir an, bei ihnen zu übernachten, der Raucher bietet mir an, ebenfalls bei der Tante des Fremden zu schlafen, bei der sie sich einquartiert haben.
Der Kumpel bittet mich, kurz mitzukommen, Bierkrüge abgeben, und erklärt mir auf dem Weg halb lallend, dass ich auf keinen Fall mit zum Fremden dürfe, weil der bestimmt total besoffen sei, aber vor allem, weil der Raucher ganz eindeutig an mir interessiert sei und das falsch wäre, denn ich solle gefälligst mit dem Fremden zusammenkommen und glücklich werden, wir hätten vorhin so süß zusammen ausgesehen.
Der Fremde kommt sowieso nicht wieder, zischt die böse Stimme Unsicherheit, und ich denke mir so, der Raucher ist ja eigentlich ganz nett. Mag Katzen und Metal, ist zwar durch arbeitsbedingte Dauersonnenbestrahlung blond, aber das kann ich verschmerzen, und er hat Tätowierungen und ein Piercing.
Entscheide mich dafür, es zu lassen. Ich bereue nicht gerne Vermeidbares, und auch, wenn er mich problemlos tragen kann, wie wir später feststellen, ist da immernoch die Tatsache, dass ich mich, (mehr oder weniger frustbedingte) Anziehung hin oder her, von ihm nicht umarmen lassen kann.
Anerkennendes Schulterklopfen vom Kumpel, als ich ihm das mitteile, und ich schaffe es tatsächlich, ein bisschen Abstand zwischen den Raucher und mich zu bekommen, ohne ihn vor den Kopf zu stoßen, was auch deshalb ganz gut klappt, weil er keiner von der Sorte ist, die sich permanent und aggressiv an einen ranschmeißt.

Vier Stunden.
Die Stände schließen und ein paar Polizisten wollen uns halbherzig aufräumen, geben es aber sehr schnell wieder auf, als in einer anderen Ecke ein lautstarker Pärchenstreit ausbricht, der ins Handgreifliche übergeht.
Wir kommentieren von unserem Platz aus ein bisschen den Streit, als wäre es ein Boxkampf, dann ruft der Raucher auf meine Bitte hin den Fremden an, auch, weil er ihn fragen möchte, ob ich mich eventuell ebenfalls bei der Tante einquartieren kann, nachdem wir nicht müde sind, aber der Kumpel und Hasischatzi schon, und nach einen kurzen Telefonat gehen wir wieder zu der einsam auf einer Grasfläche stehenden Bank zurück, an der der Kumpel und ich den Fremden und die anderen abgeholt hatten.
Da steht er und wartet, mit dem glasigsten Blick seit ein paar Wochenenden, und kann zwar noch reden, ist aber ansonsten völlig weg. Irgendwo habe er die Ghettoschwester verloren, sie dann ewig gesucht, hätte dann nicht mehr zu uns zurückkehren können, und überhaupt, die Ghettoschwester..
Einfach weiteratmen.
Ich kann sogar kurz die Augen schließen, der Rest ist sowieso zu betrunken, um darüber nachzudenken, also stehe ich bestimmt zwanzig Sekunden mit geschlossenen Augen vor der verwahrlosten Bank und erinnere mich daran, einfach weiteratmen.
Alles wird gut, du musst nur atmen.
"Wir gehen."
Hasischatzi schleift den Kumpel mit, und nachdem da gerade mein Schlafplatz geht, verabschiede ich mich eben auch. Es reicht für eine Abschiedsumarmung für den Raucher, der sagt, er würde sich sehr freuen, wenn ich morgen, nein, es ist ja schon Sonntag, also heute abend, wiederkäme.
Der glasige Blick des Fremden richtet sich auf mich, nach kurzem Zögern umarme ich auch ihn, flüchtig, und folge dann im Eiltempo Hasischatzi und dem Kumpel.


"Also ich würd mir da nicht zu viele Hoffnungen machen."
In Hasischatzis Wohnung kleben überall Familienbilder, stehen überall Blumen und das verdammte Sheepworldschaf liegt in allen Varianten auf dem Bett, auf den zwei Sesseln und sogar die Gästematratze, die ich bekomme, hat ein Sheepworldkopfkissen, eine Sheepworlddecke als improvisierten Bezug und eine richtige Sheepworldzudecke.
-"Vielleicht ja doch."
Es hat doch so gut angefangen...
"Bist wohl optimistisch?"
-"Nein, naiv und verzweifelt."
Hasischatzi und ich sitzen am Küchentisch, während der Kumpel nach einer Zahnbürste für mich sucht. Er hat es ihr anscheinend erzählt, denn normalerweise hat sie kein gutes Gefühl für Zwischenmenschliches, außer, es ist sehr offensichtlich.
"Sorry, keine Zahnbürste da. Aber schau mal, es ist jetzt 3Uhr, wenn du um 7 heimfährst, kannst du ja dann Zähneputzen. Mundspülung kannst du haben."
Also Mundspülung.

Beim improvisierten Zähneputzen vibriert das Handy, sms vom Fremden.
Hey du,
Du hättest wirklich auch bei mir, bzw bei meiner Tante schlafen können, so arschlochmäßig oder besoffen bin ich doch gar nicht... oder?^^

Und wieder sein Blick vor meinem inneren Auge. Und die Ghettoschwester. Das ewige Warten auf ihn, das er damit begründet hat,dass er noch auf einer Familienfeier fest hing, gegen die Tatsache,dass seine Weinflasche schon dreiviertels leer war; sein Spontanverschwinden. Zu zweit übers Fest laufen.
Hey Fremder,
Ganz ehrlich, so sicher war ich mir da phasenweise nicht.
Und ich wusste auch nicht, ob das einfach so klargehen würde; ich schlaf jetzt bei Hasischatzi und dem Kumpel, das passt schon so.

Vielleicht hätte ich an den ersten Satz einen Smiley anhängen sollen, aber ich bin nicht in Smileystimmung.

Sorry mayhem, war vorhin auch einfach ein Missverständnis mit der Ghettoschwester, deswegen hat das so lange gedauert.. naja, ist ja jetzt auch egal.
Schlaf gut. :)

Dieses Missverständnis hat mich einige Nerven gekostet und sorgt, wie überhaupt die Zeit, die ich dich jetzt schon persönlich kenne, dafür, dass ich mindestens fünf Jahre früher graues Haar bekomme.
Ja, passiert..
Gute Nacht.

achja, gehst du morgen wieder aufs Fest?


Schon zwei Minuten später eine Antwort.
Ja, ich helfe nachmittags und werde abends schon irgendwie da sein, denke ich.. Gehst du auch hin? Kannst auch hier schlafen und ich verspreche dir, dass ich dich _allerspätestens_ Montagmorgen heimfahre. Mit deiner Erkältung kannst du sowieso nicht in die Schule, deine Stimme ist inzwischen bestimmt total weg und ihr habt doch nur noch 2, 3 Tage, oder?


Morgens, halb acht in Deutschland. Eine übermüdete Frau mayhem, noch in den Klamotten vom Vorabend, völlig ohne Stimme und mit extremem Erkältungswattehirn, schlurft in die einzige Tankstelle, die sonntags offen hat, um ihr Handyguthaben aufzuladen.
War auch nötig, die sms-Konversation mit dem Fremden hatte sich bis halb sieben hingezogen, dann driftete sein Schreibstil ziemlich ins übermüdet-betrunken-fehlerbeladene ab und man konnte auf seine sms nicht mehr so gut antworten, also habe ich es gelassen, konnte nicht einschlafen, wurde vom Kumpel heimgefahren und widme mich jetzt hochproduktiv der Hausarbeit, um anschließend im Idealfall noch ein paar Stunden zu schlafen.