Freitag, 31. Mai 2013
...on the way that has no end

Irgendwie überstehe ich eineinhalb Stunden Kirche und eine Stunde Friedhof im Dunstkreis der Weihrauchschleuder, auf nüchternen Magen natürlich, weil mein Vater darauf bestanden hat, um 13.15 in der Kirche zu sein, schließlich soll es um 14Uhr beginnen.

Zu viele fremde Menschen, zu viel Entfremdung.
Die Kälte, die man sich für Familienzusammenkünfte aufspart, quillt aus allen Rillen und Winkeln und Löchern der mühsam freundlichen Fassade, die die mutmaßliche Restverwandschaft um sich hochgezogen hat, und alles starrt.
Als ich kein Weihwasser auf den Sarg schleudere.
Als ich nicht mitbete.
Als ich nicht zur Kommunion zum Altar gehe.
Als ich nicht mitsinge.
Dastehen, starren, Blicke meiden. Ich weiß, dass ihr mich durchleuchtet.
Wieder singen, wieder beten. Beim "Segne du Maria..." krallen der eventuell-Onkel, Papa Mayhem und ich uns synchron in unsere Schirme.
Der Eventuell-Onkel und ich behalten die Fassung, Papa Mayhem fängt an, aus den Augen zu tropfen.
Männer dürfen doch nicht weinen, erst recht nicht, wenn das halbe Dorf zuschaut.
Den einsekündigen Versuch, seine Hand kurz zu drücken, breche ich genauso schnell wieder ab, wie ich ihn gestartet habe, und kehre zurück in meine Isolation.
Kein Gebet.
Keine Worte.
Kein Erde-aufs-Grab-Schaufeln.
Lediglich eine nur in Gedanken ausgesprochene Entschuldigung dafür, dass ich während dem kompletten Gottesdienst geistig nicht dabei war. Respektlos, ja.
Bitte sei mir nicht böse, denke ich, deute das erste und einzige Kreuzzeichen des heutigen Tages an und versuche, irgendwie zu meiner Mutter durchzukommen.
Keine Chance, Durchgang verstopft, irgendwelche dicken, überschminkten, dauergewellten alten Frauen stehen da und versuchen wiederum, an mir vorbeizukommen, um der Vatersfreundin Beileid zu wünschen, die wenigstens den Anstand hat, so zu tun, als würde sie es wundern, dass alle mit ihr reden wollen und niemand mit mir.
Noch mehr dicke Frauen und Menschen, die ich nicht kenne, rechts neben mir Gräber, links neben mir Hecke, vor mir Stau,hinter mir auch, ich will doch einfach nur zu meiner Mutter.
Und dann ist mit einem Mal das, was an der Urnenwand passiert, interessanter als das Grab, für dessen Zuschaufeln man gerade ansteht.
Ich hasse es.

Zuviel Entfremdung, zu viel Heuchelei, zu wenig Sensibilität.
Das bisschen Rücksichtnahme, das man sich mühsam für heute zusammengekratzt hat, verabschiedet sich innerhalb der ersten zehn Minuten beim Leichenschmaus, die Mutation zum normalen Familientreffen beginnt, als die ersten Krankheitsgeschichten ausgetauscht werden.
Bilanz: zwei Stücke Kuchen, drei Brötchenhälften jeweils mit Käse, fünfmal "Hast du jetzt eigentlich schon deinen Abschluss?", zweimal "Ach, du bist ja eine hübsche junge Frau geworden!", eine Frage nach dem aktuellen Gesundheitszustand des Mayhemmobils.
Zweimal absolute Verstümmelung meines Namens durch einen alten Mann, den ich (wie so viele der Anwesenden) vorher noch nie gesehen habe, und der erst ihre Schwester, dann die Vatersfreundin selbst zu meiner Mutter erklärt. Hat ja schließlich kurze Haare, wie es bei meiner Mutter war, und in etwa die gleiche Körpergröße, und den Rest kann man ja getrost unter den Tisch fallen lassen.
Schade, dass ich zu alt bin, um wie meine Großgroßcousine das Smartphone zu zücken und völlig legitim nicht mehr ansprechbar zu sein, mit fast 19 kann man leider nicht mehr mit "pubertäre Ultracool-Trotzphase" argumentieren.
Im Gegensatz zu mir mit 13 haut sie zum schwarzen Kajal aber noch eine Ladung grauen Lidschatten aufs Auge und helles Makeup ins Gesicht und perfektioniert damit den Kontrast zu ihrer Kinderkleidung und ihrem Kinderaussehen.
Wenigstens nicht Glitzerlidschatten+zu dunkle Foundation, es scheint sich eindeutig positiv auszuwirken, dass ihr Freund, zumindest den Aufklebern auf seinem Auto (ich gehe davon aus, dass es seines ist, schließlich ist er 21) nach zu urteilen, der Metalfraktion zuzuordnen ist.
"SO JUNG UND SCHON TINNITUS??", schreit mir der Mensch, der die letzte halbe Stunde damit verbracht hat, meinem wahrscheinlich dauerhaft arbeitsunfähigen Vater zu erklären, wie anstrengend seine Reha für ihn, aber wie gut es doch ist, dass man bei ihm die angerissene Rotatoren-Manschette in der Schulter früh bemerkt hat, ins kaputte Ohr.
"Kein Tinnitus, nur Reißen und Rauschen, wenn man laut reinschreit oder es allgemein laut ist", korrigiere ich, möglichst neutral im Ton, "Und nach zu großer Lärmbelastung höre ich eine Weile nicht ganz so gut drauf."
-"Jaja, ich hab das ja auch, mit dem Tinnitus, das ist so eine Sache...."
Ich beschließe, meinem Tinnitus, der keiner ist, meinem Vater, dessen Rotatoren-Manschette nicht angerissen, sondern aufgeplatzt, abgerissen und zerfetzt ist, und mir einen Gefallen zu tun und uns mit einem freundlichen, aber bestimmten "Willst du eine Brötchenhälfte?" wieder an unseren Tisch zurück und raus aus der Unterhaltung mit dem Schreimenschen von nebendran zu holen.

Familienhälfte eins (Team Eventuell-Onkel) und Familienhälfte zwei (Team Papa Mayhem-Vatersfreundin-so halb ich) schweigen sich noch eine Weile an und verachten sich eisig und wortlos, die Eventuell-Tante beobachtet genau, was und wie viel ich esse und legt sich demonstrativ nur eine Scheibe Belag auf ihre Brötchenhälfte, wenn ich mich zu zwei Scheiben Käse pro Hälfte überrede und das auch knallhart durchziehe.
Trotzdem bin ich dünner als sie.
"Wir sind ja jetzt verlobt", verkündet die Eventuell-Cousine gedehnt und tätschelt ihrem Jetzt-Verlobten die Hand. "Ich habe gehört, dein Freund und du haben sich getrennt, mayhem?"
-"Ja, ist jetzt bald nen Monat her."
"Ach, das tut mir aber Leid."
Falsche Schlange.
-"Das passt schon, lieber so, als dann irgendwann in ner Sackgasse zu stehen und zu merken, dass man nur aus Gewohnheit und Angst vorm Alleinesein überhaupt da gelandet ist". Was in etwa der Beziehungssituation entspräche, in der sowohl ihre Eltern, als auch sie selbst stecken.
Ich bin lieber halb tot vor Herzschmerz und dafür ehrlich verliebt, als bequem in steriler Scheinzufriedenheit festbetoniert...

Denke es mir und frage mich noch im selben Moment, warum es das Schicksal zur Zeit mit dem "halb tot vor (Herz)schmerz" so verdammt ernst meinen muss.




Montag, 27. Mai 2013
Thema: monolog
Gestern Nacht.

Mein Vater steht so vor meiner Haustür, klein und alt und so emotionsbetäubt, wie wir es immer sind, wenn wir in Extremsituationen feststecken und kein Ende in Sicht ist, und sagt mir, gestern Nacht ist es passiert. Organversagen, absehbar, man wusste ja, dass es so kommen würde, er habe mir nur Bescheid sagen wollen.
Ich nehme ihn in die Arme, impulshaft, verabschiede ihn und lege mich wieder in mein Bett.
Sieben Uhr dreißig, sagt der Wecker. Vor vier Stunden bin ich eingeschlafen, vor sechs Stunden und fünfzig Minuten ist Opa Mayhem gestorben.
Ich warte immer noch, dass da irgendwas ist. Trauer, Schmerz, sowas.
Was man eben empfindet, wenn jemand stirbt.
Nichts. Stattdessen dumpfe Angst, diffus, aber da.
Der Tod rotiert in meinem Kopf, ich habe Angst davor, Menschen zu verlieren, die mir noch nicht mal so viel bedeuten, Angst davor, nicht alt zu werden, und Angst davor, dass genau das eintritt. Dahinsiechen, das letzte, was man wahrnimmt, der Pflegeheimkrankenhaustodgestank.
Das letzte, was meine Mutter bemerkt hat, waren wohl weiße Badwandfliesen, oder dunkelbraune Holzbaddecke, und Blutgeschmack im Mund.
Vermutlich schmeckt man ziemlich viel Blut, wenn man vom Alkohol krampfadermäßige Dinger in der Luft-/Speiseröhre hat und die dann explodieren.
Wahrscheinlich hat das Schicksal keinen netten, schmerzlosen, angenehmen Tod für mich vorgesehen,sondern irgendwas hochdramatisches, fieses, je nach Tagesform vielleicht auch schmerzhaftes.
Die Angst, zu verlieren bleibt trotzdem stärker als die, verloren zu gehen.

Gegen Mittag sitze ich mit meinem Vater und seiner Freundin an ihrem neuen Küchentisch, esse anstandshalber ein Brötchen und lasse mir von ihr erzählen, was sie schon alles organisiert haben, wie rücksichtslos und kalt der Pfarrer doch sei, und dass ich gefälligst in beiden Rosenkränzen und bei der Beerdigung aufzutauchen habe.
Mein Vater verlegt sich auf ein "es wäre schön", was die Rosenkränze betrifft, und schafft damit viel mehr Druck, als es alle Befehle und Drohungen dieser Welt könnten.
Ich sichere zu, zur Beerdigung zu kommen und mir den Leichenschmaus anzutun, verspreche, die Verwandschaft nach Möglichkeit nicht zu sehr zu erschrecken und bekomme im Gegenzug die Erlaubnis, gegebenenfalls früher heimzugehen (was im Endeffekt auch nur 10 Minuten ausmachen wird, denn "der Anstand gebietet es" schließlich, nicht so früh wieder zu gehen) sowie (aus Rücksicht auf die anderen Anwesenden allerdings nur knöchelhohe) Kampfstiefel auf den Friedhof anzuziehen, damit ich trockene Füße behalte und auf den unbefestigten Wegen nicht komplett im aufgeweichten Erdmatsch versinke, wie es sonst immer der Fall war.
Meine Mutter war die einzige, die sich einen Termin zum Sterben ausgesucht hat, der eine Beerdigung ohne mindestens ein aufgeschürftes Knie (ausrutschen auf spiegelglatten Abhängen) oder ein eingeschlammtes Kind (wie bereits erwähnt, unbefestigte Wege, rutschig, gegebenenfalls glatt) möglich machte.
Als sie geht, bittet mich die Vatersfreundin nochmals, zu den Rosenkränzen mitzukommen, ich sage nochmals, dass ich es ihr nicht versprechen will, erkläre es wieder meinem Vater, der eigentlich erwartet, dass ich hingehe, aber weiß, dass ich mich nicht zwingen lasse (eigentlich) und darüber maßlos enttäuscht ist, und irgendwann kriegen wir die Kurve, reden über geklaute Straßenschilder und darüber, dass mein Vater mal eines bei den Obstbäumen gefunden und mitgenommen hat, und dass ich es haben kann, wenn ich will, und dass er jetzt weiter die Küche renovieren muss.
Ich könne ja abends nochmal vorbeikommen, meint er.

Die einzige noch lebende Person, die sicher blutsverwandt mit mir ist und sich zur engeren Verwandschaft zählen lässt, ist mein Patenonkel.
Wenn mein Vater doch mein Vater ist, sind es immerhin 2.

Als ich die Haustür aufschließe, habe ich der Egoschleuder für Mittwochabend abgesagt, einerseits prophylaktisch, falls ich in den Rosenkranz gehe und somit die Möglichkeit, mit seiner Schwester zu fahren, verpasse, andererseits, weil er gestern weinend die gesammelte Scheiße, die er so im Leben gebaut hat, vor mir ausgebreitet und außerdem die Vermutung geäußert hat, zu glauben, eventuell in mich verliebt zu sein, obwohl wir beide genau wissen, dass es sich nur um Ersatzanziehung handelt, weil er immer noch an der Nixe hängt und ich im Moment die einzige Person bin, die für ihn da ist, und außerdem die Nachbarin abgeschmettert, die am Freitag mit mir irgendwas unternehmen wollte.

Dann ruft Ms Golightly an und verkündet, nicht ohne Stolz, dass sie a) demnächst beim Raucher vorbeistiefeln, ihm gehörig die Meinung sagen und bei der Gelegenheit meinen Leitpfosten holen würde, den Mist, den er rumerzählt, könne man so schließlich nicht stehen lassen, und b) ihren Freund davon überzeugt hat, sich mal bei Mr.Gaunt zu melden und zu fragen, ob er am Wochenende schon was vor hat.
Donnerstag sieht sie den Mützenträger wieder und es wird angerufen, Freitag ist das angepeilte Datum.
"Da wird mein Großvater beerdigt, ich weiß nicht, ob.."
-"Oh, das tut mir Leid. Naja, aber bis abends wirst du da fertig sein. Drück uns die Daumen, dass wir ihn überzeugen können, mit zu gehen, obwohl er meinen Hasen nur unwesentlich besser "kennt" als dich. Bis dann!"
Ich hasse es, wenn Menschen ihren Partner "Hase" nennen.




Thema: monolog
Krankenhaus.

Als wir ins Krankenhaus reingehen, weiß ich, dass mein Großvater da nicht mehr bei Bewusstsein rauskommt.
Wir stehen dreieinhalb Ewigkeiten bei einer Aktenwälzerin, die nicht verstehen will, dass es zwar eine Vollmacht, aber keine Patientenverfügung gibt und Papa Mayhem deshalb nicht einfach beschließen kann, dass die piependen und blinkenden und gluckernden Geräte abgeschalten werden.
Nachdem sie uns unsere Standpauke gehalten hat von wegen, das hätten wir ja mal regeln können, kümmert sie sich um das, was sie eigentlich machen soll, nämlich die Nummer des Seelsorgers/Pfarrers raussuchen. Letzte Ölung.
Mein Großvater ist ein gläubiger Mensch und Papa Mayhem will, dass für den Notfall alles geplant ist.
Die Aktenwälzerin findet den gesuchten Flyer nicht, netterweise kommt aber das Mädchen, das eventuell meine Halbschwester ist, vorbei, findet das Gesuchte auf Anhieb und sieht mir mal wieder viel zu ähnlich. Wenigstens hat sie braune Augen und dunklere Haare (sind die gefärbt?).
Und ein Grinsen, das sogar mir Angst macht, weil es so aufgesetzt-künstlich und furchtbar kalt ist.
Aber vermutlich muss man sich das antrainieren, wenn man im Krankenhaus arbeitet.

Als wir uns Opa Mayhems Station nähern, vorbei an den Bereichen, die "es gibt noch Hoffnung" sagen, und an dem Getränkeautomat, an dem ich mir früher immer einen warmen Kakao mit extra Zucker geholt habe, wenn wieder irgendein inzwischen längst verstorbenes Familienmitglied hier war, ist da wieder der Krankenhausgeruch.
Wenn sie sagen "Ich hasse Krankenhausgeruch", verbinden das viele Leute mit Desinfektionsmittel.
Da, wo wir rumlaufen, ist es anders. Desinfektionsmittel riecht ein bisschen stechend, aber auf saubere Art und Weise, vielleicht auch ein bisschen nach Chlor.
Der Krankenhausgeruch, den ich meine, der eigentliche, ist fast der gleiche wie im Pflegeheim. Totgekochtes, breiiges Essen, menschliche Ausscheidungen, die nur durch Infusionsbeutel überhaupt zustande kommen konnten, seit Urzeiten nicht mehr gelüftete Zimmer, muffige Handtücher, sterbende Menschen, mit Glück noch ein Hauch Desinfektionsmittel.
Das ist für mich Krankenhausgeruch.
Und ich hasse ihn.

Opa Mayhems Zimmer ist nichtmal in einem Bereich, der sagt "das kriegen wir eventuell wieder hin", sondern ganz am Ende, da, wo sie die Leute zum Sterben hinbringen.
In seinem Zimmer liegt noch ein Araber, der ebenfalls nur ein Knochenhaufen ist, über den man ein bisschen Haut gespannt hat, und bei dem man nichtmal mehr Pupille, Netzhaut und Augapfel unterscheiden kann, so glasig und matschig sind seine Augen in seinem Gesicht, das sich verschoben hat und ganz krumm und schief ist, und mit dem er auf wundersame Art und Weise irgendwelche Laute zustande bringt, als ich den Raum betrete, die ich aber nicht verstehe.
Weil ich mich nicht traue, ihn zu fragen, was er gesagt hat, gehe ich ein Bett weiter.
Ein Mann, der nur mittelschwer verwirrt und nur ein bisschen tot wirkt, entweder haben sie sich vertan und ihn aus Versehen her gebracht, oder sie wollen, dass er bald stirbt. Als Patient hält man es hier nicht lange aus und wird irgendwann selbst so.
Manchmal auch als Pfleger oder Arzt.
Noch ein Bett weiter.
Kamera schwenkt auf Großvater, kurzzeitig Katastrophenzustand im Inneren der Enkelin, verzeifelte Versuche, irgendwie Kontakt zu seinem Vater aufzunehmen von Papa Mayhem.
Der Araber mit dem deformierten Gesicht versucht wieder, mit mir zu reden.
Ich bleibe auf meinem Stuhl sitzen, mit Sicherheitsabstand zu Allen, und schaue meinem Vater beim Verzweifeln und seinem Vater beim Sterben zu.
Weil er komplett dehydriert ist und irgendeine Entzündung hat, die laut Arzt wie eine Lungenentzündung aussieht, aber keine ist, rasselt er beim Atmen lauter als alles, was ich vorher aus menschlichen Atemwegen gehört habe, und seine Haut hat sich so weit zurückgezogen, dass er den Mund nicht mehr schließen kann, was das Rasseln und Gluckern nur noch verstärkt.
Seit er ins Pflegeheim gekommen ist, bin ich jedes Mal, wenn ich ihn gesehen habe, aufs Neue erschrocken, wie tot er im Vergleich zum letzten Mal aussieht.
Vermutlich hat es seinen Höhepunkt erreicht.
Papa Mayhem versucht weiter, mit ihm zu reden, streichelt sein Gesicht, hält seine Hand, wenn er im Schlaf hustet und Panik bekommt, und verlässt seinen Platz neben dem bett erst, als ein Krankenpfleger ihn darum bittet, weil der Mann, der viel zu lebendig ist, um hier zu sein, auf den Toilettenrollstuhl muss und das nicht machen will, wenn jemand da ist.
Also verabschieden wir uns, ich mich innerlich, Papa Mayhem mit Schulterdrücken, Hand halten, Worten und Zunicken, lassen uns auf dem Gang nochmal vom Arzt erzählen, dass mein Großvater ja eigentlich stabil sei, unpraktischerweise leider "stabil schlecht", aber immerhin, und auf dem Weg zum Auto kann ich mich die ganze Zeit nicht überwinden, meinen Vater zu umarmen, auch, wenn ich es gerne würde.
Damit er sich nicht so verloren fühlt. Einfach, damit jemand da ist.
Ich schaffe es nicht. Den Standardsatz sage ich, das, was man immer sagt, ich bin da, wenn du irgendwann reden möchtest, auch, wenn ich genau weiß, dass du das nicht mit mir tun wirst.
Damit hat es sich dann auch.
Und wir fahren wieder heim, und nach ein paar Tagen wird Opa Mayhem zurück ins Pflegeheim verlegt.
Zustand: Immer noch "stabil schlecht".




Thema: monolog
"Hast du am Freitag schon was vor?"
-"Da bin ich auf Beerdigung".

Geburtstag.
Gefühlswelt und reales Handeln können so erschreckend weit auseinander gehen.
Während ich nämlich gefühlt mein Herz gesprengt und mich in Stücke gerissen habe und so leise vor mich hin verblute, sitze ich mit der Vatersfreundin im Pflegeheim, während mein Vater auf Reha ist und nicht vorbeikommen konnte, und wir warten.
Man bringt uns ungefragt Kaffee, der so schmeckt, wie abgestandenes Abwasser riecht.
Wir warten.
Eine alte Frau schiebt sich und ihr Gehwägelchen immer wieder an uns vorbei, Gang rauf, Gang runter, und singt gefühlt alles, was das Kirchengesangbuch hergibt.
Wir warten.
Heute werde ich mit dem Raucher Schluss machen. Sollte ich das hier überleben, ohne endgültig den Verstand zu verlieren.
Wir warten.
Es bringt mich jetzt schon um. Aber was tut das im Moment nicht.
Wir warten.
Der vom Heim ohne Zustimmung irgendeiner zuständigen Person bestellte Akkordeonvergewaltiger kommt, stürzt sich auf die Vatersfreundin und würdigt mich keines Blickes.
"Ja, so ein Tag, das ist immer was ganz besonderes für die Alten, da blühen sie richtig auf und die ganze Familie hat mal wieder einen Lichtblick und kann den Tag genießen!"
Ich freue mich so sehr, ich könnte die Wände des Pflegeheims mit meinem Herzblut-Organ-Matsch streichen. Alle.
"Aber ich versteh das schon, wenn sie da zurückhaltend sind. Meine Mutter, ach, das ist ja auch so ein Fall.. sie werden halt verwirrt mit dem Alter."
Mein Großvater spricht nur noch, um aus seinem Bett heraus zu verkünden, dass er sterben will.Soviel dazu.
Aber sein System versteht er trotzdem noch.
Das System, hat Papa Mayhem erklärt, ist ein einfaches. Mein Großvater weiß, dass er etwas sagen muss, wenn sich jemand mit ihm unterhalten soll, aber er versteht nicht, was zu ihm gesagt wird, also spricht er einfach gar nicht.
Der Akkordeonvergewaltiger redet weiter, in einer Tour, und ich kann verstehen, wieso mein Großvater, seit er hier ist, nur noch davon redet, dass man ihn gefälligst endlich standesgemäß erschießen soll, schließlich sei er bis zum Schluss im Krieg gewesen, und bei den Russen, und danach bei den Franzosen.
Eine Pflegerin scheucht uns in den Speisesaal, in dem es, wie überall im ganzen Haus, nach abgepacktem, überkochtem Essen, altem Urin, alten Menschen und ein bisschen Desinfektionsmittel riecht, und nach Tod, wir werden an einem Tisch platziert, Opa Mayhem wird, mit Gehwägelchen, reingeschubst und verbringt seine Geburtstagsfeier damit, immer wieder den Kopf auf die Tischplatte sinken zu lassen, unaufhörlich mit den Zähnen zu mahlen und seinen Entschluss, sterben zu wollen, den niemand außer mir für mehr hält als ein verwirrtes Hirngespinst, zu festigen, je mehr "alte Klassiker" der Akkordeonvergewaltiger viel zu laut mit seinem Opfer durch den Raum schleudert. Als er zu uns kommt, versucht Opa Mayhem, zu schreien, aber seine Stimmbänder sind so schwach, dass nur die Vatersfreundin und ich sein wütend-verzeifeltes "Hör auf! Hör auf, geh weg!" hören. Es wiederholt sich noch zweimal, dann verzieht sich der Akkordeonvergewaltiger in eine andere Ecke und mein Großvater legt seinen Kopf wieder auf der Tischplatte ab.
Diverse Versuche der Vatersfreundin, ihn krampfhaft-gespielt-fröhlich aufzubauen, lässt er gekonnt an sich abprallen und so dämmern wir in unserem Weltschmerz vor uns hin, nur noch einmal unterbrochen, als er sich an einem Stückchen Kuchen, dass sie ihm aufzwingt, so sehr verschluckt, dass sein Gebiss herausfällt.
Aber hey, es ist doch ein "ganz besonderer Tag für die Alten. Da blühen sie immer richtig auf!"
Eine hummerrote Hand krallt sich in meine Schulter, als ich mich umdrehe, sehe ich einem anderen Tod ins Gesicht. Der hier wohnt in einer alten Frau, die sonst immer aus irgendwelchen Gründen beim Brötchenholen mit mir reden wollte. Ihr Tod scheint gerade ziemlich am Wüten zu sein, ihre Augen sind leicht gelblich und sehr glasig und verquollen, und ihr ganzes Gesicht ist so hummerrot wie ihre Hände, mit dunkelroten Flecken und an den Kopf geklebten, dünnen Haaren in dem gleichen Topfschnitt, den der "Friseur" hier wohl allen verpasst, obwohl Opa Mayhem aufs Heftigste protestiert hat, schließlich kämmt und pomadisiert er sich die Haare seit mindestens 73 Jahren auf die gleiche Art und Weise zurück, und das geht nunmal nicht mit Topfschnitt.
Die alte Frau redet auf mich ein, während ihr Tod mich auslacht, weil ich so erschrocken bin. Ich werde wieder die ganze Zeit mit dem Namen meiner Mutter angesprochen und sie scheint auch irgendwie mit einer Mischung aus uns beiden zu reden, bis sie von einer Pflegerin weiter geschoben und auf ihren Platz gesetzt wird, wo sie der Tischdeko erzählt, dass sie sich gerade so nett mit meiner Mutter unterhalten hat.
Opa Mayhem legt seinen Kopf auf die Tischplatte und mahlt mit den Zähnen.
88. Geburtstag. Steht auf der Kerze, mit Tippex über die vorherige Zahl geschmiert, den Aufwand einer eigenen Kerze für jeden Bewohner betreibt man nicht. Lohnt sich ja doch nicht.




Dienstag, 21. Mai 2013
edit am Ende des Eintrags.


Samstag, halb drei in Deutschland. Die Welt ist noch in Ordnung, Ms Golightly, die Egoschleuder und die Hipsterbraut sind bei mir auf der Terasse der Gruftterasse, ein Noch-Wirtschaftsinformatik-bald-aber-BWL-Student findet mich total faszinierend und ich fühle mich zum ersten Mal seit Beginn meiner (mehr oder weniger freiwilligen) Besuche hier ansatzweise wohl.
Keine Deplatziertheit, fast keine Angst vor fremden Menschen dank vertrauter Umgebung und theoretisch verlässlicher Begleitung. Vielleicht steht auch einfach der Mond günstig, oder so.
Jedenfalls ansatzweise Wohlgefühl, deshalb schaffe ich es sogar, mit mir unbekannten Personen zu reden. Mit Rapunzel, wobei es sich hier um einen Mann handelt, und eben mit dem Bald-BWLer, der sich uns als Rambo vorstellt und sich später am Abend der Lebensaufgabe stellt, mir und Ms Golightly Billard spielen beizubringen, nachdem ich ihm erklärt habe, dass ich es prinzipiell versuchen kann, aber nicht, wenn andere, fremde Menschen zuschauen.
"Ist doch egal", lacht er und spielt solange eben gegen Ms Golightly, nicht, ohne immer wieder mit mir Blickkontakt aufzubauen, den ich nicht immer reflexmäßig vermeiden kann, wodurch ich die Egoschleuder ziemlich eifersüchtig mache.
Genervtes Schweigen, gelegentliches Spontanverschwinden und diverse bissige Kommentare über den Bald-BWLer sind die Folge.
Ich lache die Egoschleuder ein bisschen aus und fühle mein Selbstwertgefühl etwas aufgepäppelt, bin gleichzeitig aber auch ein bisschen genervt, weil wir erstens nicht zusammen sind, zweitens sein gleichbleibend hoher Verschleiß an Ghettofraktionsmitgliedern und anderen Dumpfbacken-Fans von mir akzeptiert wird und unkommentiert bleibt (was er auch so erwartet und als Selbstverständlichkeit ansieht) und drittens das schließlich meine Sache ist.
Ein Gespräch mit Rapunzel ergibt, dass sich die Egoschleuder auch bei ihm über den bald-BWLer aufgeregt hat. Nicht etwa aufgrund spontan erwachter Gefühle für mich, sondern viel mehr wegen verletzer "Besitzansprüche". Schließlich handelt es sich doch bei ihm um meine aktuelle Gemeinschaft für engeren Körperkontakt, und auch,wenn er rumhuren darf, bedeutet das doch noch lange nicht, dass mir das auch erlaubt ist.
Einmal gehörig verbal Ankotzen nimmt ihm auch diese Illusion, und die nächste Zeit verbringt die Egoschleuder damit, mehr oder weniger beleidigt einer Fünfzehnjährigen nachzurennen, die mit Aufsichtswisch hier ist und um deren Beinchen ein weißes Röckchen flattert, das so kurz ist, dass man bei jeder Drehung/Bewegung/Hinsetzversuchen aller Art die sich darunter befindende pink-schwarz gestreifte, mit Glitzertotenkopf verzierte Unterhose sieht, die davon abgesehen auch beim Laufen durchscheint.
An dieser Stelle möchte ich diversen Bands, dem Internet und allen anderen Faktoren, die bei mir zur Stilfindung beigetragen haben, dafür danken, dass ich niemals so aussah, egal, wie tief ich gerade in der Emophase (die ich bis heute nicht bereue) oder namenlosen Stilmutationen (von denen ich nur eine bereue) drin steckte.
Außerdem danke ich meiner Mutter dafür, dass sie in der Schwangerschaft immer Hüttenkäse und ganz viel anderes gesundes Zeugs gegessen hat, sodass ich nicht nur, trotz Frühgeburt, mit ohrlangen, schwarzen Haaren und (für ein Baby) Endloswimpern, sondern auch mit einem gut funktionierenden Gehirn auf die Welt gekommen bin, das dadurch, dass ich immer in meiner Babywippe auf dem Küchentisch oder gleich neben dem Herd stand, wenn sie gerade gekocht/gebügelt/Zeitung gelesen hat, weiter geschult wurde und auch den (für ein Baby) nicht gerade angenehmen Sturz von der Wickelkommode, von der sie mich mit 6 Monaten runtergeschmissen hat, ohne Schäden überstanden hat.
Somit war ich nämlich bei sämtlichen selbstgestochenen Piercings schlau genug, mir nicht einfach planlos eine Nähnadel durch sonstwelche Körperteile zu hauen und mich dann zu wundern, wieso das Endergebnis schief, siffend und im Falle des nach wie vor sehr populären Lippenpiercings auch noch zahn(-fleisch-)schädigend ist.

Während ich der Hipsterbraut einen Einführungsvortrag in die Welt der semi-seriös gestochenen Piercings mit (in jeder Hinsicht) möglichst sauberem Endprodukt gebe, lässt der Beinahe-BWler namens Rambo Ms Golightly immer wieder alleine am Billardtisch stehen, weil er das Bedürfnis hat, jetzt, sofort, auf der Stelle, ohne Verzögerung tanzen zu gehen. Dann steht er mitten auf der Tanzfläche und macht ausschweifende Walla-Walla-Bewegungen, die irgendwie auch nur bei ihm gut aussehen und man erkennt, dass er mit der Nietzschekatze befreundet ist.
Später am Abend traut er sich aber auch ein Stockwerk höher, wo ich (und abhängig von meiner Überzeugungskraft meistens auch ein Großteil der Menschen, mit denen ich da bin) mich meistens verstecke aufhalte, sitzt eine Weile bei Ms Golightly, der Hipsterbraut und mir und beobachtet mich beim Mitwippen, flüchtet dann aber wieder in tanzbarere Gefilde.
"Der steht auf dich", stellt die Hipsterbraut fest.
-"Messerscharf kombiniert". Ms Golightly nippt mit todernstem Blick an ihrem Glas. "Mayhem, bleib anständig!"
-"Ach, hör nicht auf die,lass es krachen!", widerspricht ihr die Hipsterbraut, "Als Single braucht man das!"
Weil ich keine Lust auf Grundsatzdiskussionen und zudem versprochen habe, es zumindest mit dem Billardspielen zu versuchen (damit der Bald-BWLer mir meine absolute Unfähigkeit endlich glaubt), mache ich mich auf die Suche nach ihm. Und der Egoschleuder, auf kuscheliges Billardspielen alleine mit Rambo habe ich nämlich keine Lust und die effektivste Verteidigung gegen eventuell zu aufdringliche Männer ist immer noch, einen anderen mitzuschleifen, der sowieso schon ein bisschen angepisst ist.
Ich finde dann auch beide auf der Raucherterasse, wo sich Rambo nur hinbegeben hat, weil ich dort auch manchmal anzutreffen bin, und wohl notgedrungen angefangen hat, sich mit der Egoschleuder zu unterhalten, die sich wieder beruhigt zu haben scheint und sich sogar etwas anhänglich zeigt.
Meine Theorie, dass es sich bei stark an den eigenen Bedürfnissen orientiertem und keinesfalls anhänglich-weinerlichem Verhalten um die einzig richtige Möglichkeit des Umgangs mit ihm handelt, verfestigt sich somit weiter, und er bleibt tatsächlich brav an meiner Seite, sodass sich Rambo nicht traut, so zudringlich zu werden, wie er vermutlich möchte, weshalb seine Gesellschaft dann auch ganz angenehm ist eigentlich.
Somit bleibt der Abend auch ganz nett, als sie die letzten Besucher und uns rauskehren, wehre ich mir nicht dagegen, Rambos Handynummer zu bekommen, auf die Gute-Nacht-SMS, die ich ihm schreibe, weil ich wissen will, ob meine Flatrate auch für sein Netz gilt (tut sie nicht), bekomme ich fast sofort eine Antwort und die Aufforderung, ihn im sozialen Netzwerk meines Misstrauens und/oder dem Gesichtsbuch, sollte ich dort sein, hinzuzufügen/zu adden (tue ich erstmal nicht), habe am nächsten Morgen eine Anfrage, bekomme eine Nachricht, nach meiner zeitversetzten Antwort werde ich nach einem Date gefragt und das aufgrund von "Hilfe, jemand hat Interesse an mir!"/allgemeiner Panik geschriebene "Ich bin zur Zeit allgemein und besonders wegen dem Abi im Stress, später aber gerne" (Verdammt, wieso "gerne"?) wird mit einem "wäre sehr schön, wenn das klappt :)" und dem Hinweis auf die absolut erotisierende optische Wirkung meiner beiden Lippenpiercings beantwortet.

Genau eine Stunde später trudelt eine Nachricht der Nietzschekatze ein, die gestern mit Rambo auf einem Konzert war und jetzt, nachdem ich mich schon kilometertief in der ominösen Friendzone wähnte, mit mir ins Kino möchte. Alleine.
Und die auf meine Bedenken bezüglich meines Wieder-Heimkommens (Auto massiv am Spinnen, Züge immer noch ein selten gesichteter Luxus, der nach wie vor 6km entfernt alle paar Stunden mal durch die Pampa rattert und abends/nachts gar nicht mehr fährt) vorschlägt, ich könne bei ihr übernachten und dann am nächsten Tag, wenn es wieder Züge in meine Richtung gibt, heimfahren, vorausgesetzt, es wäre mir nicht unangenehm, weil wir uns noch nicht so lange kennen.
Mit Zwinkersmiley.

Ich bin panisch, weil mich auf einmal jemand mag, weiß nicht, wie weit ich erlaubterweise gehen darf, wenn ich dabei niemandes Gefühle verletzen will (das letzte Mal, als ich diesen Gedanken hatte, endete damit, dass ich auf einmal fest mit dem Raucher zusammen war, meine Anspannung bezüglich dieser Thematik ist also eindeutig legitim), und überhaupt wäre ich viel lieber humorvoll-sympathisch-anscheinend ansatzweise charismatisch, wenn ich einem Ernstfall wie Mr.Gaunt gegenüber stehe, und nicht nur, wenn es jemand wie Rambo ist, der sympathisch und nicht ganz hässlich, aber mehr auch nicht (und davon abgesehen kurzhaarig!) ist.
Aber nein, wenn es mal angebracht wäre, sich zusammen zu reißen, bin ich ängstlich-verkrampft-schweigend-schüchtern-arrogant wirkend-doof und die Wasserflasche, an die ich mich dann klammere (Gläser kann man zerquetschen oder sie rutschen einem aus der Hand) tut mir jedes Mal aufs neue Leid, wenn ich ihren vollkommen zerdellten Plastikkörper und ihr nicht nur zerrupftes, sondern zerschreddertes Etikett anschaue, nachdem die Stresssituation vorbei ist.

Die überlasten mich. Alle miteinander.


Edit: und GENAU in diesem Moment kommt eine sms von der Egoschleuder an, die nicht nur ein (wie man am Schreibstil der dazugehörigen Wünsche, die sich mit "alles soll gut werden für dich" zusammenfassen lassen) aus einer anderen Nachricht kopiertes Satzzeichen-Bärchen enthält, sondern auch ein "Ich liebe dich (in nem gewissen Grad).
A) "Ich liebe dich"?
B) "In nem gewissen Grad"??
I. heißt es nicht "(bis) zu einem gewissen Grad"?
II. Was will der Mensch mit damit sagen?
C.Ist das auch aus einer anderen sms kopiert, wie das Bärchen und seine Wünsche, soll es mich nur verunsichern und ist ein Auswuchs der BWLer-Eifersucht, ist er betrunken, oder meint er es ernst?

Wie schon gesagt: Die überlasten mich, alleallealle miteinander.




Sonntag, 19. Mai 2013
..am Anfang vom Ende zu sein
Die nervlich zusammenbrechende und im Angesicht der Einweisung ihres suizidgefährdeten Freundes absolut mustergültig-lehrbuchgerecht schwersthyperventilierende Ms Golighty irgendwie vom Umkippen abgehalten und stabilisiert, ganz im Gegensatz zur gottverdammten Mutter ihres Freundes, die mir, Schock hin oder her, so dermaßen auf die Nerven ging und zielsicher alles nur schlimmer machte,
nebenher bei der Nixe verkackt, weil sie sich, bei 1,72m 50kg wiegend, "gar nicht zu dünn" findet und weigert, zu essen, "sonst werd ich schwabbelig", und zum Zunehmen betreibe sie schließlich Muskelaufbau, und ich ihre Vorstellungen vorsichtig in Frage gestellt habe,
mich wieder einmal nur knapp davon abgehalten, den Raucher anzurufen,
die Handynummer und ein potenzielles Date von/mit einem Noch-Wirtschaftsinformatik-bald-aber-BWL-Studenten gekriegt, einfach so,
Das Matheabitur, sollten Folgefehler legitim und beide Korrektoren gnädig gestimmt sein, irgendwie bestanden,
und fast einen Kontakt zu Mr.Gaunt hergestellt.
Das nenne ich mal eine Wochenendbilanz.

man kann ja einfach neu beginnen..
Aus einem "ich geh mal schnell Kippen holen, kommt wer mit?" des Mützenträgers, Ms Golightlys Freund, werden zwei Stunden, in denen wir, auf einer Bank vor der Kirche sitzend, einfach reden. Über Ms Golightly, mit der er, zwei Wochen, nachdem seine Ex, die ihr wie aus dem Gesicht geschnitten ist, Schluss gemacht hat, zusammen gekommen ist, über das Leben, darüber, wegen der Akne, die einen jahrelang im Griff hatte, gemobbt zu werden, und irgendwann darüber, dass sich die Band Esmeraldas, der Opernsängerin, des tanzenden Historikers und Mr.Gaunts aufgelöst hat, bandinterne Probleme, sagt der Mützenträger. Und dass Mr.Gaunt jetzt, wo er wieder Bassist bei der gar nicht mal so unbekannten Black Metal-Überband ist, ein bisschen abheben würde.
Mr.Gaunt.
Eine Minute schweigen, dann sage ich es ihm.
Und der Mützenträger fängt an, übers ganze Gesicht zu strahlen und sagt, ist doch toll, und dass ich zu Mr.Gaunt gehen und es dem auch sagen soll, und ich erkläre ihm, dass das nicht so einfach geht, ohne Grundlage, und Ms Golightlys Freund beschließt kurzerhand, ihn demnächst anzurufen und zu fragen, ob er mal mit will am Wochenende.
"Ich hab mit dem zwar genauso wenig zu tun wie du", meint er achselzuckend, " Aber du hast schon recht, wenn du sagst, ja, Mützenträger, wenn du das mit dem "einfach anrufen und nach einem Date fragen" so toll findest, dann machs doch selbst!"
Meine daraus resultierende gute Laune hält noch genau, bis wir Planet Terror fertig gesehen haben, und dann bröckelt die Positivlage nicht mehr nur langsam ab, sondern implodiert.
....und nen Eimer schwarzer Farbe mitnehmen
für den Fall, dass es mir zu bunt wird

Wieder mal Krach zwischen Ms Golightly und dem Mützenträger, weil er dauerreizbar ist und sie es blöd findet, dass er so viel trinkt und raucht heute (mengentechnisch allerdings kein Vergleich zum Raucher und Co), irgendwann sagt sie, dann schläft sie eben bei der Nixe und mir im Gästezimmer, er rennt ein paar Mal rein, um Kippen, den Rest Rum, Met und seine Jacke zu holen und nach draußen zu verschwinden, sie bittet darum, von Inkonsequenz abgehalten zu werden, marschiert dann aber doch rüber, als er wieder von draußen kommt und sich ins andere Zimmer legt, kehrt wieder zu uns zurück, als er aufsteht, um auf die Arbeit zu gehen, und gerade, als die Nixe schon wieder am Einschlafen war, kommt sein Vater rein, fragt, was gestern Abend los war, und sagt dass sein Sohn sich umbringen will.
Aus dem Raum schießende Ms Golightly, dann Ruhe.
Kirchturmläuten, Vogelstimmen.
Irgendwo haben zwei Katzen lautstark Geschlechtsverkehr.
Unten in der Wohnung rumpelt es gewaltig, dann ist wieder Ruhe.
Die Nixe sagt, sie hat ein schlechtes Gewissen, nicht dabei zu sein, ich beschließe, auf mein Gefühl zu hören und dementsprechend erstmal hier oben zu bleiben.
Bis der Mützenträger in der Tür steht, mayhem, wir brauchen dich, meine Freundin kippt gleich um.
Aufspringende und ihre Decke irgendwo in die Ecke schmeißende Frau Mayhem, die, in Boxershort und Gammelshirt, mit wehendem Haar quer durch das ganze Haus und an lauter gaffenden Fremden vorbei rennt , sich mit nackten Knien auf den (steinernen) Fußboden neben den Stuhl wirft, auf dem Ms Golightly schneller schnappatmet als jeder aufs Land geworfene Goldfisch, und ihr sagt, sie soll jetzt gefälligst in die scheiß Brotzeittüte atmen.
Zwanzig Minuten atmen wir in die Brotzeittüte, dann atmen wir wieder zusammen. Dann fängt die Mützenträgermutter schon wieder damit an, zu betonen, wie sehr sie das alles gerade aus dem Gleichgewicht bringt, und dass Ms Golightly doch "ein Engel" sei, den "der Himmel geschickt" habe, um ihren Sohn zu "retten", woraufhin diese wieder anfängt, gleichzeitig zu heulen und zu hyperventilieren, was atmen generell eher erschwert. Ich weise also die Mutter daraufhin, dass das Thema gerade wohl nicht so gut ist, und schaffe es tatsächlich, Ms Golightly zu beruhigen.
Bis die Mutter wieder anfängt, zu jammern und pseudo-ruhig-durchdachte "Wir müssen jetzt alle stark sein"-Sprüche raushaut und die Brotzeittüte zum dritten Mal zum Einsatz kommt.
So spielen wir das noch ein paar Mal durch, bis die Mützenträgermutter nach draußen geht, um nach dem Notarzt zu schauen, der, vom angerufenen Seelsorger gerufen, samt Rettungsdienst und Polizei anrückt.
Draußen reden sie über die Psychatrie, den Vorschlag, der den Mützenträger vorhin ausrasten und laut polternd das Haus demolieren lassen hat, drinnen bitte ich die Nixe, die Türe und das Fenster zu schließen, man muss Ms Golightly ja nicht alles mit anhören lassen, und baue diese, so gut es eben geht, wieder auf. Wenn es etwas gibt, dass ich von meinem Vielleicht-auch-nicht-Vater für Notfälle gelernt habe, dann das Gefühle ausblenden-Beruhigen-Ablenken-Aufbauen.
Und so mache ich schlechte Witze und rede über Positiverinnerungen von damals, als der Raucher noch nicht feindlich gegen alles und jeden außer mir war und wir zusammen was gemacht haben, und irgendwann können wir die Brotzeittüte weglegen und auch die Küchenrolle, die als Taschentuchersatz diente, wieder wegstellen.
Draußen bleibt es eine Weile ruhig, dann verabschiedet sich der Mützenträger von Ms Golightly. Hat sich doch für Klinik entschieden, ihr zuliebe, weil er sie nicht mehr mit seiner Laune runterziehen will, sagt er.
Dann rücken die Sanitäter mit ihm ab, seine Eltern packen ihm eine Reisetasche mit den wichtigsten Sachen, Ms Golightly weint noch ein bisschen, die Nixe lebt ihren Ordnungszwang aus und bringt sein Zimmer so hartnäckig auf Vordermann, dass es danach aussieht wie im Möbelhaus.
Zwischendurch kommt die Mutter immer mal reingelaufen, sagt irgendwas unpassendes und geht wieder raus, dann werden wir zum Frühstück geschleift, wo die Nixe angewidert und nach langem Drängeln der Mützenträgereltern ein Croissant erst seziert und anschließend in winzigen Bissen isst und mit dem ihr aufgezwungenen Kaba runterspült, während die Eltern die ganze Zeit versuchen, sich selbst zu beruhigen, indem sie uns erzählen, dass er es ihnen schon nicht die auf ewig vorhalten wird, dass es besser so war, dass sie ihm schließlich nicht mehr helfen konnten, und so weiter.
"Ich weiß, dass Sie sich jetzt gerade damit beruhigen wollen, und dass es sowas von gar nicht klappt. In der Situation ist beruhigen grad einfach nicht drin, aber Sie haben keinen Grund für Vorwürfe. Wirklich. Sie haben ihn nicht abgeschoben. Und er denkt auch nicht, dass Sie ihn nur loshaben wollen."
-"Jaja, jaja, da hast du ganz Recht", sagt die Mutter und versucht immer noch, Kontrolle vorzuspielen, wo keine ist, während die Nixe auf ihrem Teller Croissanthüllenbrösel in die eine Ecke und die Fetzchen des Inneren in die andere Ecke schiebt, "und wir haben ja versucht, ihm zu helfen. Aber er will ja keine Medikamente nehmen, außer jetzt halt das Johanniskraut, aber das ist ja pflanzlich, was soll das schon bringen.."
Ich verzichte darauf, den Hinweis, dass auch Pflanzen wirken, und das, oh wunder, auf chemischem Weg ("aber es ist doch natürlich!"), anzubringen und gehe gleich zum wichtigsten Punkt über:
"Sie können ihm nicht helfen."
Fassungslose Mutter, ansatzweise verstehender Vater.
"Sie können ihm nicht helfen, da rauszukommen. Sie können als Familie vielleicht stabilisieren, und anbieten, da zu sein. Aber der Rest ist seins. Und damit muss er alleine fertig werden."
Ach, ich sei ja so gefasst und klar denkend, man würde richtig merken, dass ich stabil mit beiden Beinen im Leben stehe und deshalb die Situation so gut unter Kontrolle habe.
Die Nixe prustet in ihren Kaba.

"...aber wir sind ja stark, eine Kämpferfamilie, wir haben ja schon alles mitgemacht", plappert die Mützenträgermutter, während sie und ihr Mann uns nach Hause fahren, "Damals, als der Mützenträger gerade geboren war, Ms Golightly, ich habs dir ja erzählt, da hatte er einen wunden Darm, und da mussten wir wieder ins Krankenhaus, obwohl wir gerade erst draußen waren, und seine Schwester, die war auch drin, und das war ja so schrecklich. Und dann haben sie noch festgestellt, dass ich Diabetes bekommen habe, und mein Hüftgelenk total kaputt ist und gesagt, das liegt an meinem Gewicht. Und dann ist noch der Cousin meines Mannes gestorben.Alles auf einmal, das war schon sehr schwierig für uns. Aber wir sind ja eine Kämpferfamilie, eine Familie aus Kämpfern, jawohl."
Ich suche irgendwo in mir Verständnis, echtes Verständnis und viel Mitgefühl für diese Familie und diese Frau, die gerade in ihrem "die Welt geht unter, aber wir müssen stark sein", feststeckt, aber da ist nichts.
Nur Leere, und ein bisschen Wut.
Weil die Frau da die ganze Zeit sagt, man muss eben einfach stark sein. Weil sie (noch?) keine Ahnung hat, dass es eben manchmal nicht mehr geht mit dem stark sein, und es wichtig ist, diesen Punkt verdammt nochmal wahrzunehmen. Und trotzdem weiter zu machen.
Einfach weiteratmen. Auch, wenn nichts mehr geht, nichtmal mehr kriechen.
Einfach weiteratmen.
Ein bisschen traurig ist vielleich auch da.
Weil mein Vater gesagt hat, dass das sowieso alles nur sinnlose Geldverschwendung an Idioten ist, als ich zu einem Psychologen wollte, und dass Depression nur eine Erfindung eben dieser Geldeinheimser ist, die ich jetzt als bequeme Ausrede heranziehen würde, ich sei einfach nur faul und Ende, und dass ich mich auf die Reihe kriegen und "wieder wie ein Mensch essen" soll,als nichts ging außer fressen oder gar nichts, von der Vatersfreundin kommentiert mit "du frisst uns noch die Haare vom Kopf und dich noch fetter".
Begegnungen mit allzu liebevollen Familien verstören mich immer ein bisschen.
Und ein bisschen trotziges Unverständnis, zusammen mit dem Gedanken, ich bin das Kind einer Frau, die seit ihrem 17. Lebensjahr alkoholabhängig war, einen Monat nach meinem dreizehnten Geburtstag gestorben ist, mich nach 13 Jahren Hassliebe, in denen sie mich durch schon surreale Geschichten und diverse Scheiße durchgejagt hat, die mir ein heißes Bügeleisen an den Hals geknallt, mir ihrem blutigen Speichel ins Gesicht gespuckt, mich standardmäßig geschlagen und mir sämtliche Dinge, die ich gar nicht wissen wollte, weil ich dazu eindeutig zu jung war, erzählt hat,
die eigentlich nicht da war, für mich, aber immer noch mehr als alle anderen,
die mich so wahnsinnig wütend, und so namenlos verzweifelt machen konnte,
die gelegentlich mal meinen Vater mit dem Messer bedroht hat,
der einmal vor mir geweint und ein anderes Mal meinen Hals so fest zwischen Türrahmen und seinem Arm eingeklemmt hat, dass ich seitdem weiß, dass das Gefühl, dass ich habe, wenn ich mit fremden Menschen alleine auf meiner Meinung nach für diese Situation zu wenig Platz sein muss, "ersticken" heißt,
der mir mit 9 oder 10 mal verboten hat, im Haus zu schlafen, weshalb ich mit einer Flasche Wasser im Auto meiner Mutter in der dazugehörigen Garage eingesperrt wurde, weil ich mein Zimmer nicht aufgeräumt hatte.
Mein Großvater siecht schon die ganze Zeit vor sich hin, scheint jetzt aber endgültig seinen Wunsch, zu sterben, erfüllen zu können, die Anderen haben sich schon vorher verabschiedet, ich bin wegen der ersten 13 Jahre ein Trauma- und gelegentlich Nervenbündel, die Zeit danach war auch nicht gerade die Beste, außerdem die Vaterschaftssache, der Raucher, der ganze Rest.

Und dann sagt sie mir, dass ich ja so toll stabil bin und sie am Ende sind, weil sie schon alles mitgemacht haben.?





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