Mittwoch, 11. Dezember 2019
Habs nicht geschafft, zur Uni zu gehen .Wecker gehört, Teechen gekocht, Katze gekuschelt - und im Sitzen eingeschlafen.
Der Dozent denkt wahrscheinlich auch, ich hab' keinen Bock. Dauernd bin ich nicht da, und wenn ich es bin, brauche ich für meine Antworten auf seine Diskussionsfragen zu lange, weil ich mich nicht kurzfassen kann und beim Reden in meinem Hirn verlaufe.
Vielleicht schreib ich ihm eine Mail. Beim anderen Seminar, das ich quasi teilzeit-besuche, habe ich das getan und dem Kursleiter erklärt, dass ich Angst habe, er denkt, ich hätte keinen Bock auf den Kurs oder wolle nicht mehr teilnehmen; dass das nicht der Fall ist, sondern ich's einfach nicht gepackt habe, Erkrankung und so, Verweis auf den Nachteilsausgleich. Da steht eh drauf, dass ich meine Dozenten drüber informieren soll.
Die Angst, aus dem Kurs zu fliegen oder als demotiviert/faul abgestempelt zu werden wiegt schwerer als die, den Mitleidsnummer-Eindruck zu erwecken.
Vielleicht schick ich wirklich ne Mail. Wenn mir das wichtig ist, darf ich das machen.

Der Dozent, der meine BA betreuen würde, hat das Angebot schon vor dreieinhalb Ewigkeiten gemacht und seit zweieinhalb nichts mehr von mir gehört, ich hab Angst, dass der auch denkt, ich hab keinen Bock oder bin faul. Wenn ich ihn in der Uni sichte, gehe ich möglichst schnell in eine andere Richtung, weil ich mich so schäme.
Ist das ok, dass man sich nicht so oft meldet? Gefühlt alle anderen haben so einen engen Draht zu ihrem BA-Betreuer (gehabt), und ich könnte nichts berichten außer "ich hab das noch im Kopf, ich lebe noch, ich studiere noch, es dauert noch". Ich schäme mich. Massiv. Und wenn ich es gerade mal geschafft habe, mich auf die richtig akuten Sachen zu fokussieren, zwingt es sich mir doch wieder auf.

Irgendwie habe ich es dann trotzdem geschafft, so zu tun, als wäre ich erwachsen; hab die frei gewordene Zeit (ich hätte noch zum Kurs gekonnt, wäre dann aber mittendrin reingeplatzt und er wäre sowieso halb vorbei gewesen) sogar einigermaßen genutzt.
Arzttermin (EKG wegen der Medikamente, und der Konsiliarbericht, den die Therapeutin noch braucht) klar machen wollen - ging keiner ran, aber hey, ich habe es versucht.
Tattoo-Studio angerufen, das nicht mehr so neue neueste Körperkunstwerk hat die Farbe nicht gut gehalten und innerhalb des ersten Jahres ist das Nachstechen kostenlos. Ging keiner ran, aber hey, ich habe es versucht.
Kieferchirurg angerufen, weil die Zahnärztin von gestern mich dorthin überweisen will. Ging einer ran.
Ob ich heute Nachmittag vorbeikommen will, es hat jemand abgesagt.
Und dann bin ich einfach mal da hin, wie das Erwachsene machen.
Kam mir blöd vor mit meinen Ausführungen dazu, dass die Betäubung bei mir nicht richtig wirkt und ich deshalb Angst habe, weil die Ärztin mich schon direkt am Anfang unterbrochen hat - klar wirkt die Betäubung nicht richtig, Sie nehmen ja Medikinet. Trotzdem fortgefahren, dass ich ihr das deswegen erzähle, weil die Ärzte vorher es nicht ernst genommen und mich damit ziemlich verstört haben. Der Kopfkrieg sagt, ich soll die Fresse halten, dein blödes Gelaber ist gerade unnütz und peinlich, ich sage, halt die Fresse, mir ist das gerade wichtig.
Sie nimmt es so ernst, dass sie am Liebsten gar nichts mit örtlicher Betäubung machen, sondern mich in den Dämmerschlaf schicken will - wenn's nach ihr geht, auch kostenlos, sie hat Mitgefühl oder Mitleid. Musste früher auch Medikamente nehmen, sagt sie, und sei deshalb beim Zahnarzt im Behandlungsstuhl festgehalten worden.
Mich haben sie nicht festgehalten, Panikattacke hin oder her, ich habe nicht versucht, zu entkommen.

Wir machen drei Termine aus: Bröselzahn, Weisheitszahn 1, Weisheitszahn 2, ich sage, ich überlege mir das mit dem Dämmerschlaf, ist schließlich ein gutes Angebot.
Aber eines, das mich traurig macht - als ich drüber aufgeklärt werde, wie das funktioniert, wird davon gesprochen, dass ich einen guten Freund, meine/n Partner/in oder Angehörige dafür brauche, es muss nämlich jemand mit mir im Aufwachraum ausharren, bis das Zeug abgeklungen ist, mich dann heimbringen und noch ein bisschen auf mich aufpassen.
Ich hab so jemanden aber nicht.
Und in dem Moment macht es mir was aus, sehr sogar; nicht, weil ich auf meine gratis Dosis Benzos verzichten muss, sondern weil ich mich alleine fühle, verloren oder verlassen oder beides. Wie ein ausgesetzter Hund am Straßenrand.

Dann erinnere ich mich daran, dass ich die Personalunion aus Mutter, Vater und allen anderen Bezugspersonen in meinem Leben bin, die auf mich aufpasst, frage nach, wie lange ich in dem Aufwachraum bleiben müsste, bis ich alleine heim darf, weil ich niemanden habe, der mich abholen kann.
Es könne sich doch bestimmt jemand den Nachmittag für mich freinehmen?
Nein.
Oh.
Ja.
Ja gut, dann örtliche Betäubung, Sie können uns ja Bescheid geben, wenn sich was ändert.
Ok.

Auf dem Heimweg kaufe ich ein kleines Geschenk für eine wildfremde Person, Weihnachtswichteln in einem Forum, schreibe Tante Emma, ich rufe sie gleich zurück, komme heim, freue mich, wie gut ihre stationäre Therapie angeschlagen hat und verzweifle ein wenig, weil ihr manipulatives Arschloch von Verlobtem es wieder kaputt macht oder schon getan hat.
Ich verzichte darauf, auf ihn zu schimpfen, oder ihr zu sagen, dass er sie manipuliert - oft genug versucht.
Gebe ihr stattdessen Denkanstöße, vorsichtig genug, um keinen Vorwurf draus zu machen, und beschränke mich ansonsten darauf, einfach für sie da zu sein; so, wie man das mit seinem Kind im Geiste eben macht, beziehungsweise, wie ich mir vorstelle, dass man das mit seinem Kind (im Geiste) macht.
Ich wäre bereit, 400km einfache Strecke mit dem Fernbus zu fahren, um sie zu einem Termin beim psychologischen Gutachter zu bringen, zu warten, bis es vorbei ist, einen Kaffee mit ihr zu trinken und dann wieder heim zu fahren.
Ohne mit der Wimper zu zucken. Aus Anstand.
Ihr Verlobter ist nicht bereit, 10km einfache Strecke im Auto mit ihr zum Gutachter zu fahren, dafür müsste er nämlich seinem Chef sagen, dass er früher Feierabend machen will, und sein Chef ist ein Ausländer, mit denen redet er nicht.
Prioritäten, und so.


Später reserviere ich Theaterkarten - online, aber nicht, weil ich mich nicht traue, anzurufen, sondern einfach, weil es ein Formular dafür gibt und das am Bequemsten ist.
Das Kind in mir findet es wahnsinnig cool, wie ich so erwachsene Sachen mache - einen Theaterbesuch planen, Leute koordinieren, Wegbeschreibungen schicken und Karten reservieren, als sei es das natürlichste auf der Welt.
Die anderen sagen ab, aber ein Bekannter aus der Tagesklinik-Zeit ist dabei, also gehen wir eben zu zweit hin. Einfach so, unter der Woche ins Theater in diieser riesiggroßen Stadt, die mein Zuhause ist. Ich könnte mir dort sogar ein Bier oder ein Glas Wein kaufen und es wäre nicht seltsam, ich bin alt genug für die Quarterlife-Crisis und somit auch, um Alkohol zu trinken, wenn mir danach ist.

Ich bin ein angstgelähmtes, verlorenes Kind im Angesicht der Uni, brauche eine halbe Stunde in wachsender Verzweiflung, um zu entscheiden, welchen Tee ich beim Weihnachtswichteln ins Paket packe, und heute früh war ich zwar wieder entspannter bzgl. Kaffeetyp, aber jetzt klopft es wieder an, weil sich alle mögliche Scheiße in mein Hirn drängelt, und ich werde eventuell doch schon jetzt gucken, ob er geschrieben hat, aber das wird er nicht getan haben, denn entweder ist er gerade beschäftigt (was nach den vorherigen Nachrichten durchaus sein kann, er hat erzählt, was diese Woche so bei ihm ansteht), aber wieso kann er dann online sein, oder er mag mich eben nicht wieder treffen, dann ist das so, oder er ist verwirrt, das mache ich manchmal mit Menschen.
Vielleicht schaue ich aber auch nicht, weil ich Gedankenschienen, Emotionsspiralen und Ängsten zumindest nicht kampflos Platz auf der Bühne mache und befürchte, es würde sie füttern; ich bin Schauspielerin, ich bin Regisseurin und ich bin hauptrollen-geprüft, also habe verdammtnocheins ich das Sagen.


Ich spür mich immer nur in Momentaufnahmen und das Bild ist nur wenig vollständiger als das derer, die ich hier parke.
Eine davon besteht aus Angst, eine aus Scham- und Schuldgefühlen, eine aus Versagen, eine aus absoluter Großartigkeit, eine aus schierer Verzweiflung und eine aus tiefster Trauer um was-auch-immer.
Eine ist die Frau, die das ganze Schiff steuert. Als Nichtschwimmerin auf hoher Sturmsee.
Keine davon hat vor, aufzugeben.
Also machen wir weiter.
Jeder einzelne.

So bringt uns die goldenen Äpfel,
denn die, an die der Norden glaubt,
sind fabelhafte Gärtner
obschon uns vor dem Ewig graut
Doch nichts ist mehr so, wie es einstmals war
Und so ist auch das Ewig gestorben
Die Früchte, die brachten, wonach alle trachten
Sind schön, doch schon lange verdorben
Weit fort von den Zinnen verblendeten Lärms
Dort draußen, weit hinter den Toren
Liegt fast unerreichbar das Land, das wir suchten
Das Morgen ist noch nicht verloren