Thema: monolog
Gestern Nacht.
Mein Vater steht so vor meiner Haustür, klein und alt und so emotionsbetäubt, wie wir es immer sind, wenn wir in Extremsituationen feststecken und kein Ende in Sicht ist, und sagt mir, gestern Nacht ist es passiert. Organversagen, absehbar, man wusste ja, dass es so kommen würde, er habe mir nur Bescheid sagen wollen.
Ich nehme ihn in die Arme, impulshaft, verabschiede ihn und lege mich wieder in mein Bett.
Sieben Uhr dreißig, sagt der Wecker. Vor vier Stunden bin ich eingeschlafen, vor sechs Stunden und fünfzig Minuten ist Opa Mayhem gestorben.
Ich warte immer noch, dass da irgendwas ist. Trauer, Schmerz, sowas.
Was man eben empfindet, wenn jemand stirbt.
Nichts. Stattdessen dumpfe Angst, diffus, aber da.
Der Tod rotiert in meinem Kopf, ich habe Angst davor, Menschen zu verlieren, die mir noch nicht mal so viel bedeuten, Angst davor, nicht alt zu werden, und Angst davor, dass genau das eintritt. Dahinsiechen, das letzte, was man wahrnimmt, der Pflegeheimkrankenhaustodgestank.
Das letzte, was meine Mutter bemerkt hat, waren wohl weiße Badwandfliesen, oder dunkelbraune Holzbaddecke, und Blutgeschmack im Mund.
Vermutlich schmeckt man ziemlich viel Blut, wenn man vom Alkohol krampfadermäßige Dinger in der Luft-/Speiseröhre hat und die dann explodieren.
Wahrscheinlich hat das Schicksal keinen netten, schmerzlosen, angenehmen Tod für mich vorgesehen,sondern irgendwas hochdramatisches, fieses, je nach Tagesform vielleicht auch schmerzhaftes.
Die Angst, zu verlieren bleibt trotzdem stärker als die, verloren zu gehen.
Gegen Mittag sitze ich mit meinem Vater und seiner Freundin an ihrem neuen Küchentisch, esse anstandshalber ein Brötchen und lasse mir von ihr erzählen, was sie schon alles organisiert haben, wie rücksichtslos und kalt der Pfarrer doch sei, und dass ich gefälligst in beiden Rosenkränzen und bei der Beerdigung aufzutauchen habe.
Mein Vater verlegt sich auf ein "es wäre schön", was die Rosenkränze betrifft, und schafft damit viel mehr Druck, als es alle Befehle und Drohungen dieser Welt könnten.
Ich sichere zu, zur Beerdigung zu kommen und mir den Leichenschmaus anzutun, verspreche, die Verwandschaft nach Möglichkeit nicht zu sehr zu erschrecken und bekomme im Gegenzug die Erlaubnis, gegebenenfalls früher heimzugehen (was im Endeffekt auch nur 10 Minuten ausmachen wird, denn "der Anstand gebietet es" schließlich, nicht so früh wieder zu gehen) sowie (aus Rücksicht auf die anderen Anwesenden allerdings nur knöchelhohe) Kampfstiefel auf den Friedhof anzuziehen, damit ich trockene Füße behalte und auf den unbefestigten Wegen nicht komplett im aufgeweichten Erdmatsch versinke, wie es sonst immer der Fall war.
Meine Mutter war die einzige, die sich einen Termin zum Sterben ausgesucht hat, der eine Beerdigung ohne mindestens ein aufgeschürftes Knie (ausrutschen auf spiegelglatten Abhängen) oder ein eingeschlammtes Kind (wie bereits erwähnt, unbefestigte Wege, rutschig, gegebenenfalls glatt) möglich machte.
Als sie geht, bittet mich die Vatersfreundin nochmals, zu den Rosenkränzen mitzukommen, ich sage nochmals, dass ich es ihr nicht versprechen will, erkläre es wieder meinem Vater, der eigentlich erwartet, dass ich hingehe, aber weiß, dass ich mich nicht zwingen lasse (eigentlich) und darüber maßlos enttäuscht ist, und irgendwann kriegen wir die Kurve, reden über geklaute Straßenschilder und darüber, dass mein Vater mal eines bei den Obstbäumen gefunden und mitgenommen hat, und dass ich es haben kann, wenn ich will, und dass er jetzt weiter die Küche renovieren muss.
Ich könne ja abends nochmal vorbeikommen, meint er.
Die einzige noch lebende Person, die sicher blutsverwandt mit mir ist und sich zur engeren Verwandschaft zählen lässt, ist mein Patenonkel.
Wenn mein Vater doch mein Vater ist, sind es immerhin 2.
Als ich die Haustür aufschließe, habe ich der Egoschleuder für Mittwochabend abgesagt, einerseits prophylaktisch, falls ich in den Rosenkranz gehe und somit die Möglichkeit, mit seiner Schwester zu fahren, verpasse, andererseits, weil er gestern weinend die gesammelte Scheiße, die er so im Leben gebaut hat, vor mir ausgebreitet und außerdem die Vermutung geäußert hat, zu glauben, eventuell in mich verliebt zu sein, obwohl wir beide genau wissen, dass es sich nur um Ersatzanziehung handelt, weil er immer noch an der Nixe hängt und ich im Moment die einzige Person bin, die für ihn da ist, und außerdem die Nachbarin abgeschmettert, die am Freitag mit mir irgendwas unternehmen wollte.
Dann ruft Ms Golightly an und verkündet, nicht ohne Stolz, dass sie a) demnächst beim Raucher vorbeistiefeln, ihm gehörig die Meinung sagen und bei der Gelegenheit meinen Leitpfosten holen würde, den Mist, den er rumerzählt, könne man so schließlich nicht stehen lassen, und b) ihren Freund davon überzeugt hat, sich mal bei Mr.Gaunt zu melden und zu fragen, ob er am Wochenende schon was vor hat.
Donnerstag sieht sie den Mützenträger wieder und es wird angerufen, Freitag ist das angepeilte Datum.
"Da wird mein Großvater beerdigt, ich weiß nicht, ob.."
-"Oh, das tut mir Leid. Naja, aber bis abends wirst du da fertig sein. Drück uns die Daumen, dass wir ihn überzeugen können, mit zu gehen, obwohl er meinen Hasen nur unwesentlich besser "kennt" als dich. Bis dann!"
Ich hasse es, wenn Menschen ihren Partner "Hase" nennen.
Mein Vater steht so vor meiner Haustür, klein und alt und so emotionsbetäubt, wie wir es immer sind, wenn wir in Extremsituationen feststecken und kein Ende in Sicht ist, und sagt mir, gestern Nacht ist es passiert. Organversagen, absehbar, man wusste ja, dass es so kommen würde, er habe mir nur Bescheid sagen wollen.
Ich nehme ihn in die Arme, impulshaft, verabschiede ihn und lege mich wieder in mein Bett.
Sieben Uhr dreißig, sagt der Wecker. Vor vier Stunden bin ich eingeschlafen, vor sechs Stunden und fünfzig Minuten ist Opa Mayhem gestorben.
Ich warte immer noch, dass da irgendwas ist. Trauer, Schmerz, sowas.
Was man eben empfindet, wenn jemand stirbt.
Nichts. Stattdessen dumpfe Angst, diffus, aber da.
Der Tod rotiert in meinem Kopf, ich habe Angst davor, Menschen zu verlieren, die mir noch nicht mal so viel bedeuten, Angst davor, nicht alt zu werden, und Angst davor, dass genau das eintritt. Dahinsiechen, das letzte, was man wahrnimmt, der Pflegeheimkrankenhaustodgestank.
Das letzte, was meine Mutter bemerkt hat, waren wohl weiße Badwandfliesen, oder dunkelbraune Holzbaddecke, und Blutgeschmack im Mund.
Vermutlich schmeckt man ziemlich viel Blut, wenn man vom Alkohol krampfadermäßige Dinger in der Luft-/Speiseröhre hat und die dann explodieren.
Wahrscheinlich hat das Schicksal keinen netten, schmerzlosen, angenehmen Tod für mich vorgesehen,sondern irgendwas hochdramatisches, fieses, je nach Tagesform vielleicht auch schmerzhaftes.
Die Angst, zu verlieren bleibt trotzdem stärker als die, verloren zu gehen.
Gegen Mittag sitze ich mit meinem Vater und seiner Freundin an ihrem neuen Küchentisch, esse anstandshalber ein Brötchen und lasse mir von ihr erzählen, was sie schon alles organisiert haben, wie rücksichtslos und kalt der Pfarrer doch sei, und dass ich gefälligst in beiden Rosenkränzen und bei der Beerdigung aufzutauchen habe.
Mein Vater verlegt sich auf ein "es wäre schön", was die Rosenkränze betrifft, und schafft damit viel mehr Druck, als es alle Befehle und Drohungen dieser Welt könnten.
Ich sichere zu, zur Beerdigung zu kommen und mir den Leichenschmaus anzutun, verspreche, die Verwandschaft nach Möglichkeit nicht zu sehr zu erschrecken und bekomme im Gegenzug die Erlaubnis, gegebenenfalls früher heimzugehen (was im Endeffekt auch nur 10 Minuten ausmachen wird, denn "der Anstand gebietet es" schließlich, nicht so früh wieder zu gehen) sowie (aus Rücksicht auf die anderen Anwesenden allerdings nur knöchelhohe) Kampfstiefel auf den Friedhof anzuziehen, damit ich trockene Füße behalte und auf den unbefestigten Wegen nicht komplett im aufgeweichten Erdmatsch versinke, wie es sonst immer der Fall war.
Meine Mutter war die einzige, die sich einen Termin zum Sterben ausgesucht hat, der eine Beerdigung ohne mindestens ein aufgeschürftes Knie (ausrutschen auf spiegelglatten Abhängen) oder ein eingeschlammtes Kind (wie bereits erwähnt, unbefestigte Wege, rutschig, gegebenenfalls glatt) möglich machte.
Als sie geht, bittet mich die Vatersfreundin nochmals, zu den Rosenkränzen mitzukommen, ich sage nochmals, dass ich es ihr nicht versprechen will, erkläre es wieder meinem Vater, der eigentlich erwartet, dass ich hingehe, aber weiß, dass ich mich nicht zwingen lasse (eigentlich) und darüber maßlos enttäuscht ist, und irgendwann kriegen wir die Kurve, reden über geklaute Straßenschilder und darüber, dass mein Vater mal eines bei den Obstbäumen gefunden und mitgenommen hat, und dass ich es haben kann, wenn ich will, und dass er jetzt weiter die Küche renovieren muss.
Ich könne ja abends nochmal vorbeikommen, meint er.
Die einzige noch lebende Person, die sicher blutsverwandt mit mir ist und sich zur engeren Verwandschaft zählen lässt, ist mein Patenonkel.
Wenn mein Vater doch mein Vater ist, sind es immerhin 2.
Als ich die Haustür aufschließe, habe ich der Egoschleuder für Mittwochabend abgesagt, einerseits prophylaktisch, falls ich in den Rosenkranz gehe und somit die Möglichkeit, mit seiner Schwester zu fahren, verpasse, andererseits, weil er gestern weinend die gesammelte Scheiße, die er so im Leben gebaut hat, vor mir ausgebreitet und außerdem die Vermutung geäußert hat, zu glauben, eventuell in mich verliebt zu sein, obwohl wir beide genau wissen, dass es sich nur um Ersatzanziehung handelt, weil er immer noch an der Nixe hängt und ich im Moment die einzige Person bin, die für ihn da ist, und außerdem die Nachbarin abgeschmettert, die am Freitag mit mir irgendwas unternehmen wollte.
Dann ruft Ms Golightly an und verkündet, nicht ohne Stolz, dass sie a) demnächst beim Raucher vorbeistiefeln, ihm gehörig die Meinung sagen und bei der Gelegenheit meinen Leitpfosten holen würde, den Mist, den er rumerzählt, könne man so schließlich nicht stehen lassen, und b) ihren Freund davon überzeugt hat, sich mal bei Mr.Gaunt zu melden und zu fragen, ob er am Wochenende schon was vor hat.
Donnerstag sieht sie den Mützenträger wieder und es wird angerufen, Freitag ist das angepeilte Datum.
"Da wird mein Großvater beerdigt, ich weiß nicht, ob.."
-"Oh, das tut mir Leid. Naja, aber bis abends wirst du da fertig sein. Drück uns die Daumen, dass wir ihn überzeugen können, mit zu gehen, obwohl er meinen Hasen nur unwesentlich besser "kennt" als dich. Bis dann!"
Ich hasse es, wenn Menschen ihren Partner "Hase" nennen.
Thema: monolog
27. Mai 13 | Autor: mayhem | 0 Kommentare | Kommentieren
Krankenhaus.
Als wir ins Krankenhaus reingehen, weiß ich, dass mein Großvater da nicht mehr bei Bewusstsein rauskommt.
Wir stehen dreieinhalb Ewigkeiten bei einer Aktenwälzerin, die nicht verstehen will, dass es zwar eine Vollmacht, aber keine Patientenverfügung gibt und Papa Mayhem deshalb nicht einfach beschließen kann, dass die piependen und blinkenden und gluckernden Geräte abgeschalten werden.
Nachdem sie uns unsere Standpauke gehalten hat von wegen, das hätten wir ja mal regeln können, kümmert sie sich um das, was sie eigentlich machen soll, nämlich die Nummer des Seelsorgers/Pfarrers raussuchen. Letzte Ölung.
Mein Großvater ist ein gläubiger Mensch und Papa Mayhem will, dass für den Notfall alles geplant ist.
Die Aktenwälzerin findet den gesuchten Flyer nicht, netterweise kommt aber das Mädchen, das eventuell meine Halbschwester ist, vorbei, findet das Gesuchte auf Anhieb und sieht mir mal wieder viel zu ähnlich. Wenigstens hat sie braune Augen und dunklere Haare (sind die gefärbt?).
Und ein Grinsen, das sogar mir Angst macht, weil es so aufgesetzt-künstlich und furchtbar kalt ist.
Aber vermutlich muss man sich das antrainieren, wenn man im Krankenhaus arbeitet.
Als wir uns Opa Mayhems Station nähern, vorbei an den Bereichen, die "es gibt noch Hoffnung" sagen, und an dem Getränkeautomat, an dem ich mir früher immer einen warmen Kakao mit extra Zucker geholt habe, wenn wieder irgendein inzwischen längst verstorbenes Familienmitglied hier war, ist da wieder der Krankenhausgeruch.
Wenn sie sagen "Ich hasse Krankenhausgeruch", verbinden das viele Leute mit Desinfektionsmittel.
Da, wo wir rumlaufen, ist es anders. Desinfektionsmittel riecht ein bisschen stechend, aber auf saubere Art und Weise, vielleicht auch ein bisschen nach Chlor.
Der Krankenhausgeruch, den ich meine, der eigentliche, ist fast der gleiche wie im Pflegeheim. Totgekochtes, breiiges Essen, menschliche Ausscheidungen, die nur durch Infusionsbeutel überhaupt zustande kommen konnten, seit Urzeiten nicht mehr gelüftete Zimmer, muffige Handtücher, sterbende Menschen, mit Glück noch ein Hauch Desinfektionsmittel.
Das ist für mich Krankenhausgeruch.
Und ich hasse ihn.
Opa Mayhems Zimmer ist nichtmal in einem Bereich, der sagt "das kriegen wir eventuell wieder hin", sondern ganz am Ende, da, wo sie die Leute zum Sterben hinbringen.
In seinem Zimmer liegt noch ein Araber, der ebenfalls nur ein Knochenhaufen ist, über den man ein bisschen Haut gespannt hat, und bei dem man nichtmal mehr Pupille, Netzhaut und Augapfel unterscheiden kann, so glasig und matschig sind seine Augen in seinem Gesicht, das sich verschoben hat und ganz krumm und schief ist, und mit dem er auf wundersame Art und Weise irgendwelche Laute zustande bringt, als ich den Raum betrete, die ich aber nicht verstehe.
Weil ich mich nicht traue, ihn zu fragen, was er gesagt hat, gehe ich ein Bett weiter.
Ein Mann, der nur mittelschwer verwirrt und nur ein bisschen tot wirkt, entweder haben sie sich vertan und ihn aus Versehen her gebracht, oder sie wollen, dass er bald stirbt. Als Patient hält man es hier nicht lange aus und wird irgendwann selbst so.
Manchmal auch als Pfleger oder Arzt.
Noch ein Bett weiter.
Kamera schwenkt auf Großvater, kurzzeitig Katastrophenzustand im Inneren der Enkelin, verzeifelte Versuche, irgendwie Kontakt zu seinem Vater aufzunehmen von Papa Mayhem.
Der Araber mit dem deformierten Gesicht versucht wieder, mit mir zu reden.
Ich bleibe auf meinem Stuhl sitzen, mit Sicherheitsabstand zu Allen, und schaue meinem Vater beim Verzweifeln und seinem Vater beim Sterben zu.
Weil er komplett dehydriert ist und irgendeine Entzündung hat, die laut Arzt wie eine Lungenentzündung aussieht, aber keine ist, rasselt er beim Atmen lauter als alles, was ich vorher aus menschlichen Atemwegen gehört habe, und seine Haut hat sich so weit zurückgezogen, dass er den Mund nicht mehr schließen kann, was das Rasseln und Gluckern nur noch verstärkt.
Seit er ins Pflegeheim gekommen ist, bin ich jedes Mal, wenn ich ihn gesehen habe, aufs Neue erschrocken, wie tot er im Vergleich zum letzten Mal aussieht.
Vermutlich hat es seinen Höhepunkt erreicht.
Papa Mayhem versucht weiter, mit ihm zu reden, streichelt sein Gesicht, hält seine Hand, wenn er im Schlaf hustet und Panik bekommt, und verlässt seinen Platz neben dem bett erst, als ein Krankenpfleger ihn darum bittet, weil der Mann, der viel zu lebendig ist, um hier zu sein, auf den Toilettenrollstuhl muss und das nicht machen will, wenn jemand da ist.
Also verabschieden wir uns, ich mich innerlich, Papa Mayhem mit Schulterdrücken, Hand halten, Worten und Zunicken, lassen uns auf dem Gang nochmal vom Arzt erzählen, dass mein Großvater ja eigentlich stabil sei, unpraktischerweise leider "stabil schlecht", aber immerhin, und auf dem Weg zum Auto kann ich mich die ganze Zeit nicht überwinden, meinen Vater zu umarmen, auch, wenn ich es gerne würde.
Damit er sich nicht so verloren fühlt. Einfach, damit jemand da ist.
Ich schaffe es nicht. Den Standardsatz sage ich, das, was man immer sagt, ich bin da, wenn du irgendwann reden möchtest, auch, wenn ich genau weiß, dass du das nicht mit mir tun wirst.
Damit hat es sich dann auch.
Und wir fahren wieder heim, und nach ein paar Tagen wird Opa Mayhem zurück ins Pflegeheim verlegt.
Zustand: Immer noch "stabil schlecht".
Als wir ins Krankenhaus reingehen, weiß ich, dass mein Großvater da nicht mehr bei Bewusstsein rauskommt.
Wir stehen dreieinhalb Ewigkeiten bei einer Aktenwälzerin, die nicht verstehen will, dass es zwar eine Vollmacht, aber keine Patientenverfügung gibt und Papa Mayhem deshalb nicht einfach beschließen kann, dass die piependen und blinkenden und gluckernden Geräte abgeschalten werden.
Nachdem sie uns unsere Standpauke gehalten hat von wegen, das hätten wir ja mal regeln können, kümmert sie sich um das, was sie eigentlich machen soll, nämlich die Nummer des Seelsorgers/Pfarrers raussuchen. Letzte Ölung.
Mein Großvater ist ein gläubiger Mensch und Papa Mayhem will, dass für den Notfall alles geplant ist.
Die Aktenwälzerin findet den gesuchten Flyer nicht, netterweise kommt aber das Mädchen, das eventuell meine Halbschwester ist, vorbei, findet das Gesuchte auf Anhieb und sieht mir mal wieder viel zu ähnlich. Wenigstens hat sie braune Augen und dunklere Haare (sind die gefärbt?).
Und ein Grinsen, das sogar mir Angst macht, weil es so aufgesetzt-künstlich und furchtbar kalt ist.
Aber vermutlich muss man sich das antrainieren, wenn man im Krankenhaus arbeitet.
Als wir uns Opa Mayhems Station nähern, vorbei an den Bereichen, die "es gibt noch Hoffnung" sagen, und an dem Getränkeautomat, an dem ich mir früher immer einen warmen Kakao mit extra Zucker geholt habe, wenn wieder irgendein inzwischen längst verstorbenes Familienmitglied hier war, ist da wieder der Krankenhausgeruch.
Wenn sie sagen "Ich hasse Krankenhausgeruch", verbinden das viele Leute mit Desinfektionsmittel.
Da, wo wir rumlaufen, ist es anders. Desinfektionsmittel riecht ein bisschen stechend, aber auf saubere Art und Weise, vielleicht auch ein bisschen nach Chlor.
Der Krankenhausgeruch, den ich meine, der eigentliche, ist fast der gleiche wie im Pflegeheim. Totgekochtes, breiiges Essen, menschliche Ausscheidungen, die nur durch Infusionsbeutel überhaupt zustande kommen konnten, seit Urzeiten nicht mehr gelüftete Zimmer, muffige Handtücher, sterbende Menschen, mit Glück noch ein Hauch Desinfektionsmittel.
Das ist für mich Krankenhausgeruch.
Und ich hasse ihn.
Opa Mayhems Zimmer ist nichtmal in einem Bereich, der sagt "das kriegen wir eventuell wieder hin", sondern ganz am Ende, da, wo sie die Leute zum Sterben hinbringen.
In seinem Zimmer liegt noch ein Araber, der ebenfalls nur ein Knochenhaufen ist, über den man ein bisschen Haut gespannt hat, und bei dem man nichtmal mehr Pupille, Netzhaut und Augapfel unterscheiden kann, so glasig und matschig sind seine Augen in seinem Gesicht, das sich verschoben hat und ganz krumm und schief ist, und mit dem er auf wundersame Art und Weise irgendwelche Laute zustande bringt, als ich den Raum betrete, die ich aber nicht verstehe.
Weil ich mich nicht traue, ihn zu fragen, was er gesagt hat, gehe ich ein Bett weiter.
Ein Mann, der nur mittelschwer verwirrt und nur ein bisschen tot wirkt, entweder haben sie sich vertan und ihn aus Versehen her gebracht, oder sie wollen, dass er bald stirbt. Als Patient hält man es hier nicht lange aus und wird irgendwann selbst so.
Manchmal auch als Pfleger oder Arzt.
Noch ein Bett weiter.
Kamera schwenkt auf Großvater, kurzzeitig Katastrophenzustand im Inneren der Enkelin, verzeifelte Versuche, irgendwie Kontakt zu seinem Vater aufzunehmen von Papa Mayhem.
Der Araber mit dem deformierten Gesicht versucht wieder, mit mir zu reden.
Ich bleibe auf meinem Stuhl sitzen, mit Sicherheitsabstand zu Allen, und schaue meinem Vater beim Verzweifeln und seinem Vater beim Sterben zu.
Weil er komplett dehydriert ist und irgendeine Entzündung hat, die laut Arzt wie eine Lungenentzündung aussieht, aber keine ist, rasselt er beim Atmen lauter als alles, was ich vorher aus menschlichen Atemwegen gehört habe, und seine Haut hat sich so weit zurückgezogen, dass er den Mund nicht mehr schließen kann, was das Rasseln und Gluckern nur noch verstärkt.
Seit er ins Pflegeheim gekommen ist, bin ich jedes Mal, wenn ich ihn gesehen habe, aufs Neue erschrocken, wie tot er im Vergleich zum letzten Mal aussieht.
Vermutlich hat es seinen Höhepunkt erreicht.
Papa Mayhem versucht weiter, mit ihm zu reden, streichelt sein Gesicht, hält seine Hand, wenn er im Schlaf hustet und Panik bekommt, und verlässt seinen Platz neben dem bett erst, als ein Krankenpfleger ihn darum bittet, weil der Mann, der viel zu lebendig ist, um hier zu sein, auf den Toilettenrollstuhl muss und das nicht machen will, wenn jemand da ist.
Also verabschieden wir uns, ich mich innerlich, Papa Mayhem mit Schulterdrücken, Hand halten, Worten und Zunicken, lassen uns auf dem Gang nochmal vom Arzt erzählen, dass mein Großvater ja eigentlich stabil sei, unpraktischerweise leider "stabil schlecht", aber immerhin, und auf dem Weg zum Auto kann ich mich die ganze Zeit nicht überwinden, meinen Vater zu umarmen, auch, wenn ich es gerne würde.
Damit er sich nicht so verloren fühlt. Einfach, damit jemand da ist.
Ich schaffe es nicht. Den Standardsatz sage ich, das, was man immer sagt, ich bin da, wenn du irgendwann reden möchtest, auch, wenn ich genau weiß, dass du das nicht mit mir tun wirst.
Damit hat es sich dann auch.
Und wir fahren wieder heim, und nach ein paar Tagen wird Opa Mayhem zurück ins Pflegeheim verlegt.
Zustand: Immer noch "stabil schlecht".
Thema: monolog
27. Mai 13 | Autor: mayhem | 0 Kommentare | Kommentieren
"Hast du am Freitag schon was vor?"
-"Da bin ich auf Beerdigung".
Geburtstag.
Gefühlswelt und reales Handeln können so erschreckend weit auseinander gehen.
Während ich nämlich gefühlt mein Herz gesprengt und mich in Stücke gerissen habe und so leise vor mich hin verblute, sitze ich mit der Vatersfreundin im Pflegeheim, während mein Vater auf Reha ist und nicht vorbeikommen konnte, und wir warten.
Man bringt uns ungefragt Kaffee, der so schmeckt, wie abgestandenes Abwasser riecht.
Wir warten.
Eine alte Frau schiebt sich und ihr Gehwägelchen immer wieder an uns vorbei, Gang rauf, Gang runter, und singt gefühlt alles, was das Kirchengesangbuch hergibt.
Wir warten.
Heute werde ich mit dem Raucher Schluss machen. Sollte ich das hier überleben, ohne endgültig den Verstand zu verlieren.
Wir warten.
Es bringt mich jetzt schon um. Aber was tut das im Moment nicht.
Wir warten.
Der vom Heim ohne Zustimmung irgendeiner zuständigen Person bestellte Akkordeonvergewaltiger kommt, stürzt sich auf die Vatersfreundin und würdigt mich keines Blickes.
"Ja, so ein Tag, das ist immer was ganz besonderes für die Alten, da blühen sie richtig auf und die ganze Familie hat mal wieder einen Lichtblick und kann den Tag genießen!"
Ich freue mich so sehr, ich könnte die Wände des Pflegeheims mit meinem Herzblut-Organ-Matsch streichen. Alle.
"Aber ich versteh das schon, wenn sie da zurückhaltend sind. Meine Mutter, ach, das ist ja auch so ein Fall.. sie werden halt verwirrt mit dem Alter."
Mein Großvater spricht nur noch, um aus seinem Bett heraus zu verkünden, dass er sterben will.Soviel dazu.
Aber sein System versteht er trotzdem noch.
Das System, hat Papa Mayhem erklärt, ist ein einfaches. Mein Großvater weiß, dass er etwas sagen muss, wenn sich jemand mit ihm unterhalten soll, aber er versteht nicht, was zu ihm gesagt wird, also spricht er einfach gar nicht.
Der Akkordeonvergewaltiger redet weiter, in einer Tour, und ich kann verstehen, wieso mein Großvater, seit er hier ist, nur noch davon redet, dass man ihn gefälligst endlich standesgemäß erschießen soll, schließlich sei er bis zum Schluss im Krieg gewesen, und bei den Russen, und danach bei den Franzosen.
Eine Pflegerin scheucht uns in den Speisesaal, in dem es, wie überall im ganzen Haus, nach abgepacktem, überkochtem Essen, altem Urin, alten Menschen und ein bisschen Desinfektionsmittel riecht, und nach Tod, wir werden an einem Tisch platziert, Opa Mayhem wird, mit Gehwägelchen, reingeschubst und verbringt seine Geburtstagsfeier damit, immer wieder den Kopf auf die Tischplatte sinken zu lassen, unaufhörlich mit den Zähnen zu mahlen und seinen Entschluss, sterben zu wollen, den niemand außer mir für mehr hält als ein verwirrtes Hirngespinst, zu festigen, je mehr "alte Klassiker" der Akkordeonvergewaltiger viel zu laut mit seinem Opfer durch den Raum schleudert. Als er zu uns kommt, versucht Opa Mayhem, zu schreien, aber seine Stimmbänder sind so schwach, dass nur die Vatersfreundin und ich sein wütend-verzeifeltes "Hör auf! Hör auf, geh weg!" hören. Es wiederholt sich noch zweimal, dann verzieht sich der Akkordeonvergewaltiger in eine andere Ecke und mein Großvater legt seinen Kopf wieder auf der Tischplatte ab.
Diverse Versuche der Vatersfreundin, ihn krampfhaft-gespielt-fröhlich aufzubauen, lässt er gekonnt an sich abprallen und so dämmern wir in unserem Weltschmerz vor uns hin, nur noch einmal unterbrochen, als er sich an einem Stückchen Kuchen, dass sie ihm aufzwingt, so sehr verschluckt, dass sein Gebiss herausfällt.
Aber hey, es ist doch ein "ganz besonderer Tag für die Alten. Da blühen sie immer richtig auf!"
Eine hummerrote Hand krallt sich in meine Schulter, als ich mich umdrehe, sehe ich einem anderen Tod ins Gesicht. Der hier wohnt in einer alten Frau, die sonst immer aus irgendwelchen Gründen beim Brötchenholen mit mir reden wollte. Ihr Tod scheint gerade ziemlich am Wüten zu sein, ihre Augen sind leicht gelblich und sehr glasig und verquollen, und ihr ganzes Gesicht ist so hummerrot wie ihre Hände, mit dunkelroten Flecken und an den Kopf geklebten, dünnen Haaren in dem gleichen Topfschnitt, den der "Friseur" hier wohl allen verpasst, obwohl Opa Mayhem aufs Heftigste protestiert hat, schließlich kämmt und pomadisiert er sich die Haare seit mindestens 73 Jahren auf die gleiche Art und Weise zurück, und das geht nunmal nicht mit Topfschnitt.
Die alte Frau redet auf mich ein, während ihr Tod mich auslacht, weil ich so erschrocken bin. Ich werde wieder die ganze Zeit mit dem Namen meiner Mutter angesprochen und sie scheint auch irgendwie mit einer Mischung aus uns beiden zu reden, bis sie von einer Pflegerin weiter geschoben und auf ihren Platz gesetzt wird, wo sie der Tischdeko erzählt, dass sie sich gerade so nett mit meiner Mutter unterhalten hat.
Opa Mayhem legt seinen Kopf auf die Tischplatte und mahlt mit den Zähnen.
88. Geburtstag. Steht auf der Kerze, mit Tippex über die vorherige Zahl geschmiert, den Aufwand einer eigenen Kerze für jeden Bewohner betreibt man nicht. Lohnt sich ja doch nicht.
-"Da bin ich auf Beerdigung".
Geburtstag.
Gefühlswelt und reales Handeln können so erschreckend weit auseinander gehen.
Während ich nämlich gefühlt mein Herz gesprengt und mich in Stücke gerissen habe und so leise vor mich hin verblute, sitze ich mit der Vatersfreundin im Pflegeheim, während mein Vater auf Reha ist und nicht vorbeikommen konnte, und wir warten.
Man bringt uns ungefragt Kaffee, der so schmeckt, wie abgestandenes Abwasser riecht.
Wir warten.
Eine alte Frau schiebt sich und ihr Gehwägelchen immer wieder an uns vorbei, Gang rauf, Gang runter, und singt gefühlt alles, was das Kirchengesangbuch hergibt.
Wir warten.
Heute werde ich mit dem Raucher Schluss machen. Sollte ich das hier überleben, ohne endgültig den Verstand zu verlieren.
Wir warten.
Es bringt mich jetzt schon um. Aber was tut das im Moment nicht.
Wir warten.
Der vom Heim ohne Zustimmung irgendeiner zuständigen Person bestellte Akkordeonvergewaltiger kommt, stürzt sich auf die Vatersfreundin und würdigt mich keines Blickes.
"Ja, so ein Tag, das ist immer was ganz besonderes für die Alten, da blühen sie richtig auf und die ganze Familie hat mal wieder einen Lichtblick und kann den Tag genießen!"
Ich freue mich so sehr, ich könnte die Wände des Pflegeheims mit meinem Herzblut-Organ-Matsch streichen. Alle.
"Aber ich versteh das schon, wenn sie da zurückhaltend sind. Meine Mutter, ach, das ist ja auch so ein Fall.. sie werden halt verwirrt mit dem Alter."
Mein Großvater spricht nur noch, um aus seinem Bett heraus zu verkünden, dass er sterben will.Soviel dazu.
Aber sein System versteht er trotzdem noch.
Das System, hat Papa Mayhem erklärt, ist ein einfaches. Mein Großvater weiß, dass er etwas sagen muss, wenn sich jemand mit ihm unterhalten soll, aber er versteht nicht, was zu ihm gesagt wird, also spricht er einfach gar nicht.
Der Akkordeonvergewaltiger redet weiter, in einer Tour, und ich kann verstehen, wieso mein Großvater, seit er hier ist, nur noch davon redet, dass man ihn gefälligst endlich standesgemäß erschießen soll, schließlich sei er bis zum Schluss im Krieg gewesen, und bei den Russen, und danach bei den Franzosen.
Eine Pflegerin scheucht uns in den Speisesaal, in dem es, wie überall im ganzen Haus, nach abgepacktem, überkochtem Essen, altem Urin, alten Menschen und ein bisschen Desinfektionsmittel riecht, und nach Tod, wir werden an einem Tisch platziert, Opa Mayhem wird, mit Gehwägelchen, reingeschubst und verbringt seine Geburtstagsfeier damit, immer wieder den Kopf auf die Tischplatte sinken zu lassen, unaufhörlich mit den Zähnen zu mahlen und seinen Entschluss, sterben zu wollen, den niemand außer mir für mehr hält als ein verwirrtes Hirngespinst, zu festigen, je mehr "alte Klassiker" der Akkordeonvergewaltiger viel zu laut mit seinem Opfer durch den Raum schleudert. Als er zu uns kommt, versucht Opa Mayhem, zu schreien, aber seine Stimmbänder sind so schwach, dass nur die Vatersfreundin und ich sein wütend-verzeifeltes "Hör auf! Hör auf, geh weg!" hören. Es wiederholt sich noch zweimal, dann verzieht sich der Akkordeonvergewaltiger in eine andere Ecke und mein Großvater legt seinen Kopf wieder auf der Tischplatte ab.
Diverse Versuche der Vatersfreundin, ihn krampfhaft-gespielt-fröhlich aufzubauen, lässt er gekonnt an sich abprallen und so dämmern wir in unserem Weltschmerz vor uns hin, nur noch einmal unterbrochen, als er sich an einem Stückchen Kuchen, dass sie ihm aufzwingt, so sehr verschluckt, dass sein Gebiss herausfällt.
Aber hey, es ist doch ein "ganz besonderer Tag für die Alten. Da blühen sie immer richtig auf!"
Eine hummerrote Hand krallt sich in meine Schulter, als ich mich umdrehe, sehe ich einem anderen Tod ins Gesicht. Der hier wohnt in einer alten Frau, die sonst immer aus irgendwelchen Gründen beim Brötchenholen mit mir reden wollte. Ihr Tod scheint gerade ziemlich am Wüten zu sein, ihre Augen sind leicht gelblich und sehr glasig und verquollen, und ihr ganzes Gesicht ist so hummerrot wie ihre Hände, mit dunkelroten Flecken und an den Kopf geklebten, dünnen Haaren in dem gleichen Topfschnitt, den der "Friseur" hier wohl allen verpasst, obwohl Opa Mayhem aufs Heftigste protestiert hat, schließlich kämmt und pomadisiert er sich die Haare seit mindestens 73 Jahren auf die gleiche Art und Weise zurück, und das geht nunmal nicht mit Topfschnitt.
Die alte Frau redet auf mich ein, während ihr Tod mich auslacht, weil ich so erschrocken bin. Ich werde wieder die ganze Zeit mit dem Namen meiner Mutter angesprochen und sie scheint auch irgendwie mit einer Mischung aus uns beiden zu reden, bis sie von einer Pflegerin weiter geschoben und auf ihren Platz gesetzt wird, wo sie der Tischdeko erzählt, dass sie sich gerade so nett mit meiner Mutter unterhalten hat.
Opa Mayhem legt seinen Kopf auf die Tischplatte und mahlt mit den Zähnen.
88. Geburtstag. Steht auf der Kerze, mit Tippex über die vorherige Zahl geschmiert, den Aufwand einer eigenen Kerze für jeden Bewohner betreibt man nicht. Lohnt sich ja doch nicht.