Sonntag, 8. Dezember 2019
Novum:
Die Onlineplattform hat zwischen Creeps und Material für meine mentale/virtuelle Wall of Shame jemanden angespült, der eventuell in die Kategorie decent human being fällt.
Das Profil zeigt einen Menschen, dessen IQ vermutlich über Zimmertemperatur liegt, der gerne liest, eher die ruhige Schiene fährt und Film- oder Spieleabende der Totaleskalation vorzieht. Gesamteindruck: introvertierter, vielleicht etwas schnarchiger Typ, der vielleicht gelegentlich etwas in seinem Kopf festhängt oder, aus Mangel an einer besseren Formulierung, dem sein Stock im Arsch eventuell etwas zu fest sitzt.
Wenn man, wie ich, nicht in die Kategorie "fragile like a flower" sondern eher "fragile like a bomb" fällt, ist das auch mal ganz nett - meine längste Beziehung war mit einem Kopfmensch, der es gerne hübsch geregelt und etwas ruhiger hatte, und das hat eine ganze Weile lang relativ gut getan (wenn ich nicht gerade in selbstgefütterter Angst aufgrund unserer Unterschiede fest saß).
Außerdem war es ziemlich süß, wenn er dann doch mal "eskaliert" ist, also, sein eskalieren, nicht meins, und nach Abau der ersten Hemmungen fröhlich über's Festival gehüpft ist wie ein Kind durch Disneyland.
Die Beziehung hat dann doch ihr Ende gefunden, ich weiß nicht, ob sie einfach eingeschlafen ist oder schlicht der Realität nicht stand gehalten hat; inzwischen erhärtet sich mein Verdacht, dass er einfach so überrumpelt von mir und meiner Art war, die so sehr konträr stand zu ihm, meinen Vorgängerinnen, seiner Familie und seinem Allem, und so gut gepasst hat zu dem, was er gerne gewesen wäre, dass sich ein Faszinationssog gebildet hat, der zwar funktioniert, aber eben nicht richtig dauerhaft.
Im Nachhinein ist das auch gut so: es reicht, wenn eine Person, nämlich ich, eine riesige Baustelle ist, und Menschen, die dauernd gegen die gleichen Wände rennen, ohne es wahrhaben zu wollen, frustrieren mich.
Außerdem hab' ich so vieles in seinem Hirn angeschubst, dass er das danach gleich zielführend in der neuen Beziehung mit meiner damaligen Mitbewohnerin nutzen konnte, und die sind, soweit ich weiß, immer noch zusammen; hat sich also gelohnt.

Egal, zurück zum Online-Typen.
Wir hatten früher im Jahr kurz Kontakt: Profilbesuch-Bildkommentar-Bildkommentar zurück- ich schreibe ihm - er schreibt eine riesige Endlosnachricht (ich liebe riesige Endlosnachrichten! <3).
In der er erklärt, er ist da angemeldet, weil er eine Beziehung sucht (Nice!), und da ihn meine dort offen eingetragene Bisexualität verunsichert (Befürchtung, er könne einer bisexuellen Partnerin "nicht genug geben") und der Altersunterschied (wir reden von etwas weniger als vier Jahren) zu groß ist, passe das nicht und weiterer Kontakt sei vermutlich nicht zielführend; er wünsche mir aber weiterhin viel Erfolg für alles und so.
Ich habe mich für seine Offenheit bedankt, geschrieben, er brauche sich da nicht endlos rechtfertigen, es habe jeder seine/ihre Präferenzen, viel Erfolg ebenfalls.
Und, weil ich konstruktiv as hell bin: Hinweis angebracht, dass, zumindest unter Beachtung des thematischen Rahmens "Beziehung", diese Sorge, "nicht genug" zu sein, vermutlich gar nicht so krass sein muss - man mag, ja dann doch meistens eine Person als Gesamtpaket, nicht nur ihre Genitalien
(in anderen Kontexten mag das anders gelagert sein, aber er schrieb ja, er suche in diesem).
Darauf kam dann nichts mehr zurück und ich habe die Sache soweit abgehakt ohne größere Weltuntergänge zu erleiden (ja, das passiert. ich bin selbst richtig stolz).

Vor ein paar Tagen hat er dann wieder geschrieben, wieder Endlosnachricht.
Er habe nun eine Weile hin- und her überlegt, ob er mir nochmal schreiben solle, und wenn das als Notnagel-Nummer rüber kommt, entschuldige er sich, das sei nämlich nicht die Intention, aber er sehe auch die Möglichkeit, dass es so wirken könne.
Nach wie vor gehe es noch um das Kennenlernen von Menschen mit der Option auf Beziehung, bisher habe sich da nix ergeben, was ihn wohl zur Reflektion über die auch auf mich angewandten Ansprüche brachte, jedenfalls las es sich so.
Er habe ja bereits in der ersten Nachricht geschrieben, die von ihm gesetzte Altersgrenze sei willkürlich, weshalb er nun beschlossen habe, die mal zu updaten.
Das schnelle Todesurteil für unseren Kontakt sei damals nicht aus Mangel an Interesse gefällt worden, sondern aufgrund dieser seiner ganz rationalen Regularien, von denen er damals nicht habe abweichen wollen. Er sehe sich als prinzipienfesten Menschen, aber nicht als Deppen, es sei schon immer mal ganz gut, die eigenen Einstellungen zu hinterfragen, undsoweiter, undsofort

- ob wir nen Kaffee trinken wollen? Aus unserem Kontakt und der ausufernden Liste an gelesenen Büchern ergibt sich für ihn die Hypothese, ich sei Germanistin, und nachdem die auf dem gleichen Campus sind wie sein Job, würde es sich ja anbieten.

Ich habe beschlossen, ok, wir wollen einen Kaffee trinken, ihm zurückgeschrieben, und entweder hat er sich gefreut, oder das zumindest behauptet. Und versucht, ein bisschen Gespräch aufzubauen - was ich beim Theater mache, wie lange schon, wie ich dazu kam, was mir daran gefällt, usw; dass er das richtig interessant findet, zu überlegen, wer und wie eine Rolle ist, wie die tickt, und wie man das auf eine Bühne bringt, aber zu viel Sorge hätte, da was falsch zu machen oder den Text zu vergessen, um selbst aktiv zu sein.


Und jetzt stehe ich vor der alles entscheidenden Frage: Wie trifft man jemanden, dem man auf einer Online-Dating-Plattform begegnet ist, auf einen Kaffee?
Die letzten sind 'ne Weile her und wollten alles, nur nicht ganz harmlos quatschen und Kaffee trinken.
Aber der will einfach nur nen Kaffee trinken.
Ich will einfach nur nen Kaffee trinken.
Die Komplexität dieser Aufgabe überfordert mich.

Also, ich weiß schon, wie das theoretisch funktioniert: Ich will wissen, wer er so ist, also frage ich Sachen.
Er will eventuell wissen, wer ich so bin, also fragt er Sachen.
Wir beantworten unsere Fragen und es entsteht idealerweise ein Gespräch, wenn es angenehm ist, ist das gut, wenn es nicht angenehm ist, denkt sich einer von uns eine gute Ausrede aus und haut ab.
Aber die Umsetzung einer derartigen Mission erfordert besondere Fähigkeiten:
- Gespräch beginnen und erhalten, inklusive Umgang mit der intensiven Awkwardness, die das immer für mich hat
- versuchen, nicht in den Autopilot zu kippen, zu performen und alles mögliche (und unmögliche) zu erzählen, weil das Gegenüber seine Klappe nicht aufkriegt oder abweisend wirkt
- die andere Person ausreden lassen
- die andere Person überhaupt zum reden bringen
- nicht vor Angst sterben, weil ich das Gefühl habe, auf meinem Profilbild (Gesicht bis Taille) schlanker auszusehen als in echt, oder auf den anderen Bildern (Ganzkörperaufnahme und Beinahe-Ganzkörperaufnahme vorhanden, aber erstere ist ein Jahr alt und zweitere wirkt so, als könne sie auch einfach ungünstig aufgenommen sein - was sie an sich ist, aber ich mag sie) und ihn damit zu Tode zu erschrecken oder vor den Kopf zu stoßen
- Entspannt, aber nicht ZU entspannt wirken
- Hilfe, da sind viele Menschen um uns rum
- Hilfe - was ist, wenn da keine Menschen um uns rum sind
- zu zweit zusammensitzen mit einer anderen Person, die mich kennen lernen will, macht mich VERDAMMT NERVÖS
- AAAAAH.

Zusammenfassend: alles nicht einfach.

Mit Menschen, die ähnlich schwungvoll unterwegs sind wie ich, kann ich auf Dauer nicht mithalten, weil ich auch manchmal Pause brauche und den Posten der semi-manischen Extraversionsbombe nur auf Teilzeit besetze. Und sie machen mir Versagens-/Verlustängste.
Menschen, die nicht so schwungvoll unterwegs sind wie ich, können dafür auf Dauer nicht mit mir mithalten, weil sie im Vergleich so wirken, als seien sie standardmäßig im Pausenmodus. Oder kreislauftot.
Und sie machen mir Verlustängste.
Nichts davon muss eintreffen oder eine Rolle spielen, und selbst wenn, wäre es zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein Weltuntergang; die Tatsache, dass ich immer wieder das Gefühl habe, "zu viel" zu sein und damit Dinge ins Aus zu schießen, bevor man sie richtig anschauen/sich richtig kennen lernen konnte, nervt und frustriert aber.


Nun hilft es aber niemandem weiter, wenn ich in Gedankenspiralen festhänge oder abwärtsbaumle.
Ok, Konstruktivität bitte.
Was ist das Schlimmste, was passieren kann?
Es wird ein doofes Treffen, weil er mich doof findet oder ich ihn.
Weil ich in den Autopilot kippe und scheiße baue -konstruktiv bitte. Die Wahrscheinlichkeit, in selbstauferlegten Performance-Zwang zu rutschen, wird durch die Angst davor auch nicht weniger.

Was wäre noch schlimm?
-Stockender oder gar kein Gesprächsfluss, wir finden keine gemeinsamen Themen, es ist irgendwie insgesamt total unangenehm, artifiziell und peinlich und kommt nicht vom Smalltalk weg, den ich übrigens sowieso nicht so gerne mag, weil ich mir dabei immer unangenehm, peinlich und nichtssagend vorkomme.
- ich sehe auf meinen Bildern tatsächlich weniger fett aus, als ich es bin, und er kommt sich deshalb verarscht vor

Was wäre weniger schlimm?
Wenn er viel redet - das wäre so ziemlich das praktischste überhaupt, dann kann ich meine mentale Energie auf's Zuhören bündeln.


Worauf sollte ich achten?
- Gefühl, sich dauernd rechtfertigen zu müssen
- Gefühl, sich auf eine bestimmte Art und Weise darstellen zu müssen
- andere Person ausreden lassen und ermuntern, von sich zu erzählen

Was machen wir jetzt damit?
Schauen, ob er bezüglich Terminfindung nochmal geschrieben hat.
Heute oder spätestens morgen früh Haare waschen und gucken, ob die guten (nicht im Sinne von gut aussehend, sondern im Sinne von "ich fühle mich wohl drin") Klamotten sauber sind.
Eventuell gucken, ob es Bedienungsanleitungen für introvertierte, gelassene, stabil im Leben verankerte Menschen und die kennenlerngeprägte Interaktion mit ihnen gibt.

Sehen wir es als soziales Experiment.