Es ist vorbei.
Das Problem ist vorbei, zumindest in seiner jetzigen Form.



Heute waren sie fertig, ganz offiziell, mit Nachprüfungen und wohl auch mit den Nerven, und sie haben das als Anlass genommen, ganze Klassenzimmer mit Zeitungspapier zu fluten, Tische im Schulhaus zu verteilen, die Treppen zu verbarrikadieren und schließlich, zum Großteil völlig betrunken, auf dem Anhänger eines Traktors auf dem Pausenhof vorzufahren und sich zu feiern.
Das Szenario glich dem vom Abiturientenfasching, rennende Fünftklässler, ganz cool genervt guckende Neuntklässler, ich eher semi-motiviert.

Und da haben sie geschrien und gesungen und getanzt und mit Sachen geworfen, obwohl es ausdrücklich hieß, kein Abistreich mehr an unserer Schule, und vermutlich war das die erste und einzige glorreiche Tat, die einige aus diesem Jahrgang vollbracht haben; nicht, weil so ein Abistreich lustig wäre, bei uns ist es sowieso immer das Gleiche, lediglich das Niveau sinkt immer weiter, während der Alkoholpegel steigt, sondern weil Rebellion ja bekanntlich im Kleinen anfängt, auch, wenn es nur um,beziehungsweise gegen die Schulleitung geht.

Fürs Süßigkeitenwerfen und Colaverteilen hatte dieses Jahr wohl das Geld nicht gereicht, so fiel auch die obligatorische Schlägerei um das Zeug und die Gebäckstangen, die verteilt wurden, eher gering aus, allgemein war nicht so viel Action, bis ich zum Sekretariat gerufen wurde. Einsatz.
Im Nebenzimmer ein zitterndes Häufchen Elend, dabei Murphy, der ihn bereits in Schocklage gebracht hat und treu und tapfer seine Beine hochhält. Da sieht man, welcher Jahrgangsstufe noch ein richtiger Erste-Hilfe-Kurs aufgebrummt worden ist.
"Was los?" Nach einem Hochgeschwindigkeitssprint vom anderen Ende des Geländes hierher gibt es auch Sanis, die garnicht mehr sprechen können vor lauter Atemlosigkeit, da bin ich noch ganz gut dabei.
-"Mirs schlecht". Außerdem zitterst du ohne Ende und siehst aus, als würdest du mir gleich umkippen. Bitte tu das nicht, ja?
"Kennst du die Nixe?", frage ich einen zweiten Mitdabeisteher. Das Funkgerät würde sie jetzt sowieso nicht hören.
-"Ich kenn die. Soll ich sie holen?" Murphy überreicht dem Mitdabeisteher die Beine des Elends und rennt los, Nixesuchen.
Sie kommt dann auch und hinter ihr her der Schulleiter, der mich fragt,ob ich etwa ernsthaft erwäge, den Rettungsdienst zu rufen.
Als er zehn Minuten später nochmal vorbeischaut und man draußen vertrautes Sirenenheulen hört, sehe ich die Frage als beantwortet an.

Ein paar pseudowichtige Worte des Kommentators, der, obwohl nicht im Dienst, natürlich hatte schauen müssen,was da passiert (allerdings erst aufgetaucht war, als das Elend schon abtransportiert wurde), einen Ausraster der Mitsanitäterin und zwei schlechte Unterhaltungsspiele der Abiturienten später stehe ich mit der Nixe im Eingang der Pausenhalle, immernoch zitternd; vermutlich fast so schlimm wie das Elend selbst.
"Hast du gut gemacht, Nixe."
-"Ich hab doch nur gemacht,was du gesagt hast."
"Trotzdem. Oder deswegen."
Vermutlich habe ich die einzige fähige Schulsanitäterin in unserer neuen Gruppe ausfindig gemacht.

Und da stehen sie und versuchen, Action zu bieten, zu unterhalten, sich nebenher an Lehrern für jahrelange Quälerei zu rächen und auf uns, die Nächsten, zu schimpfen.
Sie versuchen es so gut, wie sie eben können, wo doch beinahe die Hälfte im Oberstufenzimmer sitzt, entweder aufgrund erreichter 2,8 Promille-Grenze oder wegen zu viel Coolness, und immerhin ist es nicht ganz so ein Trauerspiel wie an Fasching, ein paar Fünftklässler sind sogar fast so etwas wie begeistert.

Ein Trupp Alkoholleichen hat sich aufgerafft und schlurft Richtung Pausenhalle; der Erste, der ankommt, marschiert mitten in ein Spiel rein auf den verdutzten Deutschkursleiter zu, legt ihm einen Arm um die Schultern und schießt mit seiner Handykamera ein Erinnerungsfoto, bevor er aus einem Blumenkübel eine Flasche Sekt angelt und mit ihr nach draußen verschwindet.
"Das...war jetzt eher weniger geplant",lacht die Moderationsabiturientin unsicher und versucht, im Programm weiter zu machen.
Im Zweifelsfall einfach weitermachen, kennt man schließlich schon von Fasching..

Und auf einmal steht das Problem vor mir.
Aus dem Nichts aufgetaucht, eindeutig ohne Wahrung des Höflichkeitsabstands, steht vor mir und starrt mich an, nichtmal seelenlos-betrunken, sondern vermutlich nur betrunken, starrt mich in Grund und Boden und die Welt um mich herum bleibt stehen.
Damals hat er auch manchmal gestarrt, am Anfang, kurz, nachdem wir uns über den Weg gelaufen sind.
Damals..
Damals ist früher.
Damals hat es nicht bis in die Gegenwart geschafft.
Damals ist vorbei.

Die Welt um mich herum läuft weiter und er davon,letzter Tanz, in der zweiten Reihe und sogar ohne größere Patzer, sie tanzen Richtung Ausgang.
Nein wir bleiben nicht stehen..
Da tanzt er sich Richtung Ausgang, das Problem.
Mehr als ein halbes Jahrzehnt unglückliche Liebe und alles, was dazugehört, tanzt da Richtung Ausgang, einfach so und sogar mit den richtigen Schritten, jeder zieht ihn ein Stück weiter aus meinem Herz, aber das Ding kann mal wieder nicht loslassen und die Gedanken rasen.
Da hinten geht der richtige Zeitpunkt
Da drüben fährt unsere letzte Chance
Da vorne fällt die größte Lüge
Dort oben sitzt er auf seiner Wolke und lacht


Eine letzte Drehung der Abiturienten,eine letzte Erinnerung in meinem Gehirn, sein Lächeln, damals, vor sechs Jahren, als es so aussah, als würde alles ganz anders werden und niemals so, wie es jetzt ist, dann fällt die Tür zu und ich bleibe stehen,in der wie leergefegt wirkenden Aula, in der Fünftklässler Luftballons nachjagen und nur ein paar zertretene Laugenstangen und eine zerplatzte Sektflasche daran erinnern, dass sie heute gefeiert haben,
dass es vorbei ist.