Sonntag, 8. Januar 2012
Ich weiß nicht, wie lange es noch so ist.
Es wird schlimmer mit der Zeit, wissen Sie?
Nach meiner Mutter hatte ich ein genaues Bild vom menschlichen Verfall, er hatte gelbe Zähne und ein aufgeblähtes Gesicht und roch nach Alkohol und Dingen, die man nicht riechen will, vor allem nicht bei Menschen, die einem lieb sind.

Aber es gibt noch einen anderen menschlichen Verfall, die Art von Verfall, die debil grinsend den Nebel über einem Gehirn ausbreitet wie eine schwarze, schwere Decke, und die Person, deren Gehirn vom Verfall vernebelt wird, die grinst dann auch so,manchmal, und manchmal wirkt sie verwirrt und vernebelt.
Beide Arten des Verfalls haben gemeinsam, dass ich nichts gegen sie machen kann, auch wenn ich hingehen und den einen Verfall ins Gesicht schlagen will und ihm sagen will, lass meinen Großvater in Ruhe und verzieh dich. Wäre der Verfall eine Person, mit der man reden kann, würde er mich auslachen, aber vielleicht könnte ich ja mit ihm diskutieren und ihn davon überzeugen,dass ich Opa Mayhem zurückbekomme.
Leider lässt der Verfall nicht mit sich reden, und so geht es jeden Tag ein Stück weiter.
Und jeden Tag verspreche ich bei jeder der zehn Nachfragen, dass ich kontrollieren werde, ob die Haustür abgeschlossen ist; ob das Fenster im Schlafzimmer meines Vaters geschlossen und der Rolladen heruntergelassen ist; nochmal ob alle Türen zu sind; ob der Keller auch abgschlossen ist.
Höre mir an,was er erzählt, immer wieder das selbe,maximal mit wechselnden Tagesthemen; und versuche einfach, etwaigen Besuch bestmöglich von ihm fernzuhalten, weil ich nicht will, dass er sich belästigt fühlt oder schlimmer, Großvater Mayhem auslacht.
Wer meinen Großvater auslacht, bekommt es mit mir zu tun, hörst du.

Heute war er wieder da und ist länger als sonst geblieben, bevor er wieder abgezogen ist; es war nämlich die Nachbarin da,und so hat er ihr erzählt, was er immer erzählt, von früher, als er zur Arbeit gelaufen ist, von den Frankreichurlauben; von Stationen seiner Kriegsgefangenschaft. Sie sitzt so da und schaut ihn an, handelt nach dem "Nicken&Lächeln"-Schema und weil er so schlecht hört, kann sie zwischendurch zu mir sagen,dass sie das komisch findet, aber irgendwie lustig.
Ich finde es leider nicht lustig und irgendwas schnürt mir die Luft ab, und ich kann mir das nicht länger ansehen und drehe mich weg und sehe, dass die andere Person im iseekyou geschrieben hat und versuche, mich darauf zu konzentrieren, und wenn es nur um Aldi Süd und Aldi Nord geht, Hauptsache, mein Gehirn ist abgelenkt.
Muss trotzdem immer wieder rüberschauen zu ihm, wie er so dasteht und voll und ganz aufgeht in seiner Unterhaltung, weil die Nachbarin richtig handelt: Auf Fragen einfach nicht antworten, er unterbricht einen sowieso und will eigentlich gar nichts hören; lieber so tun,als würde man zu einer Antwort ansetzen und ihn dann weiterreden lassen.
Ich erkenn dich nicht wieder..
Es war doch anders. Es war doch mal anders, eigentlich die ganze Zeit.
Erst jetzt..so extrem, einfach so. Macht er sowas.
Und ich habe Angst vor dem Tag, an dem es zu viel wird; habe mich daran gewöhnt, mit dem Namen meiner Cousinen oder meiner Tante angesprochen zu werden und manchmal sogar mit dem meines Vaters; aber ich habe mich nicht daran gewöhnt,dass der Verfall die Nebeldecke über das Gehirn meines Großvaters geworfen hat und sie da nicht wieder wegräumen will.
Daran will ich mich auch nicht gewöhnen, weil ich es nicht akzeptieren will und vielleicht auch nicht akzeptieren kann.
Wie er vor sich hin verkindlicht und verwirrt wird und vereinsamt, der Nachbarin und dem Postboten vorbrabbelt, was ihm einfällt und mir und jedem,dem er begegnet; es unmöglich macht,pünktlich das Haus zu verlassen, weil er einen in Unterhaltungen festnagelt; auf seine Fragen keine Antwort hören möchte, aber irgendwie auch eine voraussetzt und ich weiß einfach nicht, wie ich mich noch verhalten soll.
Und als er wieder weg ist, da fängt die Nachbarin laut an, zu lachen, sie findet es ja so lustig, den verwirrten kleinen alten Mann.
Ich sehe sie an und mir ist eher nach Heulen zu Mute, und ich überlege, ob ich ihr das sage, aber dann erinnere mich an die Male, als ich versucht habe, ihr Emotionales zu erklären; da lasse ich es lieber.
Sage ihr nur,dass es nicht lustig ist. Ganz und gar nicht.
Schlucke, fahre mir kurz über die Augen und vertreibe die Katze vom Altpapier.
Sie sagt, sie versteht mich nicht. Wäre doch lustig. Vielleicht nervig,wenn man es jeden Tag hört, aber sonst sei es doch lustig.
Es ist nicht lustig, wiederhole ich mich.

Es ist nicht lustig und wird auch nie lustig sein; die Momente, in denen es lustig wirkt, in denen Lachen wir nur,um nicht zu Weinen.
Mein Vater, der seinen Vater verloren hat und mit einem Mal auf zwei Kinder achten muss, von denen sein eigentliches immer öfter das erwachsenere ist;
Die Vatersfreundin, die sich einfach nur genervt fühlt und betont, was für eine große Last man ihr mit mir und Großvater Mayhem aufgeladen hat.
Und ich.
Ich finde es nicht lustig.
Und solange der Verfall die Nebeldecke nicht komplett ausbreiten konnte, werde ich weiter jeden Tag versprechen,zehnmal die Türen zu kontrollieren; erzählen, wo ich hingehe, mit wem,was ich dort mache und wann ich wiederkomme, unterbrochen von Einwürfen mit Informationen zu seiner Tagesgestaltung; werde nicht mehr zusammenzucken,wenn hinter mir die Tür sofort abgeschlossen wird,sobald ich das Haus verlassen habe; werde geduldig zuhören, wenn er aufsagt, was er mir gerade erzählen will.
Und wenn es weitergeht, mit dem Verfall, dann werde ich mich wohl auch daran gewöhnen,öfter mit dem falschen Namen angesprochen zu werden;
Und in jedem Fall werde ich jedem, der ihn auslacht, einen mindestens verbalen Faustschlag verpassen.
Egal, ob er nervt, aggressiv macht, Zeit stiehlt, Nerven raubt und Herzen strapaziert;
Verwandschaft,meine Verwandschaft wird nicht ohne meine Genehmigung ausgelacht oder beleidigt.
Und niemand bekommt die Genehmigung, meinen Großvater auszulachen oder zu beleidigen. Egal,was passiert.

Warum meine Augen so rot sind, will die Nachbarin wissen, als ich mich wieder zu ihr drehe.
Wimper. Da war eine Wimper in meinem Auge, die ich rausgewischt habe, sage ich ihr und denke, das wird sie mir niemals glauben,eigentlich müsste sie es schließlich hören... Hört sie aber nicht, und nach ein paar weiteren Atemzügen habe ich meine Fassung wieder.
Türkis. Deine Augen sind türkis, sagt die Nachbarin und schaut mich genauer an. Dein Opa hat auch türkise Augen, sagt sie. Nur dass meine jetzt grüner aussähen, weil der Rest wegen der Wimper so verheult-gerötet sei.
Aber sonst wären sie denen meines Großvaters gleich, nur unruhiger gemustert.
Ich stehe auf und verlasse den Raum.