Frittenbude - Von Allem Zu Viel from Lucas Paeth on Vimeo.

Es ist die Ghettoschwester, die neben dem Fremden vorne im Auto sitzt, sms schreibt und raucht, während ich auf der Rücksitzbank versuche, einen Turm aus Gitarrenkabeln, einer Mappe und einem Stapel Visitenkarten vorm Einsturz zu bewahren.
Es ist auch die Ghettoschwester, die einen Kuss auf die Wange bekommt, aber aus der hintersten Ecke meiner Persönlichkeit flüstert der winzige Rest rationalen Denkens, dass die beiden sich schließlich schon wesentlich länger kennen als wir uns.

Außerdem ist es die Ghettoschwester, wegen der wir immer wieder den Film unterbrechen und eine Raucherpause einlegen müssen, die nebenher telefoniert und im Fratzenbuch online ist und kurzerhand das Abendessen des Fremden an sich nimmt, weil sie Hunger hat.
"Sach mal Fremder", fragt sie zwischen zwei Bissen, "Deine Mum kocht ja total gut und alles, aber wieso bistn du bei der, du hast doch deine Bude?"
-"Du weißt,dass sich meine Eltern getrennt haben."
"Ja und? Du hast doch gesagt, du willst nix mehr mit deinen Eltern zu tun haben."
Der Fremde leert die dritte Bierdose, es sollten noch eineinhalb Weinflaschen folgen. "Meine Mutter braucht mich jetzt, also bin ich da. Egal, ob wir uns verstehen oder nicht."
Die Ghettoschwester lacht. "Fremder, du bist echt komisch".
Ich sehe mich in dem winzigen Zimmer um. Auf einer improvisierten Haltevorrichtung für eine Western- und zwei E-Gitarren hängen Krawatten, am Wand ein System of a Down-Poster und eine Anzugjacke. Auf dem Schreibtisch eine ähnliche Papierflut wie auf meinem, außerdem diverse Flaschen, Weißwein, Rotwein, Havanna. An der Wand noch zwei Bandflaggen und auf der einen irgendwas mit Edding geschrieben.
"Normal ist nur, wer sonst nichts kann", befindet Ms Golightly.
Ich erfahre, dass der Fremde noch mehr Geschwister hat, die allerdings noch nicht ausgezogen waren, und sie einstimmig beschlossen haben, bei ihrer Mutter zu wohnen.
Die sehe ich nur um 1 Uhr mal, als sie den Kopf durch die Tür hereinstreckt und darauf hinweist, dass wir zu laut sind.
Der Fremde hört auf, auf seiner Gitarre Bullet for my Valentine, die gerade im Hintergrund laufen, in Originalgeschwindigkeit nachzuspielen, und dreht etwas leiser.
"Die sind so hohl, unsere Nachbarn. Die beschweren sich wirklich über alles bei uns, sogar, wenn die Musik gar nicht von mir kommt."
-"Ich kapier immer noch nicht, wieso du aus deiner Wohnung raus und hierher bist, is doch sau eng und jetzt musste immer aufm Sofa pennen."
Diagnostiziere der Ghettoschwester nicht nur aufgrund dieser Aussage mangelnde Empathie und eventuell auch mangelnden Verstand. Aber vielleicht ist mein Humor auch einfach seltsam..

..der Fremde scheint ihn jedenfalls zu verstehen, meistens. Mit steigendem Alkoholkonsum seinerseits muss ich die Ironie deutlicher betonen, aber ich bringe ihn zum lachen, immerhin.
Ich bringe auch die Ghettoschwester zum Lachen, man muss sich mit seinen Feinden verbünden, und je betrunkener sie wird, desto lustiger findet sie das, was ich sage, und irgendwann erzählt sie uns, dass sie frisch verliebt ist. Ms Golightly flüstert sie den Namen zu, Kicheralarm, der Fremde grummelt ein "Der verarscht dich sowieso nur wieder", meine Unsicherheit lacht bösartig und zischt, vielleicht hat es sich ja doch nicht gelegt. Vielleicht will er sie ja immernoch.
Und zählt alle potenziellen Indizien auf, den Wangenkuss, die Aussage, sie wohne sowieso schon fast bei ihm und dürfe sich sogar selbstständig am Kühlschrank bedienen.
Paranoia, alles Paranoia...
Die Stimme der Vernunft/Verzweiflung wirkt so schwach im Vergleich.

Wo ist er hin, dieser Zucker
der die Straßen verklebt?
Jeder von uns so verwundbar,
immer wieder belebt


Und auch Wein kann es nicht wegspülen, das Herzzusammenquetschende, Luftabschnürende.
Da,Erinnerung. Die Sache mit der alten Sache. DVD-Abende, Messengergespräche, Gemeinsamkeiten, Verständnis.
Die Freundin.
Er ist nicht die alte Sache. Alles wird gut, er ist nicht die alte Sache.
Ich sehe es, aber ich glaube es nicht.
Und habe Angst, dass es daran scheitert.
Wie war das, wenn man verliebt ist, hat man Schmetterlinge im Bauch?
Wohl eher Handgranaten im Herzen.


Er kann sich so sehr ins Gitarrespielen vertiefen.
Die Ghettoschwester schüttet Wein über seinen Boden und er spielt weiter, sucht sich erst etwas zum Aufwischen, als das Lied fertig ist. Später kippt sie auch noch meinen Wein über die Zusatzmatratze, auf der sie sich schließlich breit macht und einschläft.
Das ist die, die besser ist als ich?
Immerhin, sie kann Rülpsen. Lautstark.
Und betrunken werden. Schnell.
Aufwecken hat keinen Zweck, sie schläft einfach weiter, und irgendwann sitze ich doch halbwegs neben dem Fremden, mit genügend Sicherheitsabstand, er auf seinem Sessel, ich auf dem Boden, angelehnt ans Schlafsofa hinter mir. Und wir reden, bruchstückhaft, ansatzweise.
Als wir vorhin alleine waren, hat er nur auf seine Gitarre geschaut und ist irgendwann raus, Tücher für die Weinpfütze holen.

3 Uhr morgens, Türklingeln, schreiende Nachbarn, die auf den Fremden schimpfen, grinsender Raucher und Pinguin in der Tür.
Der Pinguin verabschiedet sich mit dem nicht ganz ernst gemeinten Hinweis, bei akutem Kuschelbedürfnis könne der Raucher gerne vorbeikommen, ins Nebenzimmer, während sich der Angesprochene auf dem Schreibtischstuhl des Fremden niederlässt und ihn in eine Diskussion über ihr neuestes gemeinsames Musikprojekt verwickelt.
Dann der Hinweis, wann sie spielen, der Fremde hatte es schon erwähnt und auch,dass er sich über meine Anwesenheit freuen würde. Jetzt nochmal an uns alle, wir sollten auf jeden Fall hingehen.
Themensprung, Festival, der Raucher ist eher Wacken- und Summerbreeze-Typ und weil es immer gut ist, neue Menschen kennen zu lernen, schalte ich mental ins Wackenprogramm um und kann mich im Gespräch nicht nur gut, sondern auch augenscheinlich mühelos halbwegs integrieren, irgendwann sitze ich neben dem Raucher auf der Sessellehne, während der Fremde andere Musik raussucht, und unterhalte mich mit ihm über einen Auftritt von Arch Enemy, den er gesehen hat.
Gut vorbereitet durch frühere Besuche bei der alten Sache umschiffe ich auch hier potenzielle Klippen und Eisberge, und nachdem er einen meiner selbst gebackenen Kekse probiert hat, erklärt mich der Raucher offiziell zu seiner Traumfrau.
Ich grinse ihn möglichst entspannt an und weise ihn darauf hin,dass er sich geschätzt irgendwo im Zweipromillebereich befindet.
Er grinst zurück. "Kann sein, aber du bist trotzdem voll die Traumfrau. Ich weiß zwar nicht, ob ich mit dadran morgen noch erinner, aber wenn nicht, mach du das bitte."
"Die Kekse sind echt nicht von dieser Welt, du musst die verkaufen, dann wirst du reich."
Fremder, du hast den Anschluss ans Gespräch verpasst.
Alkohol verlängert die Reaktionszeit.

Trotzdem kann er auch diesmal noch reden, und auch das angetrunkene, nach Wein stinkende Selbstbewusstsein hält sich in Grenzen und irgendwann fühle ich mich nicht mehr so deplatziert, denn die Ghettoschwester schläft, die niveaulose Möchtegernpartymusik, die zwischendurch lief, wurde wieder von (wie könnte es bei ihm anders sein) System of a Down verdrängt, von denen er mir 2 Alben auf den mp3-Player übertragen hat und die Atmosphäre schlägt wieder in einen Bereich um, in dem ich mich sicher fühle.

Als der Raucher geht, sitzen wir noch eine Weile zu dritt da, die Gespräche könnten ins Tiefgründige gehen, wie das morgens um 4.30 Uhr, wenn der Wein langsam wieder abgebaut und von Keksen aufgesogen ist, eben so passiert, aber das Schnarchen der Ghettoschwester und die Tatsache, dass Ms Golightly und der Fremde fast einschlafen, behindern diese Entwicklung ein wenig.
Er sieht verloren aus.
So verloren in seiner Sofaecke, und sein Blick ist nicht glasig, sondern traurig.
Ich traue mich nicht, zu sagen, dass ich da bin, wenn etwas ist, also sitzen wir da und schweigen, irgendwann wuchtet Ms Golightly seine und meine Beine auf ihren Schoß, weil sie findet, dass wir nicht so in Kauerstellung halb im Sofa, bzw Sessel verschwinden sollten, und eine sms vom Studenten sorgt dafür,dass ich mein Handy, das irgendwo im Raum verloren gegangen war, unter einem Shirt des Fremden, das mit seiner Bettdecke auf meinem Sitzmöbel liegt, wieder finde.

Erinnerst du dich als wir träumten?
Wir haben so viel versucht
um nicht unter zu gehen
Ja, wann kommt diese Flut?
Die sie einreißt die Mauern,
die sie killt diese Grenzen


Weiter Schweigen, dann bittet er uns, zu gehen. Bei ihm schlafen ist keine Option mehr, zu viele Leute in einem zu kleinen Raum, also machen wir uns auf den Heimweg. Bevor wir die Tür schließen, absolvieren wir die obligatorischen Abschiedsumarmungen, und er wirkt so traurig und verloren und verzweifelt , und ich bin so traurig und verloren und außerdem noch so schrecklich schmerzhaft verliebt, dass ich ihn am Liebsten festgehalten hätte.
So bleibt es bei einer Sekundenumarmung und seiner im Lichtschein der Mietshauseingangslampe schrittweise kleiner werdenden Gestalt, bis zum nächsten Tag, an dem er die Ghettoschwester und mich heimfährt.

Von allem zu viel
denn es ist nie genug
Es fühlt sich falsch an
doch irgendwie auch gut
Es ist noch nichts verloren
außer der Verstand
Wir nehmen unseren Karren
und fahren ihn an die Wand..








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